Dienstag, 22. Oktober 2019

Der dritte Tag auf der Frankfurter Buchmesse

[WERBUNG - unbezahlt, ohne Kenntnis der Beworbenen]

Der dritte Tag, Samstag, war für uns gleichzeitig der
Messe Frankfurt/M., Torhaus
letzte Messetag. Zum ersten Mal begann der Buchverkauf bereits heute und nicht erst am Sonntag.


An gefühlt jeder Ecke signierten Autoren ihre Bücher. Die Schlange der Menschen, die dafür anstanden, dass zum Beispiel Sebastian Fitzek seinen Namen in ihr Buch schreibt, war lang und länger. Auch andere Namen verfehlten nicht ihre Wirkung: Peter Wohlleben, Gaby Hauptmann, Ulrich Tukur oder der frisch gekürte Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Sebastião Salgado zeigten jedem, den es interessierte, dass sie in der Lage sind, mit einem Kugelschreiber umzugehen. Sie und im Laufe des Vormittags 36 weitere bekannte und weniger bekannte Autorinnen und Autoren haben in der Halle, in der auch die größten Publikumsverlage ihre Stände hatten, Besucher angezogen. Nachmittags dürfte die Zahl der Signierstunden ähnlich hoch gewesen sein.

Die Folge: Insbesondere diese Halle platzte aus allen Nähten. Zeitweise ging nichts mehr, und die Menschen kamen nur zentimeterweise voran. Oft war es nicht mehr möglich, zu den einzelnen Ständen zu kommen. Nach meinem Geschmack war das zu viel Kontakt.
Sobald wir konnten, haben wir diese Halle verlassen und uns die Stände der unabhängigen Verlage angesehen, die eine Etage höher ihre Programme vorstellten. Dort war es deutlich leerer. Ein Verleger kommentierte die drängende Enge im Erdgeschoss auf eine sehr spezielle Weise: Wenn es unten so voll sei, würden mehr Besucher zu ihnen nach oben gespült. Ich hoffe sehr, dass das nicht seine Wahrnehmung war: Dass die Leute sich gewissermaßen nach oben "verirren", um mal wieder durchzuatmen. 

Ich habe mich da umgesehen und kann sagen: Das haben die Aussteller dort nicht verdient. Die Etage bot eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher Titel. Unabhängige Verlage sind häufig experimentierfreudiger und nehmen Bücher in ihr Programm auf, die die Publikumsverlage nicht mit der Zange anfassen würden. In diesen Verlagen steckt reichlich Herzblut; manche haben sich in einer Nische etabliert, andere sind weniger festgelegt.

Da gibt es beispielsweise Verlage, die sich auf Theater- oder Filmliteratur (Alexander Verlag), maghrebinische Titel (Donata Kinzelbach Verlag) oder internationale Krimis (Polar Verlag) spezialisiert haben. Irgendwo wird hier jeder fündig.

Und dann habe ich Bücher gesehen, bei denen ich mich gefragt habe, wie viele Käufer sich für sie finden werden. Eine Auswahl:

Die Geschichte der Zigarettenindustrie 1862 - 1945 heißt dieses Buch. Bei diesem Thema kann ich mir noch vorstellen, dass sich Interessenten finden.











Bei Kanaldeckel aus aller Welt fällt es mir schon schwerer zu glauben, dass sich hierfür viele Leser begeistern können. Aber es scheint ja einen Kreis von Menschen zu geben, für die Kanaldeckel das sind, was für andere Briefmarken oder Bücher sein können. Aber: Gibt es Leute, die Kanaldeckel sammeln?





Beim Anblick dieses Buches hatte ich auf den ersten Blick keine Vorstellung davon, was sich zwischen den Einbanddeckeln verbergen könnte. Bei dem Wort  Maubeschau hatte ich keinerlei Assoziationen. Der Untertitel ist auf diesem Foto schlecht zu erkennen, darum liefere ich hier den Link zum Buch:  https://maubeschau.de/
Wäret ihr von allein darauf gekommen?


Ich habe zum Schluss noch Gespräche mit Verlagen geführt, mit einem von ihnen zum ersten Mal. Das war sehr interessant, und ich freue mich schon darauf, sie bei einer der nächsten Messen wieder zu besuchen.

Das ist der letzte Beitrag über die Frankfurter Buchmesse 2019. Im Laufe der Woche wird es noch auf dem "Gruselblog" einen weiteren Text zum Thema 'Mobilität auf der Buchmesse' geben, was die An- und Abreise einschließt.

Sonntag, 20. Oktober 2019

Frankfurter Buchmesse - der zweite Tag.

Alles lief nach Plan. Ich hatte mir nach der Erfahrung, dass die Termine, die ich an unserem ersten Tag eingeplant hatte, sich in Rauch aufgelöst und anderen Veranstaltungen Platz gemacht haben, vorgenommen, mein Zeitmanagement zu verbessern.

Die Buchmesse-App bietet die Möglichkeit, die Termine aus dem Messekalender direkt in den eigenen auf dem Smartphone zu übertragen. Na, wenn es damit nicht klappen sollte, womit dann?

Nicht ich habe vor der Technik, sondern die Technik hat vor mir kapituliert! Das soll jetzt nicht bedeuten, dass mein überbordender Verstand den Algorithmen in meinem Kalender ein Schnippchen geschlagen hat. Es war eher so, dass sich mein Kalender kurz vor Veranstaltungsbeginn bei mir gemeldet hat, ich aber beide Male so weit von der jeweiligen Halle entfernt war, dass ein halbwegs pünktliches Ankommen völlig ausgeschlossen war. Na gut, wieder zwei Termine vergeigt, bei denen ich "unbedingt" dabei sein wollte. Positives Denken ist angesagt: Ich lasse mich schließlich nicht von irgendwelchen Terminen tyrannisieren! Die Abwesenheit von Terminen ist die Freiheit, den Tag neu gestalten zu können. So ist das! Fehlplanungen schön reden kann ich.

Hallo Norge! 

 

Da ich mich in den letzten Wochen mit Büchern von norwegischen Autoren beschäftigt hatte, musste dem Land auf der Messe selbstverständlich ein Besuch abgestattet werden. Die Fläche des Ehrengast-Pavillons im Forum bot Norwegen reichlich Platz, sich seinem Lesepublikum vorzustellen.

Ob Krimi, Roman, Sach- oder Kinderbuch: Die Auswahl war groß und es gab etliche Autorinnen und Autoren zu entdecken, die in Deutschland (noch) nahezu unbekannt sind.
Aber es waren auch "alte Bekannte" dort: Bjarte
Brulands Holocaust in Norwegen lag neben dem thematisch ähnlichen Buch Judenhass von Trond Berg Eriksen u. a., auch Rebellische Frauen - Women in Battle und Die Glocke im See habe ich dort gesehen.

Im Raum befanden sich außer den Büchertischen und der Bühne auch 23 tischähnliche Objekte. Die Pressemappe beschreibt sie als "skulptural-abstrakt und zugleich narrativ-verspielt". Weiter heißt es dort: "Ihr Design ist inspiriert von norwegischen Gedichten und greift Ausstattungsdetails berühmter Bibliotheken auf von Louis Kahns Leseplätzen in Exeter bis zu Gunnar Asplunds Trinkwasserbrunnen in Stockholm." Ich bin froh, dass das so deutlich gesagt wurde. Mir hätte sich der Sinn dieser Objekte sonst nicht erschlossen. Wer mich ein bisschen kennt, weiß von meiner Grundskepsis gegenüber abstrakter Kunst. Der Ausspruch "Kunst kommt von Können" hätte von mir kreiert worden sein können. Meine Begeisterung für diese Kunstobjekte hielt sich in übersichtlichen Grenzen.

Da die Ausstellungsfläche nicht den kompletten Raum ausgefüllt hat, wurde sie seitlich von meterlangen Spiegelwänden abgegrenzt. Spiegel lassen einen Raum zwar größer wirken, es ist jedoch kein Problem, gegen sie zu laufen. Ich hatte vorab davon gelesen, dass das anderen Besuchern passiert ist, sodass ich vorgewarnt war. Aber irritierend ist es schon. Manche Besucher sahen das von der praktischen Seite und nutzten die Spiegel, um sich etwas herzurichten: Eine Dame zückte ihre Haarbürste und brachte zwischen den Büchern ihre Frisur auf Vordermann.

Sehr schön wirkten die raumhoch angebrachten Fotos von Birken: sehr dekorativ und gut zum Land passend.

Die Frau mit der Haarbürste

Sie waren eine passende Brücke zu den Büchern: Egal, um welches Genre es ging, in den meisten Titeln spielte die Natur eine Rolle. Mal stand sie im Vordergrund, mal war sie dezent in die Handlung eingebaut. Aber ohne Wälder oder Seen kam kaum ein Buch aus.

Etwas sprachlos habe ich dann gesehen, warum sich an einem der Tische eine Menschentraube gebildet hatte. Nicht etwa, weil dort die spannendsten Bücher gezeigt wurden, sondern deswegen:


Falls es nicht gut genug zu erkennen sein sollte: Da standen Besucher vor einem Tisch mit Vorlagenblättern und stempelten Motive auf die noch freien Flächen. Das taten sie mit der "gebotenen" Ernsthaftigkeit, die dafür nötig ist. Den lästerlichen Kommentar, der gerade in meiner Kehle aufsteigt und nach draußen drängt, schlucke ich jetzt runter.

Auch an diesem Tag haben wir uns mit der Bloggerin Mirella getroffen. Leider war die Zeit für ein wirklich langes Gespräch zu kurz, aber das wird auf jedne Fall nachgeholt.


Außerdem: Bücher, die heute auf der "Haben-wollen-Liste" gelandet sind

 

Hier reicht es, die von mir hochprofessionell mit einer Profi-Kamera (Smartphone) aufgenommenen Cover-Fotos zu zeigen. Sie weisen darauf hin, worum es geht:






Last but not least: Kampagne gegen Plastik in den Meeren

 

Auf der Agora, der Freifläche zwischen den Hallen, hatte der WWF einen Stand aufgebaut. Zu Demonstrationszwecken war ein kleiner Parcours mit der Nachbildung eines durch (Plastik-)Müll verschmutzten Meeres zu sehen. "Das ist kein Problem mit ihrem Scooter", hatte einer der beiden jungen Männer gesagt, die den Stand betreuten. War es dann doch. Der alte Autoreifen, der die Kurve vor dem Ausgang blockierte, musste weggeräumt und der Scooter mit mir ein Stückchen angehoben werden. Danke an die beiden für das nette und informative Gespräch über Müll und dessen Vermeidung.

Freitag, 18. Oktober 2019

# 216 - Der fremde Vater

Gewissheiten, die sich Stück für Stück auflösen,
und Menschen, die unverhofft in das eigene Leben treten: Davon handelt der neueste Roman Kieloben von Karin Nohr.

Ein bisschen passt dieses Buch zu meiner gerade mit Holocaust in Norwegen beendeten Norwegen-Reihe. Die Autorin Nohr ist zwar keine Norwegerin, hat aber zentrale Bestandteile ihres neuesten Werks in das Land verlegt.

Die im Mittelpunkt stehende deutsche Familie Niemann eignet sich nicht als Sinnbild für ein harmonisches Miteinander. Die Ehe zwischen den Eltern Irmela und dem schon verstorbenen Richard war kühl und distanziert, die Erziehung ihrer drei Kinder Matthias, Markus und Inga, die heute selbst erwachsene Kinder haben,  war ebenfalls nicht durch Herzlichkeit geprägt. 

Als die frisch verwitwete Inga allein auf einer norwegischen Schäreninsel Urlaub macht, bleibt sie mit ihren Brüdern per E-Mail in Kontakt. Jeder der Drei erzählt nach und nach, welche Erinnerungen er an die Eltern hat. Das Thema entpuppt sich als Minenfeld: War der Vater wirklich nach dem Krieg in der Psychiatrie gewesen? Warum hieß sein Segelboot 'Inga'? Sollte die Mutter wirklich eine Beziehung mit dem Pfarrer gehabt haben? Und warum hatte Inga überhaupt diesen Namen bekommen, obwohl ihre Brüder, einschließlich des früh gestorbenen Lukas, biblische Namen hatten?

Fragen, die Matthias dazu bewegen, Nachforschungen zu betreiben. Das, was er im Bundesarchiv herausfindet und ein Brief, den er aus Norwegen erhalten hat, erschüttert die Geschwister. Lange nach dem Tod des Vaters hebt sich ein Schleier, der über dessen Vergangenheit gelegen hat. Ein gutgehütetes Geheimnis, das ihnen den Weg nach Tromsø weist, den zunächst nur Inga gehen will.


Wie war's?

In Kieloben schildert Karin Nohr eine Familiengeschichte, die vom Deutschland während des 2. Weltkriegs bis in die deutsch-norwegische Gegenwart reicht. Sie berührt existenzielle Lebensfragen und lotet auch aus, wie weit der Mensch zur Vergebung und Versöhnung bereit ist und wie unterschiedlich der Blick in die Vergangenheit sein kann.

Karin Nohr ist studierte Literaturwissenschaftlerin und Psychologin und hat sich in klassischem Gesang fortgebildet. Sie hat mehrere Jahre als niedergelassene Psychoanalytikerin gearbeitet, ehe sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. Dieser persönliche Hintergrund hat auf die Handlung einen prägenden und positiven Einfluss. Klare Leseempfehlung.

Kieloben ist im Juli 2019 im Größenwahn Verlag erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 19,90 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.


Frankfurter Buchmesse 2019 - erste Eindrücke

Ich bin nicht zum ersten Mal auf der Frankfurter Buchmesse, aber dennoch ein ganzes Stück davon entfernt, von einem professionellen Habitus umgeben zu sein und mich gewissermaßen zuhause zu fühlen.

Aus Gesprächen weiß ich, dass etliche andere Buchblogger den Besuch auf der "fbm" deutlich strukturierter angehen. Viele haben sich einen Plan gemacht, welche Stände und Veranstaltungen sie besuchen und welche Autoren sie interviewen wollen.

Es ist jetzt nicht so, dass ich mich gar nicht vorbereitet hätte. Immerhin habe ich mir die App heruntergeladen und schon mal gestöbert, was denn so angeboten wird und mich interessieren könnte. Eine Menge. Bei Licht betrachtet viel zu viel. Würde ich alles besuchen, was mir gefällt, würden die Tage auf dem Messegelände in Stress ausarten. Und mal ehrlich: Wer will das schon?

Heute, nachdem am Ende des Messetages die Jacken aus der Garderobe abgeholt waren und wir darauf warteten, dass die zur S-Bahn strömenden Menschenmassen ein wenig abebben würden, habe ich noch mal nachgesehen, welche Veranstaltungen ich mir in der App schon zu Hause markiert und welche ich tatsächlich besucht habe. Das Fazit lässt mich an meiner Planungsfähigkeit zweifeln: Ich war bei keinem vorgemerkten Termin, dafür aber bei zweien, die ich vorher gar nicht auf dem Schirm hatte. An dieser Stelle geht mein Dank an Mirella P., die den Hinweis zu einer der beiden Veranstaltungen gegeben hat und die ich endlich "live und in Farbe" kennenlernen durfte.

Zum Schluss komme ich zu den Beweisfotos, damit ihr mir auch glaubt, dass ich tatsächlich vor Ort gewesen bin. Zu jedem werde ich nur eine kurze Erklärung geben oder auch ganz auf eine Erläuterung verzichten. 

Der Preis für das Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler ging an: 


Sehr interessant war der Diogenes-Talk mit diesen Autoren: 




Simone Lappert, die ihr neuestes Buch Der Sprung vorstellte, konnte hier besonders beeindrucken: Sie trug den Beginn ihres Romans frei und so emotional vor, dass ich sofort den Wunsch hatte, ihn zu kaufen. Mehr geht nicht, oder?

Mirella führte uns zu einem Stand, den sie am Vortag entdeckt hatte: Hier gibt es eine große Auswahl an handgefertigten Buchstützen, die bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller zeigen. Sehr sehens- und kaufenswert: 


 
Abends war dieses das letzte Getränk in einem Darmstädter Lokal in der Nähe des Hauptbahnhofs:


Mein erster sauer Gespritzter seit 27 Jahren. Fazit: In der  Erinnerung wird manches verklärt.

Zur Barrierefreiheit - oder ihrer Abwesenheit - wird es einen separaten Artikel geben, den ihr in meinem "Gruselblog" nachlesen könnt. Bald. Demnächst.

Sonntag, 13. Oktober 2019

Literaturnobelpreis - Wie eine angesehene Auszeichnung die Szene spalten kann

1901 beginnt die Geschichte der insgesamt fünf
(fast) jährlich vergebenen Nobelpreise. Den Nobelpreis für Literatur erhielt damals der Franzose Sully Prudhomme. Zu seinen bekanntesten Werken zählt das Gedicht Le Vase brisé. Nie gehört? Ich auch nicht. Aber Wikipedia wird schon recht damit haben.

Wenn ein Kriterium nicht entscheidend ist, um in dieser Kategorie ausgezeichnet zu werden, dann, dass der Nachwelt etwas hinterlassen wird, was auch noch drei oder vier Generationen später begeisterte "Ahs" und "Ohs" hervorruft. Die Vergabe des Nobelpreises ist auch ein Spiegel der jeweiligen Zeit, in der sie stattfindet. Vielleicht hat das Gremium auch den Wunsch, mit der Preisvergabe ein Zeichen zu setzen.

Vor drei Tagen wurden die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk und der österreiche Schriftsteller Peter Handke auf den Nobelthron des Jahres 2018 bzw. 2019 gesetzt. Zur Erinnerung: 2018 wurde kein Literaturnobelpreis vergeben, weil sich einzelne Mitglieder der Jury nicht nur danebenbenommen, sondern gleich einen richtigen Skandalberg aufgehäuft hatten. Der Ehemann eines Komiteemitgliedes hatte nicht nur das Amt seiner Frau ausgenutzt, sondern wurde auch wegen mehrfacher Vergewaltigung angezeigt. Die Glaubwürdigkeit und der Ruf des Gremiums waren nachhaltig erschüttert.

Nun also eine Frau und ein Mann. Wie die
Komiteemitglieder zu ihrer Entscheidung gekommen sind, entzieht sich jedermanns Kenntnis. Inwieweit man der offiziellen Begründung folgen darf? Der Spekulation sind Tür und Tor geöffnet. Soll die hälftige Mann/Frau-Aufteilung suggerieren, hier habe man auf Geschlechtergerechtigkeit geachtet? Das zu glauben, fällt schwer: Olga Tokarczuk ist die 15. Preisträgerin, dagegen konnten 100 schreibende Herren Medaille und Preisgeld in Empfang nehmen. Ein klitzekleine Schieflage ist hier durchaus erkennbar.

Der Blick über den literarischen Tellerrand war für die Nobelkomitees all die Jahre ebenfalls nicht leicht, wenn man sich die Auswahl anhand ihrer geografischen Ausgewogenheit ansieht: Wenn ich mich nicht völlig verzählt habe, haben sich die Mitglieder 80 Mal für Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Europa entschieden. Zehn kamen aus den USA, nur drei aus Afrika. Zu glauben, dass da irgendwie ein Proporz eine Rolle gespielt hat, wäre sicher Unsinn.

Nächster Anlauf, die Auswahl des Komitees nachzuvollziehen. Haben möglicherweise die Botschaften, die Frau Tokarczuk und Herr Handke ihrem Lesepublikum vermittelt haben, den Ausschlag gegeben? Wenn man den Worten des Sprechers folgt, der den wartenden Medien in Stockholm die Entscheidung verkündet hat, weitet das Werk der polnischen Autorin den "Blick auf Mittel- und Osteuropa". Das stimmt. Olga Tokarczuk hat sich in ihren Werken derart deutlich gegen die konservative Regierung ihres Heimatlandes positioniert, dass sie seit Langem Morddrohungen erhält.

Peter Handke hat insbesondere dadurch auf sich aufmerksam gemacht, dass er für sich Theater neu definiert hat: In einem seiner Schauspiele ("Publikumsbeschimpfung", Erstaufführung 1966) werden die Zuschauer mit "Nettigkeiten" überhäuft. Es sollte ein Protest gegen die Altnazis sein. Wie es dazu passt, dass sich Handke Jahrzehnte später mit einer Grabrede von einem brutalen Autokraten - dem serbischen Ex-Diktator Slobodan Milosevic - verabschiedete und behauptete, dieser sei an dem  Massaker in Srebrenica, bei dem 1995 etwa 8.000 bosnische Muslime ermordet wurden, gänzlich unschuldig und habe noch nicht einmal etwas davon gewusst, bleibt sein Geheimnis.

Und dann gibt es da noch Literaturkritiker wie Denis Scheck. Scheck kann sich vor Begeisterung kaum noch einkriegen. Noch am Abend der Bekanntgabe der Preisträger/in spricht er im SWR in der Sendung Kunscht! lobend von der Nobelkomission als "Bastion politischer Korrektheit", die es unterlassen hat, Handke wegen seiner politischen Irrwege nicht auszuzeichnen. Am selben Tag nennt Scheck die Entscheidung zugunsten des Österreichers in der ZDF-Sendung Kulturzeit "eine schallende Ohrfeige ins Gesicht der politischen Korrektheit". Ich bin verwirrt, Herr Scheck: Ist damit gemeint, dass sich die Komissionsmitglieder gegenseitig vermöbeln?

Literatur und die Bewertung ihrer Güte bleiben Geschmackssache. Was mich stört, ist die augenscheinlich so unterschiedliche Herangehensweise, nach der Preisträgerinnen und Preisträger ausgewählt werden. Auch die Vorbehalte gegen Literatur aus Asien, Afrika oder Mittel- und Südamerika werden - von den sehr wenigen Ausnahmen abgesehen - weiterhin kultiviert.

Der Preisstifter Alfred Nobel hat vor 134 Jahren in seinem Testament verfügt, nach welchen Gesichtspunkten die nach ihm benannten Preise vergeben werden sollen. Dort ist davon die Rede, dass "Preise denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben." Außerdem soll der Literaturpreis dem gegeben werden, "der in der Literatur das beste in idealistischer Richtung geschaffen hat".
Zum Schluss heißt es: " Es ist mein ausdrücklicher Wille, dass bei der Preisverteilung keinerlei Rücksicht auf die Nationalität genommen werden darf, so dass nur der Würdigste den Preis erhält, ob er nun Skandinavier ist oder nicht..."

Ich habe seit Jahren einen Kandidaten, dem ich wünsche, den Nobelpreis zu bekommen. Der aus Kenia stammende und heute in den USA lebende Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o hat es meiner Meinung nach verdient, geehrt zu werden. Seit etlichen Jahren heißt es, er stünde auf der Nominierungsliste. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass er eher für die "Hall of Fame der ewigen Anwärter" als für den Nobelpreis vorgesehen ist. Aber irgendwann wird sich die Bastion der politischen Korrektheit vielleicht daran erinnern, welches Anliegen Alfred Nobel mit seiner Stiftung verfolgt hat.

Einen ersten Eindruck von Ngũgĩ wa Thiong’os Werk gibt es in der Besprechung seines Hauptwerkes, Herr der Krähen.

Freitag, 11. Oktober 2019

# 215 - Holocaust in Norwegen

Dies ist das sechste und letzte Buch, das ich im Rahmen meiner Norwegen-Reihe vorstelle. Ich behaupte, es ist das wichtigste.

Holocaust in Norwegen - Registrierung,
Deportation und Vernichtung des norwegischen Historikers Bjarte Bruland ist 2017 in der Original- und 2019 in der deutschen Ausgabe erschienen. Das Buch gilt als die erste wissenschaftliche Monographie zu diesem Thema. Nicht, dass es bis zum Erscheinen dieses Titels keine entsprechenden Publikationen gegeben hätte, die sich mit der Judenverfolgung in Norwegen beschäftigt hätten; die Geschichtsforschung war allerdings nur unvollständig, weil der Fokus allein auf den Tätern - insbesondere den Polizeibehörden - gelegen hat. 

Bruland hat in seiner Einleitung deutlich gemacht, dass er vor allem dokumentieren möchte, wie die deutschen Sicherheitsbehörden mit der norwegischen Staatspolizei zusammenarbeiteten, nach welchen Richtlinien vorgegangen wurde und wie die informelle Kooperation funktionierte. Der Umstand, dass die Gestapo ihre Unterlagen vernichtete, bevor sich die deutschen Streitkräfte in Norwegen ergaben, hat seine Recherchen erschwert. Auch die Mitverantwortung der Nationalversammlung sowie der norwegischen Bürokratie wird hier hinterfragt.

Bruland stieß auf ein System des Verschleierns und des Abschiebens von Verantwortung. Er fand nicht nur heraus, dass das in Norwegen praktizierte Vorgehen, eine "Endlösung" hinsichtlich der Vernichtung der Juden herbeizuführen, sich von dem in den anderen europäischen Staaten unterschied. Der Autor richtet seinen Blick auch auf das Verhalten der Kirchen und anderer Institutionen. Ein Beispiel: Nachdem 1942 alle Bischöfe und die meisten Pastoren aus ihren staatlichen Kirchenstellen ausgeschieden waren, waren sie dennoch weiterhin als kirchliche Amtsträger tätig. Norwegens Kirche arbeitete also als autonome Institution unter einer provisorischen Kirchenleitung. Diese und weitere kirchliche Kreise riefen im sogenannten Hebräerbrief dazu auf, die Verfolgung der Juden, "ohne dass sie wegen des Verstoßes gegen die Gesetze des Landes angeklagt waren", zu beenden. Der sehr emotionale Protestbrief war von fast allen christlichen Kreisen in Norwegen unterzeichnet worden - außer der katholischen Kirche.

Bruland beschreibt sehr detailliert, was sich seit dem Beginn des Holocausts in Norwegen 1942 abgespielt hat. Er zeichnet die schleichende Enteignung und die Registrierung der norwegischen Juden ebenso nach wie ihre Deportation in die Konzentrationslager und das Wirken der Helfer, die etliche Juden vor dem sicheren Tod retteten.

Lesen?

 

Bruland hat ein jahrelanges Quellenstudium betrieben. Er ist der Enkel eines seinerzeit vom norwegischen Holocaust betroffenen Juden und hat sich nicht nur in seiner Diplomarbeit und mehreren Büchern, sondern auch als früherer Chefkurator des Jüdischen Museums in Oslo sowie als Leiter des Jüdischen Museums in Trondheim viele Jahre mit der Judenverfolgung in Norwegen beschäftigt. 

Holocaust in Norwegen - Registrierung, Deportation und Vernichtung wird von Fachleuten als Meilenstein der Forschung angesehen. Es ist allen, die sich für dieses Thema interessieren, unbedingt zu empfehlen.


Holocaust in Norwegen - Registrierung, Deportation und Vernichtung ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 60 Euro.

Ich bedanke mich beim Verlag, der mir ein Exemplar zur Verfügung gestellt hat. 

Mit diesem Titel endet meine Reihe mit Büchern norwegischer Autoren, die ich anlässlich der kommenden Frankfurter Buchmesse, zu der Norwegen als Ehrengast eingeladen ist, begonnen habe. Dies waren die vorangegangenen Bücher:
 

 

Samstag, 5. Oktober 2019

# 214 - Von Mythen, Hoffnung und dem Kampf ums Überleben

Der neueste Roman Die Glocke im See des norwegischen Autors Lars
Mytting ist Ende des 19. Jahrhunders angesiedelt: Das Dorf Butangen im Süden Norwegens erfährt 1880 eine seiner tiefgreifendsten Veränderungen in seiner jahrhundertealten Geschichte. Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Lauf der Zeit an diesem Ort bislang praktisch spurlos vorübergegangen ist. Die Menschen waren immer abhängig vom Wetter, die meisten arm und das Schicksal eines jeden Neugeborenen stand fest, sobald es den ersten Schrei getan hatte. Außer, man entschloss sich, nach Amerika auszuwandern.

Doch 1880 tut sich etwas in Butangen. An diesem abgeschiedenen Ort, der auch heute noch mühsam zu erreichen ist, wird ein neuer Pfarrer, der junge Kai Schweigaard, eingesetzt. Ihm ist die siebenhundert Jahre alte Stabkirche, die 1170 unter der Regentschaft von König Magnus V. fertiggestellt wurde, ein Dorn im Auge: Das Bauwerk mit seinen geschnitzten Drachenköpfen und ineinander verschlungenen Schlangenkörpern sowie den hohen Spitzen symbolisiert für ihn das heidnische Denken, das immer noch in den Köpfen der Dorfbewohner vorhanden ist. Da kommt ihm eine neue Verordnung der norwegischen Regierung gerade recht: Sie sieht vor, dass eine Kirche Platz für mindestens ein Drittel der Mitglieder eines Kirchspiels haben muss. Davon ist die Butanger Stabkirche weit entfernt.

Was Schweigaard nicht weiß: Die Geschichte der Kirche ist eng mit der des Dorfes verwoben, insbesondere mit der der Familie Hekne. Vor allem die beiden sogenannten Schwesterglocken, die einst von den Vorfahren der Hekne-Familie gestiftet wurden und ungewöhnlich viel Silber enthalten, haben einen sehr speziellen Hintergrund.

Der Pfarrer nutzt das Interesse der Kunstakademie in Dresden, die die Stabkirche von Butangen gern in ihrer Nähe aufbauen würde, und verkauft ihr das Bauwerk. Von den Einnahmen soll der Bau einer neuen und schlichten Kirche bezahlt werden. Schweigaard trifft die Vereinbarung, ohne sich mit jemandem zu besprechen. 

Die Kunstakademie schickt den Studenten Gerhard Schönauer, der den Auftrag hat, sich um den Abbau und Abtransport der Stabkirche zu kümmern. Der Akademie ist der kultur- und kunsthistorische Wert des Gebäudes bewusst: Sie will der Nachwelt den Blick auf diese ungewöhnlichen Bauwerke erhalten, die durch die Verordnung bedroht sind.

Doch die beiden Männer spüren Widerstand: Die zwanzigjährige Astrid Hekne, eine Nachfahrin des Stifters der Schwesterglocken, ist nicht nur über den Verkauf der alten Kirche entsetzt. Was sie weit mehr ärgert ist, dass die Glocken Bestandteil des Kaufvertrags sind. Der Pfarrer hat ihre Bedeutung für Butangen und noch mehr für die einst wohlhabende Familie Hekne, der es erst nach ihrer Spende wirtschaftlich schlecht ging, ignoriert. Dieser Fehler soll sich als verhängnisvoll erweisen.


Wie war's?


Mit Die Glocke im See ist Mytting ein Roman gelungen, der einen wichtigen Teil der norwegischen Geschichte und Kultur in eine Handlung einbettet, die auch den Alltag der Einheimischen und - ein bisschen Gefühl schadet nie - eine tragische Liebesgeschichte mit einbezieht. Man versteht, warum sich die Menschen nicht auf einen abstrakten Gott verlassen wollten, sondern noch lange an ihren Mythen und dem allgegenwärtigen Aberglauben festhielten. Alles Unerklärliche, was möglicherweise zu einer Bedrohung werden konnte, musste irgendwie im Zaum gehalten und milde gestimmt werden. 

Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd geschrieben und lässt seine Leser in die damaligen Verhältnisse eintauchen. Wenn man etwas kritisieren kann, dann die Wahl des Titels der deutschsprachigen Ausgabe: Im norwegischen Original heißt das Buch Søsterklokkene, was deutlich passender ist als die vom Insel Verlag gewählte Variante.

Die Glocke im See ist im Januar 2019 erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.


Dieser Titel ist der fünfte, den ich anlässlich der kommenden Frankfurter Buchmesse vorstelle, deren Gastland diesmal Norwegen ist. Dies waren die vorangegangenen Bücher norwegischer Autoren:


Nachtrag:
Von den ehemals schätzungsweise 2.000 Stabkirchen gibt es in Norwegen heute nur noch 28. Es hat zwar keine Umsetzung einer Kirche nach Dresden gegeben, wohl aber eine ins polnische Riesengebirge nach Karpacz. Die Kirche Wang wurde im 12./13. Jahrhundert in der südnorwegischen Ortschaft Vang errichtet und auf Initiative des aus Norwegen stammenden und in Dresden als Kunstprofessor tätigen Johan Christian Clausen Dahl ab- und zwischen 1842 und 1844 in Karpacz wieder aufgebaut.