Sonntag, 28. Mai 2023

# 394 - Stella Goldschlag, die Greiferin der Nazis

Vor etwas mehr als vier Jahren habe ich hier über das Buch Stella von Takis Würger geschrieben. Der Roman wurde damals breit diskutiert, weil er einen wahren Kern - junge Jüdin verrät andere Juden an die Gestapo, um die eigenen Eltern zu retten - enthält, Würger aber eine fiktive Liebesgeschichte zwischen der "Greiferin" und einem lebensfremden Schweizer drumherum gebastelt hatte, was von vielen Leserinnen und Lesern als unangemessen empfunden wurde. 

Bereits 1993 wurde die erste Fassung des autobiografischen Buches Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte vom Steidl Verlag herausgebracht. Der Journalist und Autor Peter Wyden, der 1923 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren wurde und vor seiner Emigration in die USA Peter Weidenreich hieß, hat sich hierfür viel Zeit genommen und sowohl eigene Erinnerungen an Stella Goldschlag als auch Informationen von Zeitzeugen und aus historischen Quellen verwendet, um ein möglichst genaues Bild der Frau zu zeichnen, die auch dann, als ihre Eltern nicht mehr zu retten waren, nicht damit aufgehört hat, allein oder in Begleitung eines anderen Greifers durch Berlins Straßen zu streifen und Juden an die Gestapo auszuliefern. Dabei hatte sie auch keine Skrupel, Freunde zu verraten.

Wyden lernte Stella kennen, als sie in den 1930-er Jahren gemeinsam die Leonore-Goldschmidt-Schule in Berlin besuchten. Die Nazis hatten sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte von den staatlichen Schulen ausgeschlossen. Deshalb gründete die jüdische Pädagogin Leonore Goldschmidt in Berlin eine Privatschule, um die Schulbildung der jüdischen Kinder und Jugendlichen sicherzustellen. Wyden war zu diesem Zeitpunkt elf, Stella zwölf Jahre alt. Schon damals fiel sie durch ihre außergewöhnliche Erscheinung auf: Sie sah gut aus, war intelligent, hatte etliche Begabungen und konnte Menschen um den Finger wickeln. Ihre Eltern waren nicht vermögend, sodass Stella nur mithilfe eines Stipendiums die Schule besuchen konnte. Doch was sie mehr störte als die Mittellosigkeit ihre Familie war ihr Jüdischsein. Sie hasste diese Tatsache und war froh, dass sie wegen ihrer blonden Haare und blauen Augen meistens für eine Arierin gehalten wurde.

Stella wurde von ihren Eltern wie eine Prinzessin behandelt. Sie war ihr einziges Kind und stand zu Hause immer im Mittelpunkt. Aber deren zögerliches Verhalten angesichts der im Nationalsozialismus immer deutlicher werdenden Gefahr für alle Juden führte dazu, dass ihnen der Weg zu einer Flucht ins Ausland versperrt war. Die Eltern Weidenreich hingegen hatten die Zeichen der Zeit jedoch richtig gedeutet; insbesondere Peter Wydens Mutter hatte früh gedrängt, alles zu versuchen, um rechtzeitig Deutschland zu verlassen. Das gelang 1937, wofür Wyden seiner Mutter sein Leben lang dankbar war und dies auch in seiner Widmung formulierte:
"Für Helen. Wenn sie Hitler nicht richtig eingeschätzt hätte, wäre ich jetzt nicht hier."

Kurz nach Kriegsende wurde Wyden als US-Soldat in Berlin stationiert und erfuhr dort von den drei Prozessen gegen Stella Goldschlag. Das, was er hörte, schien nicht von seinem Bild von Stella zu passen, das er aus der gemeinsamen Schulzeit hatte. Sein Interesse war geweckt und er machte sich auf eine Spurensuche.

Lesen?

Man merkt dem Buch Wydens Bemühungen an, Stellas Verhalten möglichst objektiv zu beurteilen und sie nicht anzuprangern. Es wird sehr deutlich, dass es ihm um die Beantwortung der Frage ging, wie weit jeder gehen würde, um sich oder die Menschen, die einem am Herzen liegen, zu retten. Wyden beschäftigte sich jedoch auch mit den Opfern von Stellas Verrat und befragte Überlebende. Dabei erlebte er allerdings nicht nur Verbitterung und Vorwürfe, sondern auch Verständnis. Manche nahmen Stella sogar in Schutz und berichteten von Situationen, in denen die junge Frau Menschen nicht an die Gestapo ausgeliefert hatte und dafür ein persönliches Risiko eingegangen war.

Peter Wyden arbeitet zwei Aspekte deutlich heraus: Stellas Tun ist ethisch-moralisch nicht eindeutig schwarz oder weiß gewesen, und der Nationalsozialismus war kein abstraktes Gebilde, das über die Menschen gekommen ist, sondern wurde von Menschen, die in diesem System "funktionierten", am Leben erhalten. Jedes noch so kleine Rädchen trug dazu bei, die gesamte "Maschine" am Laufen zu halten. Wer Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte gelesen hat, dem wird klar, dass die dunkle Zeit des Nationalsozialismus' und seiner Folgen nie vergessen werden darf.

Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte ist in der mir vorliegenden Ausführung 2021 neu im Steidl Verlag Göttingen in der Reihe 'Steidl Pocket' herausgegeben worden und kostet 16,80 Euro.
Das Buch enthält ein Vorwort von Christoph Heubner (Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees), 41 Schwarz-Weiß-Fotos, ein umfangreiches Personenverzeichnis sowie ein Register.

Peter Wyden verstarb 1998 in den USA.
Stella Goldschlag beging 1994 Suizid, nachdem sie im Alter viele Jahre in völliger Zurückgezogenheit verbracht hatte. Wyden hatte sie an ihrem Wohnort in Deutschland drei Mal besucht, um ihre Version der Geschichte zu erfahren. Er traf auf eine Frau, die vor allem damit beschäftigt war, sich selbst leid zu tun.





Freitag, 19. Mai 2023

# 393 - Tödliche Irrwege

Charlotte Ford und Danielle Reeves waren mal dicke
Freundinnen, als beide noch in Houston aufs College gingen. Jede machte schon damals ihr eigenes Ding: Charlotte, weil ihre schmerzgeplagte Mutter bis zu ihrem Tod wegen der vielen Medikamente nicht in der Lage war, sich um irgendetwas zu kümmern, schon gar nicht um ihre Tochter; Danielle, die bei ihrer reichen Mutter lebte, diese jedoch so viel arbeitete, dass sie glaubte, Liebe mit Geld ausgleichen zu können. Melissa Ginsburg hat in ihrem ersten Krimi Sunset City komplexe Beziehungsstrukturen zu einer feinen Handlung verwoben.

Als Charlottes Mutter gestorben war, trudelten noch eine ganze Weile deren Medikamente ein. Die beiden Teenager testeten die Medikamente an sich selbst, was sie nicht nahmen, vertickten sie. Das Leben war locker und leicht - wenn man es verstand, sich etwas vorzumachen.

Im Gegensatz zu Charlotte schaffte Danielle den Absprung nicht und rutschte tief in die Sucht hinein. Sie wurde heroinsüchtig und musste für eine längere Zeit ins Gefängnis. Der Kontakt zwischen ihnen riss ab.

Doch dann treffen sich die beiden nach Jahren wieder. Während sich in Charlottes Leben nicht viel getan hat - nach wie vor lebt sie in der Wohnung der Mutter und arbeitet als Barista -, hört sich das, was Danielle zu erzählen hat, spannender an: Die junge Frau verdient ihr Geld mit Pornos und hat einen Freundeskreis, der aus Leuten besteht, die ebenfalls in der Branche arbeiten.

Zwei Tage nach dem Wiedersehen steht Detective Ash vom Houston Police Department vor Charlottes Tür und teilt ihr mit, dass Danielle ermordet wurde. Vielleicht wäre abgeschlachtet das bessere Wort. Doch wer hat die Freundin so sehr gehasst? Wer konnte der immer gut gelaunten und hübschen Frau das antun? Charlotte versinkt so sehr in ihrer Trauer um die Freundin und die Zeit, die sie noch zusammen hätten haben können, dass sie wissen will, wie Danielle gelebt hat. Sie taucht ein in die Welt der Pornodarsteller, Süchtigen und Dealer und ist dabei, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Charlotte gleitet von einem Drogenrausch zum nächsten und rutscht in Sexabenteuer, die sie sich vorher nicht hätte ausmalen können. Aber in ihren lichten Momenten registriert sie, wie das, was ihr Danielles "Freunde" erzählen, zu dem passt, was sie selbst wahrnimmt - oder eben nicht. Sie zieht ihre Schlüsse, doch Detective Ash verfolgt eine andere Spur. Dann droht die Situation zu kippen.

Lesen?

Sunset City wird von zahlreichen Szenen im Sonnenuntergang getragen, der jedoch keine Romantik erzeugt, sondern eher zu einer diffusen Atmosphäre beiträgt. Diese passt genau zu dem Leben, das die Hauptpersonen führen: immer nur eine handbreit vom nächsten Joint oder den nächsten Pillen entfernt, die die eigenen Probleme für eine Weile in den Hintergrund treten lassen. Das Leben ist zerbrechlich, der Tod lauert in Houstons dunklen Ecken. Melissa Ginsburg lässt daran von der ersten Seite an keinen Zweifel. Wer mal etwas anderes lesen will als einen Krimi, in dessen Mittelpunkt die Polizei steht, aber trotzdem nicht auf Spannung verzichten möchte, dem kann dieses Buch empfohlen werden.

Sunset City ist in der deutschen Übersetzung von Kathrin Bielfeldt 2023 im Polar Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 17 Euro.

Dienstag, 16. Mai 2023

# 392 - Angekommen: ein neues Leben in Deutschland nach der Flucht aus Iran

Die 1952 in Iran geborene Mahshid Najafi lebt seit
1985 im hessischen Offenbach, einer Stadt mit einem für deutsche Verhältnisse hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. In ihrem Buch Wie Mond und Sonne schreibt sie sehr anschaulich, aus welchen Gründen sie ihre Heimatstadt Isfahan verlassen und vor fast vierzig Jahren ein neues Leben in Deutschland begonnen hat.

Najafi wuchs in einer wohlhabenden Familie auf und verlebte eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Sie beschreibt sehr plastisch ihre Wohnumgebung und den Umgang der einzelnen Familienmitglieder miteinander sowie die Beziehung mit ihrem ersten festen Freund als junge Studentin in Schiras, die in ihre erste Hochzeit mündete. Sie reiste mit ihrem Mann 1975 in die USA, um dort ihr Studium fortzusetzen. Dort erfuhr sie nur wenig von dem, was sich in ihrer Heimat politisch abspielte. Durch eine Schah-kritische Studentenorganisation gelangte sie an Informationen über die diktatorische Monarchie, über die religiös motivierten Aktivitäten des damals noch im Exil lebenden Ajatollahs Ruhollah Chomeini erfuhr sie in den USA jedoch nichts.

Doch Najafi entschied sich, etwas für ihr Land tun zu wollen und kehrte vier Jahre später nach Iran zurück. Sie engagierte sich in einer linken politischen Gruppe. Um sich vor Verrat und Verfolgung zu schützen, legte sie sich einen Decknamen zu. Ihr Traum war Freiheit und Chancengleichheit für alle. Unter der Schah-Diktatur wurden Frauen benachteiligt, unter Chomeini mussten kritische Bürgerinnen und Bürger damit rechnen, hingerichtet zu werden - so, wie es Najafis Schwager ergangen ist.

Schließlich erkannten Mahshid Najafi und ihr zweiter Ehemann, dass für sie nur die Flucht infrage kommt, wenn sie weiter ohne Repressalien und Angst leben und arbeiten wollten. Nach kurzen Aufenthalten in Istanbul und den USA kam das Ehepaar im Winter 1985/86 in Frankfurt an. Nach einigen Wohnortwechseln ließ es sich in Offenbach nieder.

Lesen?

Mahshid Najafi schreibt sehr offen und authentisch über ihr Leben. Ihr ist bewusst, unter welch privilegierten Bedingungen sie in Iran gelebt hat. In ihrer Anfangszeit in Deutschland hat sie in eher ärmlichen Verhältnissen gewohnt, was sie jedoch in Kauf genommen hat. 

Die Gruppe der Exil-Iraner verfügte über einen guten Zusammenhalt, der ihr und ihrer Familie - Najafi und ihr Mann haben zwei Kinder - in schwierigen Situationen oft weitergeholfen hat. Obwohl das Ehepaar bei seiner Flucht ursprünglich davon ausging, irgendwann in die Heimat zurückzukehren, blieb es in Deutschland.

Mahshid Najafi lernte Deutsch und brachte sich über etliche Ehrenämter vielfach in die deutsche Gesellschaft ein. Sie setzt sich für Integration und den Abbau von Fremdenfeindlichkeit ein und war Betriebsrätin, Ausländerbeauftragte und Stadtverordnete. Für ihr vielfältiges und jahrzehntelanges Engagement wurde sie im Januar 2023 mit dem Integrationspreis der Stadt Offenbach ausgezeichnet.

Wie Mond und Sonne enthält zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Fotos. Leider sind ihnen keine Erläuterungen beigefügt, sodass sich nicht immer erschließt, was genau dokumentiert wird.

Die Autorin schließt ihr Buch mit einem Nachwort, in dem sie etwas klarstellt:
"Meine Autobiografie soll auch ein Dokument gegen das Vergessen sein. Denn kein Exilant verlässt sein Geburtsland aus freiem Willen. Es gibt entweder gesellschaftliche, politische oder ökonomische Probleme, die auch meist zusammenhängen. So gibt es im Iran heute Menschen, die ihre eigenen Organe verkaufen, damit sie ihre Kinder ernähren können."

Wie Mond und Sonne ist 2022 im Verlag Donata Kinzelbach Mainz erschienen und kostet als Klappenbroschur 18 Euro.


Dienstag, 9. Mai 2023

# 391 - Kindheit auf Teneriffa

Die spanische Autorin Andrea Abreu hat mit So
forsch, so furchtlos
einen Debütoman geschrieben, der nicht nur in ihrer Heimat Begeisterung auslöste, wo sie seitdem zu den besten einheimischen Schriftstellern gezählt wird.

Schauplatz ist die Heimat Abreus, die Kanareninsel Teneriffa. Die Kanaren sind für Touristen ein Versprechen des ewigen Frühlings: Milde Temperaturen locken sie an die langen Strände, wo Hotelanlagen für einen angenehmen Urlaub sorgen. Doch diese Kulisse hat nichts mit dem Leben der Einheimischen zu tun, die die Hotels allenfalls als Service- oder Putzpersonal von innen sehen.

Die Handlung beginnt am ersten Tag der Sommerferien. Von Anfang an ist klar, dass sich die nächsten Monate zäh dahinziehen würden.
Zwei zehnjährige Mädchen stehen im Mittelpunkt des Romans. Beide kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und wohnen dort, wohin es keinen Urlauber verschlägt: in einem Dorf, dessen Häuser sich an den Hängen des Vulkans Teide förmlich stapeln. Isora, die sich als frühreif gibt, nennt ihre Freundin, die hier als Ich-Erzählerin auftritt, nur Sis. Wann immer es ihre Zeit zulässt, kleben sie fast aneinander und wünschen sich das, was für die Touristen selbstverständlich ist: im Bikini im Meer zu schwimmen und im Sand zu liegen. Aber das Meer ist für sie unerreichbar fern und bleibt bis zur letzten Seite ein Wunschtraum.

Die Freundschaft der beiden ist nicht auf Augenhöhe: Sis bewundert Isora für ihre Unerschrockenheit und ihr Draufgängertum. "Und ich wollte so sein wie sie, so forsch, so furchtlos", lässt sie die Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten wissen. Doch was das einfache Leben der Freundinnen prägt, ist eine Art von Maßlosigkeit, die zu den einfachen Lebensverhältnissen zu passen scheint. Isora und Sis sprechen nicht einfach nur, sie pöbeln und fluchen wie die Bierkutscher. Sie sind nicht dezent, wenn ihnen etwas unangenehm ist, sondern Isora "pulte sich die Unterhose aus der Poritze". Sie essen nicht, sondern fressen. Fäkalsprache ist für sie normal und selbstverständlich.

Aber was Sis an Isora als Zeichen von Stärke zu erkennen glaubt, ist tatsächlich das Gegenteil. "Ich will mir das Leben nehmen, ich will sterben", hört Sis ihre Freundin mehrmals sagen. Aber kurz danach rennen sie gemeinsam durchs Dorf und der Satz ist vergessen. Bis zum nächsten Mal. Und auch Isoras Bulimie fällt niemandem auf: Das Mädchen erbricht sich nach jeder Mahlzeit und findet sich zu dick. Doch in der Welt der Erwachsenen ist jeder mit etwas beschäftigt: Geld verdienen, den Haushalt machen und was eben noch so anfällt. Sis und Isora wachsen auf wie herrenlose junge Welpen. Die besondere Situation, auf die der Roman zuläuft, sieht man allerdings nicht unbedingt kommen.

Lesen? 

So forsch, so furchtlos ist kein typischer Coming-of-Age-Roman, sondern beinhaltet eine große Portion Sozial- und Gesellschaftskritik. Das von Abreu beschriebene Milieu ist ihr gut bekannt, sie ist selbst darin aufgewachsen und kann deshalb besonders authentisch von der melancholischen Atmosphäre des Bergdorfs, dem Aberglauben der alten Frauen und der Gottesfürchtigkeit schreiben. Ob die ununterbrochene Benutzung von Fäkalsprache und Derbheit etwas mit der Lebenswirklichkeit von Zehnjährigen in einem kanarischen Dorf zu tun hat, ist möglich, aber an manchen Stellen schwer vorstellbar. 

Der Roman ist 2020 unter dem Originaltitel Panza de burro erschienen, was wörtlich übersetzt "Eselsbauch" heißt. Damit sind die besonderen Wolkenformationen in höheren Lagen der Kanarischen Inseln gemeint, von denen auch in So forsch, so furchtlos immer wieder die Rede ist und die das Dorf oft wie in eine kühle und feuchte Watteschicht einwickeln. 

So forsch, so furchtlos ist 2022 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

Montag, 1. Mai 2023

Anstelle einer Buchbesprechung: So war die Leipziger Buchmesse 2023

In dieser Woche ist mein Lesepensum im Vergleich zu sonst eher gering ausgefallen. Der Grund: Ich war am Wochenende in Leipzig und habe die Buchmesse besucht - seit der coronabedingten Absage 2020 die erste nach dem offiziellen Ende der Pandemie. Wie war's?

Ich bin nicht zum ersten Mal zur "LBM" gefahren, wusste also, was mich in etwa erwartet und worauf ich mich einstellen muss. Aber wie das so ist mit vermeintlichen Sicherheiten, lösen sie sich manchmal gern in Rauch auf. Das war auch hier so.

Wir sind am Messe-Freitag, dem zweiten Messetag, angereist, kamen in unserem Hotel aber so spät an, dass wir darauf verzichtet haben, für zwei Stunden Messebesuch zum Gelände zu fahren. "Ist doch kein Problem", dachten wir. "Wir haben morgen den ganzen Tag Zeit und am Sonntag auch noch ein paar Stunden." Ein Trugschluss.

Als wir uns am Samstag auf der Autobahn dem Messegelände näherten, wies die Navigationsapp auf ein Problem hin. Schon etliche Kilometer vor der Abfahrt zur Messe war die Straße rot markiert: Stau, angeblich zwölf Minuten Zeitverlust. Na ja, damit kann man leben. Auf eine andere Route auszuweichen, konnte man sich ohnehin schenken: Alle anderen Zufahrtsstrecken waren ebenfalls rot auf der Karte eingefärbt. Also Stillstand. Zwanzig Meter fahren. Stillstand. Fahren. Die angekündigten zwölf Minuten schien der Algorithmus ausgewürfelt zu haben, so weit weg waren sie von der Wirklichkeit.

Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Die Autoschlange setzte sich nach der Autobahnausfahrt nahtlos bis zu den Messeparkplätzen fort. Die waren schon rappelvoll. Aber wir wollten zum Presseparkplatz, hatten schon die Parkberechtigung hinter die Windschutzscheibe gelegt und waren verhalten optimistisch. In der Warteschlange vor der Schranke beobachteten wir das Gespräch des Parkplatzwächters mit dem Fahrer des Autos vor uns. Der fuhr kurz darauf dorthin zurück, woher er gekommen war: auf die Straße. Immer noch klingelte es nicht bei uns. "Na, da wollte wohl einer einen 'alternativen' Parkplatz ausprobieren", lästerten wir.

Dann standen wir an der Pole-Position - direkt vor der Schranke. Doch der junge Mann mit der Sicherheitsweste klärte uns auf: "Hier ist nichts zu machen. Die Fahrzeuge stapeln sich schon! Der Park&Ride-Parkplatz ist auch schon voll. Die Besucher-Parkplätze auch." Unsere Idee, in der Nähe einer Straßenbahnhaltestelle zu parken und mit Öffis zum Messegelände zu fahren verpuffte in dem Moment, in dem wir mehrere Bahnen gesehen hatten: Zwischen die einzelnen Fahrgäste passte kein Blatt Papier. 

Wir haben uns dann entschieden, die nächsten Stunden im Panometer zu verbringen. Dort wird gerade das 360°-Panoramabild New York 9/11 des Künstlers Yadegar Asisi gezeigt. Schon 2018 musste dieser Ort als Alternative zur Buchmesse "herhalten", weil ein Schneechaos über Leipzig hereingebrochen war.

Start mit Verzögerung

Unser Messebesuch begann am Samstag um 16 Uhr, zwei Stunden vor der Schließung. Da ich einigen unabhängigen Verlagen meinen Besuch angekündigt hatte, wollte ich auf Nummer sicher gehen und war dort zuerst.

Vom Verlag Donata Kinzelbach habe ich hier schon mehrmals berichtet. Seit nun schon 38 Jahren gibt die Verlegerin Literatur aus dem Maghreb, also den nordafrikanischen Staaten Tunesien, Algerien, Marokko sowie der West-Sahara, heraus. Im Laufe der Jahre hat sich die Bandbreite etwas erweitert: Der Verlag bietet nun auch einige Titel von Autorinnen und Autoren anderer Nationalitäten an, der Maghreb bleibt jedoch der Schwerpunkt. 
Für ihre Verdienste hinsichtlich der Vermittlung zwischen Kulturen und Kulturkreisen erhielt Donata Kinzelbach vor 15 Jahren sogar das Bundesverdienstkreuz am Bande. 
In Kürze werde ich in der Bücherkiste den autobiografischen Titel Wie Mond und Sonne der iranischen Autorin Mahshid Najafi vorstellen, die 1985 gemeinsam mit ihrem Mann aus ihrer Heimat nach Deutschland geflüchtet ist und im Januar 2023 für ihre ehrenamtlichen Bemühungen um Integration und Demokratie mit dem Integrationspreis der Stadt Offenbach ausgezeichnet wurde.

Auch diesmal habe ich beim Polar Verlag vorbeigeschaut, dessen Krimis ich seit einigen Jahren mit Begeisterung lese. Ihr werdet hier bald noch mehr über ihn finden, und damit sind nicht (nur) weitere Rezensionen gemeint. Demnächst werde ich den in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen Krimi Sunset City von Melissa Ginsburg vorstellen.

Margarita Stein, die Leiterin der Anthea Verlagsgruppe, habe ich während der Frankfurter Buchmesse 2022 kennengelernt. Sie gibt Bücher von bemerkenswerten Autorinnen und Autoren heraus, darunter das des Gewinners des Europäischen Literaturpreises 2021. Sie hat mir den Roman Der Fassadenkletterer von Angela Schmidt-Bernhardt ans Herz gelegt. Ein Anruf aus Polen reißt eine Frau aus ihrem bisherigen Leben: Der beste Freund ihres Vaters hinterließ einen Stapel Briefe, in denen sich interessante Informationen über ihren eigenen Vater befanden. Was hat ihr Vater ihr verschwiegen?

In der Bücherkiste wurden bereits sieben Titel aus dem erst vor drei Jahren gegründeten Kanon Verlag vorgestellt - ein deutliches Indiz dafür, wie gut mir gefällt, was dort veröffentlicht wird. Das nächste Kanon-Buch wird "Was ich sah, war die freie Welt" des Publizisten Max Dax sein. In seinen 24 Gesprächen über die Vorstellungskraft interviewt er zum Beispiel Yoko Ono, Grace Jones oder Isabella Rossellini. Ich bin sehr gespannt.

Am Samstag hatten wir noch etwa zwei Stunden Zeit, bevor wir die Heimreise angetreten haben. Das genügte für einen Überblick über das Angebot des diesjährigen Gastlandes Österreich. Ein Buch hatte es mir besonders angetan: Die 1929 in Wien geborene jüdische politische Journalistin Hella Pick schreibt in ihrem autobiografischen Buch Unsichtbare Mauern (erschienen im Czernin Verlag, Wien) über ihre Flucht nach England 1939 und ihren Werdegang zu einer der renommiertesten Journalistinnen. Sie war für die BBC tätig und reiste für die Zeitung The Guardian um die Welt. Pick wurde für ihr Lebenswerk mit britischen, österreichischen und deutschen Preisen ausgezeichnet. Ich freue mich darauf, das Buch zu lesen.

Am Stand des Steidl Verlags, dessen Name österreichisch klingt, der aber in Göttingen zu Hause ist, haben wir zuerst die tollen Foto-Bände bewundert. Doch dann bin ich über das Buch Stella Goldschlag - Eine wahre Geschichte gestolpert. Stella? Nachdem ich mich bei einer Standmitarbeiterin erkundigt hatte, wurde meine Vermutung bestätigt: Es handelt sich tatsächlich um dieselbe Person, über die der Autor Takis Würger seinen 2019 veröffentlichten Roman Stella geschrieben hat. Es war damals sicher eines der am kontroversesten diskutierten Bücher des Jahres, das ich auch hier in der Bücherkiste besprochen habe. Der Autor und Journalist Peter Wyden war ein Mitschüler Stella Goldschlags und ist der Geschichte um ihren massenhaften Verrat von Jüdinnen und Juden an die Nationalsozialisten nachgegangen. Sein Buch basiert auf Fakten, was es von Würgers Roman unterscheidet.

Fazit

Die Leipziger Buchmesse hat wieder viele spannende Titel bereitgehalten, und ich habe mich sehr über die guten Gespräche an den Ständen gefreut. 
Der Wermutstropfen war die katastrophale Verkehrs- und Parkplatzsituation am Messe-Samstag. Möglicherweise war die Messeleitung von diesem Ansturm selbst überrascht, man weiß es nicht. Das sollte sich jedoch nicht wiederholen, denn die Messebesucher sollen das Gelände am Ende eines Tages mit einem guten Gefühl verlassen. Schließlich sind sie das, was die Branche dringend braucht: Buchkäuferinnen und -käufer.