Freitag, 12. Dezember 2025

# 493 - Und dann geht es doch: Wie man sein Ziel erreicht, obwohl das unmöglich erscheint

Wer sich ein bisschen für klassische Musik interessiert,
hat seinen Namen vielleicht schon mal gehört: Felix Klieser ist einer der weltbesten Hornisten, obwohl bei seiner Geburt nichts für diese außergewöhnliche Karriere gesprochen hatte.

Klieser kommt ohne Arme auf die Welt. Seine Eltern haben sich darum wahrscheinlich schon früh gefragt, welchen Weg ihr Sohn später einschlagen würde - und könnte. Mit seinem Wunsch, den er als Vierjähriger äußerte, haben sie wohl kaum gerechnet: In seinem Buch Stell dir vor, es geht nicht, und einer tut es doch erzählt er, dass er sich wünschte, Horn zu spielen. In seiner Familie spielte niemand ein Instrument, der kleine Felix hatte noch nie bewusst ein Horn gesehen. Wie dieser Wunsch entstanden ist, bleibt bis heute ein Rätsel.

Felix Klieser bleibt am Ball. Er stellt sich den Problemen, die sich beim Spielen des Instruments ergeben, und findet kreative Lösungen. Als Klieser fünfzehn Jahre alt und seit zwei Jahren Jungstudent an der Musikhochschule Hannover ist, entwickelt sich der Verlauf eines Interviews zu einem Tiefschlag. Eine Stiftung zeichnet ihn mit einem Preis aus, der seine Karriere unterstützen soll. Ein Reporter der örtlichen Tageszeitung bittet ihn und seinen Lehrer um ein Interview. Der Journalist fragt Klieser, ob er sich vorstellen kann, das Hornspielen zum Beruf zu machen. Noch bevor dieser antworten kann, greift sein Lehrer in den Dialog ein: "Felix ist ein toller junger Hornist. Doch mehr als ein Hobby wird bei ihm leider nicht möglich sein. Denn für gewöhnlich haben Hornisten ihre rechte Hand im Schalltrichter. Damit können Sie den Klang modifizieren. Da Felix ohne Hand im Schalltrichter spielt, wird er niemals so klingen, wie ein normaler Hornist. So wird er es professionell nie schaffen."

Das saß. Nie zuvor hatte der Lehrer mit seinem Schüler Felix über dieses technische Problem und seine Zukunftsaussichten gesprochen. Doch im Interview fand er nichts dabei, die musikalischen Grenzen des Fünfzehnjährigen in der Öffentlichkeit zu definieren und ihm eine Zukunft als Berufsmusiker abzusprechen. Der Lehrer soll sich irren: Felix Klieser stellt sich jedem Problem und findet als Autodidakt Lösungen. Er sieht immer nach vorn und sagt: "Manchmal bin ich überzeugt davon, dass diejenigen, die ihr Ziel erreichen, einfach nur nicht stehen bleiben. Egal, was passiert, sie laufen weiter." Disziplin und Beharrlichkeit zeichnen Klieser aus. Aber es gibt auch Tiefpunkte, an denen er kurz davor ist, das Hornspielen an den Nagel zu hängen und seinen Traum vom Profimusiker aufzugeben. Doch er entscheidet sich jedes Mal fürs Weitermachen.

Felix Kliesers Blick ist jedoch nicht nur auf seine Karriere als Musiker gerichtet. Er beschreibt auch, wie Mitmenschen auf eine Person mit einer sichtbaren Behinderung reagieren: Von der körperlichen Einschränkung wird oft auf eine geistige Minderung geschlossen. Der Weg zur Förderschule ist dann manchmal nicht mehr weit, der behinderte Mensch wird in eine Schublade gesteckt und aussortiert. Viele behinderte Menschen haben deshalb Selbstzweifel, die ein Leben lang anhalten können. Das blieb ihm erspart.

Felix Klieser ist heute auf der ganzen Welt als Musiker unterwegs und arbeitet mit renommierten Orchestern und Dirigenten zusammen. 2013 wurde der heute 34-Jährige mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet.

Lesen?

Felix Kliesers Buch ist nur auf den ersten Blick eine reine Autobiografie. Vielmehr zeigt er seinen Leserinnen und Lesern, dass es sich lohnt, seine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren und Hürden zu überwinden. Problemen kann er Positives abgewinnen: "Mit jedem Problem, das wir lösen, lernen wir. Machen positive Erfahrungen. Auf diese Weise verlieren wir Stück für Stück die Furcht vor ihnen." Die Botschaft: Du kannst alles schaffen.

In einem Punkt stimme ich ihm allerdings nicht zu: Klieser ist der Meinung, "die Hauptgründe dafür, nicht noch mal etwas Neues zu beginnen, liegen meist eher in der Sorge vor Verlust als in der Sorge, vielleicht nicht so viel zu gewinnen, wie man womöglich könnte." Aus meiner persönlichen Perspektive kann die Angst vor Neuem auch daher rühren, dass eine Entscheidung auch Folgen für andere wie zum Beispiel die eigenen Kinder hat.

Stell dir vor, es geht nicht, und einer tut es doch ist 2024 im Econ Verlag erschienen und kostet 22,99 Euro und als E-Book 18,99 Euro.

Freitag, 5. Dezember 2025

# 492 - Was tun, wenn der Ernstfall eintritt?

Ferdinand Gehringer und Johannes Steger sind
Sicherheitsexperten mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Gehringer ist sicherheitspolitischer Berater bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, Steger leitet beim "Tagesspiegel" die Redaktion des Background Cybersecurity. Der Titel ihres gemeinsamen Buches Deutschland im Ernstfall scheint sich in die lange Reihe der Sachbücher einzureihen, die seit der sich verschärfenden geopolitischen Lage auf den Markt gekommen sind. Bei vielen von ihnen möchte man sich instinktiv die Decke über den Kopf ziehen und denken: Macht euren Sch... doch allein. Aber diese Haltung bringt selbstverständlich niemanden weiter.

Solch eine fatalistische Stimmung vermittelt dieses Sachbuch nicht. Wie viele andere Politik- und Sicherheitsexperten gehen auch Gehringer und Steger nicht davon aus, dass sich der Ernstfall in Deutschland in erster Linie dadurch bemerkbar macht, dass uns Bomben auf die Häuser fallen. Sie legen ihren Fokus auf die sog. hybride Kriegsführung, die durch gezielte Sabotageakte darauf abzielt, unseren Alltag zu untergraben und die öffentliche Ordnung auszuhöhlen.

Die Autoren erläutern, welche Bedrohungen vor allem im Fokus der Bundeswehr und Sicherheitsbehörden sind und ständig beobachtet werden. Dazu gehören sowohl Desinformation als auch Cyberangriffe, das Ausspähen von kritischer Infrastruktur und Schlüsselindustrien sowie Sabotageakte. Der Fantasie sind hier fast keine Grenzen gesetzt. Die aktuellen Nachrichten legen nahe, dass das meiste davon längst stattfindet.

Aber sind Deutschland und Europa auf diese Bedrohungen eingerichtet? Dieser Frage gehen Ferdinand Gehringer und Johannes Steger nach, und was sie herausfinden, ist ambivalent. Der Gesetzgeber hat es in einigen Fällen bislang versäumt, bestehende Regelungen aus der Zeit des Kalten Krieges an die heutige Zeit anzupassen: Die Privatisierung der früheren Sondervermögen Bundespost und Bundesbahn, die Digitalisierung oder die hybriden Bedrohungen sind juristisch nicht oder nicht ausreichend umgesetzt worden. Viele der alten Gesetze gingen außerdem von der Annahme aus, dass Deutschland wegen der deutsch-deutschen Teilung ein Frontstaat ist und entsprechend verteidigt werden muss. 

Anhand von Szenarien erläutern Steger und Gehringer, was hinter den Begriffen "Spannungsfall",  "Verteidigungsfall", "Zustimmungsfall" und "Bündnisfall" steckt und welche Maßnahmen ergriffen werden, wenn einer von ihnen ausgerufen wird. Als Bürgerin und Bürger hat man eine eher nebulöse Vorstellung davon, was in so einer Situation passiert. Der Staat hat besondere Handlungsbefugnisse und greift auf Gesetze zurück, die bislang keine Rolle gespielt haben - und dann? 

Man erfährt, welche konkreten Gesetze zum Tragen kommen und welche Möglichkeiten das Parlament hat, das Land auf eine kritische Situation vorzubereiten.

Der Begriff, der sich durch das ganze Buch zieht, ist: Resilienz. Dabei geht es um den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, der sich zum Beispiel in einem starken ehrenamtlichen Engagement ausdrückt. Zitat: "Denn eine widerstandsfähige Demokratie lebt von einer informierten und handlungsfähigen Gesellschaft. Im Ernstfall entscheidet sich die Resilienz eines Landes nicht nur in den politischen und militärischen Lagezentren, sondern im Alltag seiner Bürgerinnen und Bürger: in der Funktionsfähigkeit von Zivilschutz und Notfallversorgung, im Zugang zu verlässlichen Informationen, im Vertrauen in staatliches Handeln - und in der psychologischen Widerstandskraft der Menschen."

Lesen?

Deutschland im Ernstfall stellt die Fragen, denen die Politik zu oft ausweicht: Wie würde sich der Ernstfall auf staatliches Handeln auswirken? Wie auf die Demokratie? Wie auf unseren Alltag? Die Antworten darauf sind zum Teil unpopulär, geeignete vorbeugende Maßnahmen kosten viel Geld. Beides lädt politische Entscheider nicht unbedingt zur Offenheit ein - obwohl das nötig wäre.

Deutschland im Ernstfall ist keine Panikmache und keine Anleitung für Prepper. Mit dem Buch möchten die Autoren darüber aufklären, was im Ernstfall passiert und wie wir selbst etwas beitragen können, um die Situation so gut wie möglich zu bewältigen. Das ist ihnen gelungen. 

Deutschland im Ernstfall ist 2025 bei Hoffmann & Campe erschienen. Das Buch kostet als Paperback 18 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

Samstag, 8. November 2025

# 491 - Wie man in unangenehmen Situationen reagieren kann

Wir kennen das alle: Da zwingt uns jemand ein Gespräch auf und wir haben keine Ahnung, wie wir möglichst elegant aus der Situation herauskommen; eine Person verhält sich uns gegenüber respektlos, aber uns fehlen die passenden Worte, mit denen wir uns wirkungsvoll abgrenzen können, ohne dass die Situation eskaliert; wir möchten, dass die Abläufe im Job gut funktionieren, was dazu führt, dass uns auch Arbeiten zugeschoben werden, die nicht zu unserem Aufgabenbereich gehören.

Karin Kuschik ist Coach und hat selbst oder über ihre Kunden zahlreiche Situationen erlebt, die so oder so ähnlich waren. Ihre 50 Sätze, die das Leben leichter machen sind vielfältig anwendbar und können variiert werden. Es gibt einige davon, die ich mir im Hinterkopf zurechtlegen und bei Bedarf anwenden werde. Ein Beispiel: Karin Kuschik beschreibt eine Verabredung mit einer Kollegin. Die Aufgaben müssen erledigt werden, deshalb wird vorab "open end" vereinbart. Doch während die beiden Frauen zusammensitzen, brummt ständig das Smartphone der Kollegin: Der Freund erwartet sie zum Abendessen, doch sie drückt seine Anrufe weg. Die Kollegin empfindet die ständigen kurzen Unterbrechungen nicht als störend, aber Kuschik tut es.

Haltet kurz inne. Kennen wir das nicht? Wir ärgern uns über das Verhalten anderer Menschen, weil z. B. Absprachen nicht eingehalten werden. Wie oft haben wir die Situation trotz des Ärgers hingenommen, um die gute Atmosphäre nicht zu gefährden? Dieselbe Atmosphäre, die ja für uns gar nicht mehr gut ist. Wir haben es oft getan, weil es für unser Gegenüber Gründe gegeben haben mag, sich nicht an unsere Absprache zu halten. Gründe, die aber nicht vorher besprochen wurden. Ich habe beim Lesen dieser Szene unwillkürlich genickt.

Karin Kuschiks Satz für eine Situation wie diese: "Ich verstehe dich absolut, und es gefällt mir nicht." An die Stelle, an der wir wahrscheinlich "aber" gesagt hätten, stellt die Autorin das "und". "Aber" beinhaltet Ablehnung und signalisiert, die Haltung der oder des Anderen nicht zu akzeptieren. Aber Kuschik erklärt die Wirkungsweise eines "und" so:
Und beendet tatsächlich Auseinandersetzungen, denn es bewertet die Botschaften, die links und rechts stehen, nicht. Beide Seiten sind gleichwertig. Und macht Aussagen nicht kaputt, es bewahrt sie und drückt auch immer eine Haltung aus.

Klar in der Aussage zu sein und eine Haltung auszudrücken zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Das fällt nicht immer leicht, doch im Kern gebe ich Karin Kuschik recht. 

Lesen?

50 Sätze, die das Leben leichter machen gibt wertvolle Ansätze, sich lange eingeübte Reflexe abzugewöhnen und das häufig manipulative Verhalten seiner Mitmenschen zu erkennen sowie darauf souverän und angemessen zu reagieren. Man merkt den Beispielen allerdings an, dass sich Karin Kuschik in sozialen Kreisen bewegt, die vielen von uns verschlossen sind. Nicht jeder ihrer Sätze eignet sich für Alltagssituationen der Durchschnittsbürgerinnen und -bürger. Auch hier ein Beispiel: Da schreit Sie jemand an, und anstatt aus einem Impuls heraus auf den vermeintlichen Angriff zu reagieren, entscheiden Sie jetzt, die Sache lieber umzudeuten, was dann als innerer Monolog vielleicht so klingt: Aha. Interessantes Angebot. Will ich darauf eingehen? Nö, gerade lieber nicht. Ist mir viel zu anstrengend. Und dann nach außen, mit einem Lächeln: "Na dann, gute Besserung!" Ich habe mir beim Lesen des Buches hin und wieder neben einige Passagen etwas notiert. Neben dieser stand: "Prima, um ein paar in die Fr... zu kriegen."

50 Sätze, die das Leben leichter machen ist 2022 als Taschenbuch im Rowohlt-Verlag erschienen und kostet 15 Euro. Die gebundene Ausgabe ist aus dem Jahr 2023 und kostet 25 Euro, das E-Book 9,99 Euro.


Mittwoch, 15. Oktober 2025

# 490 - Der große UFA-Bluff - Überleben im 3. Reich

Mit seinem Roman Der große Ufa-Bluff greift Anton Leiss-Huber eine historische Begebenheit auf, die sich 1945 kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ereignet hat, aber bislang ziemlich unbekannt war.

Die Nationalsozialisten versuchen dem Volk (und wahrscheinlich auch sich selbst) vorzugaukeln, dass der Endsieg nah ist. Doch nicht nur Durchhalteparolen sollen die Stimmung aufhellen, sondern auch Kinofilme. Die erfolgreichen und beliebten Ufa-Schauspielerinnen und -Schauspieler werden hofiert, solange sie dem Regime nützlich sind. Aber mittlerweile gehen den Nazis die Soldaten aus, und so müssen auch die Ufa-Darsteller befürchten, dass man sie zum Volkssturm schickt. Da schmiedet der Produktionsleiter Eberhard Schmidt einen Plan: Gemeinsam mit einer Schauspiel-Crew sowie Erich Kästner und dessen Freundin setzt er sich von Berlin in das Tiroler Dorf Mayrhofen ab. Dort ist es sicherer als in der Hauptstadt. 

Das Team gibt vor, einen kriegswichtigen Film zu drehen - was mangels Material gar nicht möglich ist. Aber der Schein muss sowohl gegenüber den Dorfbewohnern als auch dem Regime aufrechterhalten werden. Das ist nicht so leicht, weil die Neuankömmlinge auf Bauernhöfen untergebracht werden und sich nun mit den Einheimischen die ohnehin zu wenigen Lebensmittel teilen müssen. Die Mayrhofener sind ohnehin nicht gut auf Berlin zu sprechen und beobachten die neuen Mitbürger mit Argwohn.

Nachdem die Finte einige Zeit funktioniert hat, bahnt sich eine Komplikation an: Der Ortsgruppenleiter möchte sich mit ein paar Gästen ansehen, was bislang gedreht wurde. Jetzt ist jede Menge Kreativität gefragt, um die Täuschung aufrecht zu erhalten und die Zeit bis zum hoffentlich bevorstehenden Kriegsende zu überbrücken.

Lesen?

Anton Leiss-Huber verbindet gekonnt historische Tatsachen mit Fiktion und würzt die Handlung mit Spannung und einer Liebesgeschichte. Der große Ufa-Bluff ist jedoch keine triviale Geschichte, sondern erzählt auch von den existenziellen Ängsten und Nöten aller Beteiligten. 

Anton Leiss-Huber hat die Vorgänge in Mayrhofen genau recherchiert. Die ausführlichste Quelle waren die Aufzeichnungen von Erich Kästner, die unter dem Titel Notabene 45 veröffentlicht wurden. Eines ist klar: Angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten, die die Film-Crew bewältigen musste, dürften damals einigen die Schweißperlen auf der Stirn gestanden haben.

Der große Ufa-Bluff ist am 9. Mai 2025 im Gmeiner-Verlag erschienen, einen Tag nach dem 80. Jahrestag der Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus.
Der Roman kostet 18 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.

Mittwoch, 8. Oktober 2025

# 489 - Eine Frau kämpft im Bürgerkrieg um ihr (Über-)Leben

Isabel Allende ist mit ihrem neuesten Roman Mein
Name ist Emilia del Valle
 einem roten Faden treu geblieben, der sich durch die meisten ihrer Bücher zieht: Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die unter schwierigen Umständen aufwächst und sich eines Tages vornimmt, ihren biologischen Vater, der ihre Mutter nach einer kurzen Affäre verlassen hat, zu suchen. Es ist nicht einfach, dieses Ziel zu erreichen: Emilia wird 1866 als Tochter einer irischstämmigen Nonne geboren und wächst im armen Teil von San Francisco auf. Ihr Vater ist ein chilenischer Adeliger, von dem sie nichts außer seinem Nachnamen weiß: del Valle.

Emilia findet schon als junge Frau Gefallen am Schreiben. Sie beginnt als 17-Jährige mit Groschenromanen und wird mit 23 bei der örtlichen Tageszeitung angestellt - obwohl sie eine Frau ist. Aber sowohl die Heftchen als auch die Zeitungsreportagen werden unter ihrem männlichen Pseudonym veröffentlicht. 

Doch dann verdichten sich in Chile 1891 die Anzeichen für einen Bürgerkrieg. Emilia ergreift die Gelegenheit und bittet ihren Vorgesetzten, für die Zeitung vor Ort recherchieren zu dürfen. Gemeinsam mit einem befreundeten Kollegen macht sie sich auf den Weg nach Südamerika.

Bis zu diesem Zeitpunkt zeichnet Allende ihre Hauptfigur als freiheitsliebende junge Frau, die entgegen der damaligen Moralvorstellungen auch nicht davor zurückschreckt, sexuelle Erfahrungen zu sammeln, ohne verheiratet zu sein. Sie ist strukturiert und geht zielstrebig vor, um ihre Vorstellungen durchzusetzen.

In Chile angekommen, lernt Emilia die Grausamkeit des Bürgerkriegs kennen, aber auch den Zusammenhalt und Schutz durch eine Frauengruppe, die die Kämpfer auf dem Schlachtfeld versorgt. Ihr Beruf als Journalistin öffnet ihr Türen, die ihr als Ausländerin normalerweise verschlossen geblieben wären.

Leider beginnt diese Zielstrebigkeit zu bröckeln, als Emilia ihren Vater findet. Er ist dem Tod nah, erkennt sie aber als seine Tochter an. So erbt sie ein entlegenes Grundstück im Regenwald, mitten in den Jagdgründen der Mapuche. Die Entscheidung, die sie nun trifft, ist fern von jeder rationalen Überlegung und lässt sich auch emotional nur schwer herleiten. Doch ihr Kollege, der in Chile von einem Begleiter zu ihrem Partner geworden ist, hält an der Beziehung fest. 

Lesen?

Isabel Allendes in ihren Werken immer wiederkehrendes Thema Feminismus und ihre Auseinandersetzung mit ihrer Heimat Chile prägen auch Mein Name ist Emilia del Valle. Und wie gewohnt fließen auch eigene Erfahrungen der Autorin in die Handlung ein. Ein Hauch Erotik darf auch diesmal nicht fehlen, aber die entsprechenden Szenen wirken mehr kitschig als leidenschaftlich.

Insgesamt ist Mein Name ist Emilia del Valle ein gutes Buch, es reicht aber nicht an andere Romane von Isabel Allende heran.

Mein Name ist Emilia del Valle ist 2025 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro sowie als E-Book 23,99 Euro.

Dienstag, 23. September 2025

# 488 - Liebe und Kulturschock - eine anstrengende Mischung

T. C. Boyle verfolgt in seinem neuen Roman No Way
Home
die Spuren einer Liebe, die nicht nur für die beiden hauptsächlich Beteiligten, sondern auch für eine dritte Person anstrengend ist.

Terry ist 31 Jahre alt, Arzt in einem Krankenhaus in L. A. und arbeitet auf die Zulassung als Internist hin. Jeden Tag wird er in der Klinik mit den Folgen von Gewalt und Verwahrlosung konfrontiert. Eines Tages erfährt er, dass seine Mutter verstorben ist. Sie hinterlässt ihm ein Haus in der Wüstenstadt Boulder City und die Hündin Daisy. Terrys Mutter lebte seit einigen Jahren in der Kleinstadt in der Nähe von Las Vegas, Terry kennt den Ort nur von seinen seltenen Besuchen. Nun muss er sich jedoch dort um die Formalitäten kümmern und entscheiden, was aus Haus und Hund werden soll.

Terry lernt dort zufällig die gutaussehende Bethany kennen, die sich von ihrem Freund Jesse getrennt hat und aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist. Zwischen Terry und Bethany gibt es sofort eine Anziehung, die nach einer gemeinsamen Nacht darin mündet, dass die junge Frau hinter Terrys Rücken in das leerstehende Haus seiner Mutter einzieht. Terry schafft es nicht, Bethany vor die Tür zu setzen, denn das Arrangement hat auch für ihn Vorteile. Ab sofort pendelt er an den Wochenenden zwischen Los Angeles und Boulder City, eine Strecke von immerhin mehr als 450 Kilometern.

Was genau Bethany für den jungen Arzt empfindet, bleibt unklar. Für sie ist er auf jeden Fall "eine gute Partie" mit einer hoffnungsvollen Zukunft - in Boulder City, wenn es nach ihr geht. Aber Terry empfindet in der Wüstenstadt einen Kulturschock und erlebt ein Amerika, das ihm bislang fremd war: die Leute haben konservative Ansichten, reichlich Machos und Lebensentwürfe, in denen er sich nicht wiederfindet. Er erlebt, was mit dem Wort "Sozialkontrolle" gemeint ist.

Und dann ist da noch Jesse, Bethanys Ex-Freund. Der Lehrer entwickelt sich zum Stalker und verletzt Terry so schwer, dass dieser seine Facharztausbildung unterbrechen muss. Bethany kümmert sich um Terry, aber die Pflege, die Verantwortung für den Hund und die Erwartungen, die Terry an sie stellt, überfordern sie schnell. Zuverlässigkeit und Disziplin sind nicht unbedingt ihr Ding. Jesse ist charakterlich einfach gestrickt, für ihn zählen männlich-dominante Typen. Er hat seine Eifersucht immer weniger im Griff und verstößt sogar gegen richterliche Auflagen.

Letztlich bleibt wegen ihres ambivalenten Verhaltens unklar, zu wem sich Bethany tatsächlich hingezogen fühlt und ob das, was die beiden jungen Männer für Liebe halten nicht eher der Wunsch nach einer Inbesitznahme ist.

Lesen?

T. C. Boyle hat sich in vielen seiner Bücher mit Klima- und Umweltthemen beschäftigt. In No Way Home werden sie zwar nicht völlig vernachlässigt, aber nur am Rande benannt. Da ist beispielsweise vom stetig sinkenden Wasserspiegel des durch den Hoover-Damm aufgestauten Lake Mead die Rede sowie der Hoffnung, dass es in den Bergen einen schneereichen Winter gibt, damit das Schmelzwasser im Frühling den See speist. Doch der Lake Mead, an dessen Ufer sich Boulder City befindet, hat nicht nur mit dem Wasserverlust, sondern auch mit einer zu starken Wassererwärmung und dadurch übermäßigen Algenausbreitung zu kämpfen.
Etwas rätselhaft bleibt, warum Boyle an dieser Stelle den Tod eines Jungen erwähnt, der sich nach dem Baden in einem nicht benannten amerikanischen Gewässer mit der sog. hirnfressenden Amöbe Naegleria fowleri infiziert hatte. Dieser von Bethany erwähnte Fall bleibt ein loses Ende - ebenso wie der Schluss des Romans. Und es bleibt die Frage: Ist es besser, sich in einer problematischen Beziehung zu arrangieren oder allein zu sein? Um eine befriedigende Antwort zu geben, wurden die Hauptfiguren allerdings nicht klar genug herausgearbeitet.

No Way Home ist im September 2025 im Hanser Verlag erschienen. Die englische Originalausgabe wird im April 2026 veröffentlicht, ebenfalls im Hanser Verlag. Die deutsche Fassung kostet als gebundenes Buch 28 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.



Donnerstag, 4. September 2025

# 487 - Elefanten in Berlin lösen eine Regierungskrise aus

Gaea Schoeters greift in ihrem neuesten Roman Das
Geschenk
 eine politische Begebenheit aus den Jahren 2023 und 2024 auf: Mehrere europäische Staaten, darunter auch Deutschland, sprachen sich dafür aus, das EU-Recht hinsichtlich des Imports von Jagdtrophäen zu verschärfen. Die Einfuhr von beispielsweise Elfenbein sollte nach Ansicht des Bundesumweltministeriums „insgesamt reduziert und im Einzelfall ganz verboten“ werden. 
Botswanas Präsident 
Mokgweetsi Masisi war darüber verärgert, er und andere afrikanische Staatschefs werteten diesen Vorschlag als neokoloniale Einmischung. Im Scherz drohte Masisi, 20.000 Elefanten nach Deutschland zu schicken.

Schoeters hat den Faden weitergesponnen und in ihrem Buch tatsächlich den botswanischen Präsidenten Elefanten nach Berlin schicken lassen. Eines Tages werden einige von ihnen im Morgennebel am Spreeufer gesehen, nach und nach tauchen im ganzen Stadtgebiet immer mehr auf. Zum Schluss werden 20.000 Tiere gezählt. Sie trampeln nieder, was ihnen vor ihre Füße kommt, brauchen riesige Mengen Futter und hinterlassen wahre Kotberge. Außer, dass die riesigen Kotfladen stinken, haben sie noch eine andere Wirkung: In ihnen sind unverdaute Samen aus der afrikanischen Heimat der Elefanten, die die Pflanzenwelt der Hauptstadt verändern. Das bezieht auch hohe Gebäude ein, die schon nach bis dahin elf vergangenen Wochen in einen grünen Mantel eingewoben sind. Geht das wirklich so schnell? Die Antwort: nein.

Die Elefanten-Armada hat aber nicht nur eine ökologische Dimension, sondern wirft auch finanziell, sicherheitstechnisch und politisch reichlich Probleme auf. Bundeskanzler Hans Christian Winkler wird von der Gesamtsituation kalt erwischt. Er muss diese Krise unbedingt bewältigen, denn die nächsten Wahlen stehen an und er will sein Amt gegen den Rechtsaußen-Politiker Holger Fuchs verteidigen. Während ein Krisenstab eingerichtet wird und man Zuständigkeiten hin und her schiebt, verschärft sich die Situation.

Die Elefanten werden von der Bevölkerung zu Beginn ihres Auftauchens als Ereignis angesehen, aber hundert Tage später lehnen sich ganze Berufsgruppen von den Landwirten bis zu den Müllwerkern gegen ihre Anwesenheit auf. Der Kanzler steht als Versager da, sein Kontrahent Fuchs gewinnt in Wählerumfragen an Boden. Der Satz "Wir schaffen das!", fällt auch hier, damit auch die und der Letzte die Parallelen sieht. Wer kann da helfen? Winkler wendet sich an Ex-Kanzlerin Erika Fuchs, die einen Rat parat hat.

Doch kaum, dass sich eine Lösung anbahnt, ergeben sich neue Probleme: Wie kann verhindert werden, dass sich die Elefantenpopulation vergrößert?

Das Ende des Romans erinnert stark an Vorschläge, was mit illegal eingereisten Menschen, die nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, passieren sollte. 

Lesen?

Vor etwa einem Jahr habe ich hier Trophäe vorgestellt, das erste Buch von Gaea Schoeters, das auf Deutsch übersetzt wurde. Nicht nur ich war von diesem Roman begeistert, der inhaltlich und sprachlich überzeugte. Inhaltlich knüpft Das Geschenk daran an, wenn auch weniger überzeugend.

Die amüsante Grundidee, dass sich ein afrikanischer Regierungschef mit dem Verschicken von Wildtieren für eine politische Entscheidung rächen könnte, wird schon ab dem Zeitpunkt unglaubwürdig, in dem völlig unklar ist, wie die Tiere nach Berlin gekommen sind. Doch offensichtlich geht es Schoeters nicht um Elefanten und Artenschutz. Im Verlauf der Handlung wird immer klarer, dass die Elefanten metaphorisch für illegal eingereiste Flüchtlinge stehen, die nun insbesondere von Holger Fuchs für politische Propaganda herhalten müssen: "Und so muss der durchschnittliche, hart arbeitende Deutsche für den Schaden geradestehen, für den invasive afrikanische Arten als Folge irgendeines woken Gesetzes verantwortlich sind." Die Situation ist "der perfekte Nährboden für eine Partei, die nur Phrasen drischt und von der Unzufriedenheit der Bürger lebt. Dass ihre Lösung [...] nicht umsetzbar ist, ist egal; sie können das einfach rausposaunen, ohne es je umsetzen zu müssen."

Die Handlung des Romans erstreckt sich über 435 Tage, wobei Schoeters in großen Zeitsprüngen erzählt. Auf weniger als 150 Seiten reißt sie Themen wie Natur- und Artenschutz, Landwirtschaft, Integration, Klimakrise, Postkolonialismus, die Fallstricke des Politikbetriebs, Wirtschaft, ... - habe ich etwas vergessen? - an, vertieft jedoch nichts davon. Am Ende des Buches bleibt die Frage: Wollte Gaea Schoeters ihre Leserinnen und Leser amüsant unterhalten oder sie zum Nachdenken bringen? 
Von den Geschlechterklischees habe ich da noch gar nicht angefangen. 

Das Geschenk ist 2025 im Zsolnay Verlag erschienen (Übersetzung: Lisa Mensing) und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.



Montag, 25. August 2025

# 486 - VW, China und eine Familiengeschichte

Wer kennt Wenpo Lee? Vermutlich nur wenige Menschen; und das, obwohl Herr Lee für den Volkswagen-Konzern buchstäblich der Türöffner für den Einstieg ins China-Geschäft war und eine beeindruckende Lebensgeschichte hat. Der Journalist Felix Lee hat sich mit seinem Buch China, mein Vater und ich der Lebensgeschichte seines Vaters gewidmet, die eng mit Deutschland und dem Volkswagen-Konzern verknüpft ist.

Wenpo Lee wurde 1936 in Nanjing, der damaligen Hauptstadt Chinas, geboren. Seit dem Sturz der Qing-Dynastie - und damit der Beendigung der 2.000-jährigen Herrschaft chinesischer Kaiser über China -  im Oktober 1911 und der Ausrufung der Republik drei Monate später befand sich das Land im Aufruhr. Die unruhige und instabile Situation mündete 1927 in den bis 1949 dauernden Chinesischen Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der Kommunisten über die nationalistische Partei Kuomintang und der Gründung der Volksrepublik China endete. Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong die Chinesische Volksrepublik.

Das ist ein stark verkürzter geschichtlicher Abriss, der die Not, in der sich die Bevölkerung während dieser jahrzehntelangen Machtkämpfe befand, nicht annähernd beschreiben kann. Die Armut der Menschen war so groß, dass jeder um sein eigenes Überleben kämpfte. 

Die Familie Lee lebte vom Getreidehandel. Als die Soldaten der Kommunistischen Partei 1948 auf Nanjing zumarschierten, war Wenpo Lees Vater klar, dass sein Geschäft unter deren Herrschaft am Ende war. Wenpo floh als 12-Jähriger mit zwei Schwestern und einem Schwager nach Taiwan. Doch seine Hoffnung, seine Familie bald wiederzusehen, erfüllte sich fast dreißig Jahre lang nicht: Mao Zedong schirmte Festland-China völlig von der Außenwelt ab. Die geflüchteten Chinesen und Chinesinnen galten als Klassenfeinde, der Kontakt zu ihnen war verboten.

Wenpo arbeitete in Taiwan in einem Fahrradgeschäft und lernte dort die Grundlagen der Mechanik. Einer Fachhochschuldozentin fiel dort die besondere Begabung des Jungen auf. Sie nahm ihn bei sich auf und bezahlte seinen Schulbesuch. Danach besuchte Wenpo erfolgreich eine Fachhochschule und eine Militärhochschule, an der er Fahrzeugtechnik studierte. Sein nächster Schritt war wieder einem glücklichen Umstand zu verdanken: Einer der dortigen Professoren hatte in Deutschland Motorentechnik studiert und riet Wenpo, das ebenfalls zu tun. Der junge Mann folgte dem Rat 1962, studierte in Aachen Maschinenbau und promovierte. Er bewarb sich erfolgreich auf eine Stelle als Ingenieur bei Volkswagen in Wolfsburg, heiratete eine Chinesin und wurde nicht viel später zum ersten Mal Vater. 

1972, nachdem Mao Zedong zu einer Rückkehr zur Normalität aufgerufen hatte, wagte es Wenpo, seinem Vater einen Brief zu schreiben. Das war die erste Kontaktaufnahme mit der Familie auf Festland-China seit 24 Jahren. Es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, bis Wenpo Lee seine Heimatstadt Nanjing wiedersah. Zwei Jahre zuvor war sein zweiter Sohn Felix geboren worden.

Lesen?

Felix Lee hat mit China, mein Vater und ich ein spannendes Buch geschrieben, in dem er anschaulich die Entwicklung Chinas von einem bitterarmen und unbedeutenden Land zu einem machtbewussten und wirtschaftlich stark prosperierenden Staat beschreibt, der einen großen Einfluss auf die Weltpolitik ausübt.

Und inwiefern war Wenpo Lee für VW ein Türöffner ins China-Geschäft? Das ist eine Anekdote, die Felix Lee gleich im ersten Kapitel beschreibt. 1978, als sein Vater dort eine Forschungsabteilung zur Entwicklung sparsamer Motoren leitete, standen einige Chinesen unangemeldet am Werkstor. Niemand wusste, was sie wollten. Einer von ihnen bezeichnete sich selbst als den chinesischen Maschinenbaumeister. Man bat ihn, den einzigen Chinesen im Werk, zu dolmetschen. Die Familie Lee war völlig in Deutschland integriert. Ihr Leben unterschied sich in nichts von dem deutscher Familien. Wenpo Lee hatte sich lange Zeit nicht mehr für die chinesische Politik interessiert und starke Zweifel, dass es sich bei der Gruppe am Werkstor tatsächlich um Chinesen handeln könnte. Für Deutsche sahen Asiaten schließlich alle gleich aus. Doch er sollte sich irren: Die Delegation wurde vom chinesischen Minister für Land- und Industriemaschinen angeführt und interessierte sich für Nutzfahrzeuge. Dieser Tag markiert den Grundstein für das Engagement von Volkswagen in China, das ohne Wenpo Lees Vermittlung so nicht oder erst später zustande gekommen wäre.

Wenpo Lee starb vor wenigen Wochen im Alter von 89 Jahren in Wiesbanden.

China, mein Vater und ich ist 2023 im Aufbau Verlag erschienen. Mir lag die Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2024 vor, die 5,-- Euro kostet.

Felix Lee gewann 2023 mit seinem Buch den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis.

Dienstag, 12. August 2025

# 485 - Tod, Liebe - Mallorca

Es fällt fast gar nicht auf, dass ich ein Fan von 
Mallorca bin. In meiner Bücherkiste habe ich bislang fünf Titel vorgestellt, die mit der Baleareninsel in Verbindung stehen (siehe unten). Klar, dass ich Das Teufelshorn von Anna Nicholas lesen musste. Nicholas ist Britin, lebt aber schon viele Jahre auf Mallorca.

Dort hat sie nun den ersten Band ihrer Cosy-Crime-Reihe um die ehemalige Polizistin Isabel Flores Montserrat angesiedelt. Isabel ist Anfang 30, Single, in ihrem fiktiven Heimatdorf Sant Martí beliebt und hat vor zwei Jahren den Polizeidienst in Palma gegen die Arbeit in der Vermittlungsagentur für Ferienwohnungen ihrer Mutter getauscht. Dort wird sie von Pep, dem Bruder ihrer besten Freundin, unterstützt. Seitdem Isabel sich um die Agentur kümmert, hat diese sich zu einem lukrativen Unternehmen entwickelt. Insgeheim trauert sie der Polizeiarbeit jedoch ein bisschen nach.

Doch dann passiert am Montag, dem 20. August um 14 Uhr etwas Schreckliches: Die achtjährige Britin Miranda Walters verschwindet unbemerkt am Strand von Pollença, als ihre Mutter einen kurzen Moment abgelenkt ist. Es gibt keine Anhaltspunkte, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handeln könnte. Aber die Lokalpolitik ist sich einig: Der Fall muss so rasch wie möglich aufgeklärt werden, um schlechte Presse zu vermeiden. Isabels Ex-Chef in Palma, Hauptkommissar Tolo Calbot, bittet seine frühere Kollegin noch am selben Tag um ihre Hilfe.

Die Suche nach dem Kind sollte alle Alarmglocken schrillen lassen, aber wie so oft zieht ein Verbrechen ein weiteres nach sich. Mindestens. So ist es auch diesmal: Ein alter Mann, der gemeinsam mit seiner Haushälterin in seiner Finca lebt, wird grausam ermordet aufgefunden. Die ebenfalls betagte Angestellte wurde von den Tätern an einen Stuhl gefesselt. Beide stammen ursprünglich aus Kolumbien. Der Senior ist dem örtlichen Pater wegen seiner Frömmigkeit bekannt, auch die Haushälterin ist eine eifrige Kirchgängerin. Ansonsten lebten die beiden alten Leute sozial isoliert. Wer hatte einen Grund, diesen Mord zu verüben? Auch für diesen Fall wird Isabel von der Polizei um Unterstützung gebeten.

Und dann ist da noch das mysteriöse Kokain in einer Meereshöhle, das vermutlich von Drogenschmugglern dort versteckt wurde. 
Als ob das nicht reichen würde, kommt noch eine dem Okkultismus anhängende Bruderschaft hinzu, die vor langer Zeit vom Drogenbaron Pablo Escobar gegründet wurde. Hier kommt der Buchtitel ins Spiel: Das Geheimzeichen dieser Bruderschaft ist ein Teufelshorn gewesen.

Lesen?

Das Teufelshorn ist genau das Richtige für einen entspannten Sommertag auf Mallorca oder anderswo. Der Roman ist leichte Lektüre, die man genießen kann, wenn man die Dinge nicht so eng sieht. Ich finde allerdings, dass der Respekt vor den Leserinnen und Lesern beinhaltet, ihnen keine falschen Informationen anzubieten. Einige Beispiele, über die ich in diesem Buch gestolpert bin: 

Wer Mallorca kennt, weiß, dass Pollença keinen Strand hat, sondern man nach Port de Pollença fahren muss, um das Meer zu genießen. 
Nicholas beschreibt das Innere einer Höhle im Westen Mallorcas, in der Jahre zuvor die Knochen von Tausenden von Höhlenziegen gefunden worden waren. In diesem Zusammenhang spricht sie von einem "Elfenbeinberg", der ein Geschenk für Paläontologen war. Als Elfenbein werden die Stoßzähne von Elefanten oder Mammuts, manchmal auch die Eck- oder Stoßzähne einiger Säugetiere wie zum Beispiel Pott- oder Narwale bezeichnet. Kein Teil einer Ziege ist als Elfenbein bekannt.
Die toxikologische Untersuchung des ermordeten alten Mannes ergibt, dass er mit einer Substanz vergiftet wurde, "die als Burundanga bekannt ist. Das Pulver wird aus einem Nachtschattengewächs hergestellt, das in Kolumbien verbreitet ist. Wohlgemerkt, es wächst auch hier auf Mallorca." Doch diese Nachricht des Rechtsmediziners überrascht Isabel nicht: "Ich kenne Burundanga. [...] Enthält Scopolamin." Das geht knapp an den Tatsachen vorbei: Burundanga ist die in kriminellen Kreisen verwendete Bezeichnung für Scopolamin. Scopolamin ist Burundanga und nicht ein Teil davon. Für seine Herstellung kommen viele Nachtschattengewächse infrage und nicht nur eines. Einige davon (z. B. Engelstrompete, Stechapfel, Bilsenkraut) gibt es auf Mallorca, aber auch in den meisten anderen Teilen der Erde. 
Diese und weitere Ungenauigkeiten können als dramaturgische Kniffe bewertet werden, haben mich allerdings gestört. 

Irritierend ist auch Isabels Cleverness als Alleinstellungsmerkmal unter allen mit den Fällen befassten Personen. Sie lässt ihre früheren Kontakte spielen (hat ihr Ex-Chef keine?), hat immer den richtigen Riecher und ist einfach unverzichtbar. Man will nicht wissen, wie die mallorquinischen Polizeibehörden zurechtkommen, wenn sich Isabel eines Tages entschließt, sich nur noch um die Agentur zu kümmern. 

Die Handlung ist abseits des kriminellen Anteils in eine Atmosphäre voller Harmonie und Zuneigung eingebettet. Außer von den Bösen fällt keine hässliche Bemerkung, niemand ist ungeduldig. Die Beschreibung von Mallorcas Schönheit vervollständigt die Idylle. Zum Schluss warten noch ein Liebes-Cliffhanger und die Auflösung des Rätsels um das Verschwinden von Isabels Onkel auf die Leserinnen und Leser des zweiten Bands.

Das Teufelshorn ist 2025 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 18 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

Nachtrag
Wie oben angekündigt zeige ich euch, welche Bücher über Mallorca sich außerdem in meiner Bücherkiste tummeln:

Freitag, 8. August 2025

# 484 - Abschied: Ein Zeitzeugnis und eine unerfüllte Liebe

Der 1999 verstorbene Sebastian Haffner wurde als
Journalist und Autor von zeitgeschichtlichen Büchern wie Anmerkungen zu Hitler oder Von Bismarck zu Hitler bekannt. Auf Anraten seines Vaters stellte er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, zurück, und studierte Jura. Erst jetzt, fast einhundert Jahre nach dessen Fertigstellung, erscheint Haffners Roman Abschied.
 

Haffner, der unter dem Namen Raimund Pretzel geboren wurde, schildert seine Liebe zu Teddy während seiner Zeit als Rechtsreferendar am Amtsgericht Rheinsberg. Mit Teddy ist Gertrude Joseph gemeint, die als Jüdin bereits 1930 angesichts des in Deutschland erstarkenden Nationalsozialismus' nach Paris emigrierte und dort studierte. Teddy umgab sich mit interessanten Personen und war für Haffner die Verkörperung von Lebenslust und Unabhängigkeit. Die beiden fühlten sich zueinander hingezogen, wurden aber nie das, was man als Liebespaar bezeichnen würde. Abschied spielt 1930 zwischen Rheinsberg und Berlin sowie 1931 in einer Pension in Paris, in die sich Haffner für seinen Besuch bei Teddy eingemietet hat. Dort wohnt die junge Frau ebenfalls, und der verliebte Referendar erlebt, wie seine Angebetete ihre Zeit verbringt - und mit wem. 

Haffners Beziehung mit Teddy ist ein Wechselspiel zwischen Anziehung und Abstoßung. Man spürt beim Lesen, wie sehr sein Herz an ihr hängt und ahnt früh die Melancholie des Abschieds, die sich auf dem Bahnsteig des Gare du Nord einstellt. Das letzte Gespräch der beiden bleibt im Ungefähren, es werden keine Zusagen oder gar Liebesschwüre ausgetauscht, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft machen könnten.

Lesen?

Raimund Pretzel emigrierte 1938 nach Großbritannien, nachdem er im nationalsozialistischen Deutschland weder persönlich noch politisch eine Zukunft sah. Da er sich in Deutschland in einem liberalen Umfeld bewegte, befürchtete er Repressalien. In Großbritannien arbeitete er als Journalist und nahm den Namen Sebastian Haffner an, um insbesondere seine Eltern zu schützen. 

Haffner hat Abschied innerhalb weniger Wochen zwischen dem 18. Oktober und dem 23. November 1932 geschrieben. Sein Roman ist in einem gerade für die damalige Zeit gelösten und beschwingten Stil verfasst. Die Sprache macht jedoch deutlich, wie viel Zeit über das Buch hinweggegangen ist: Haffner verwendet häufig veraltet wirkende Begriffe oder Formulierungen, die heute in einem anderen Kontext stehen. So beschreibt er beispielsweise den Inhalt seines überquellenden Reisekoffers mit dem Satz: "In meinem Koffer ging es zu wie in einem Konzentrationslager oder in einem Flüchtlingszug." Das erste NS-Konzentrationslager (Dachau) gab es allerdings erst 1933. Der Begriff war jedoch seit dem 19. Jahrhundert in Zusammenhang mit den kubanischen Unabhängigkeitskriegen (1868-1898) und dem Burenkrieg (1899-1902) in der Welt.

Die Familie von Sebastian Haffner, insbesondere sein Sohn Oliver Pretzel, haben die Veröffentlichung von Abschied ermöglicht. Eine gute Entscheidung.

Abschied wurde 2025 im Carl Hanser Verlag veröffentlicht und kostet 24 Euro.