Die Demokratie ist weltweit auf dem
Vormarsch? Wer das glaubt, sollte rasch seine rosa Brille absetzen, denn das Gegenteil ist der Fall: Die Bertelsmann-Stiftung sieht sich die globale demokratische Entwicklung regelmäßig an und hat festgestellt, dass 2024 von 137 untersuchten Ländern 74 von Autokraten regiert wurden. Zwei Jahre zuvor waren es "nur" 70. Aber ist die Demokratie nicht die beste aller Staatsformen? Wenn man die Diktatoren fragen würde, über die der Politikwissenschaftler Marcel Dirsus in seinem Buch Wie Diktatoren stürzen schreibt, sähe ihre Antwort vermutlich anders aus: Sie vereinen zwar jede Menge Macht auf sich und können sich aufgrund der für sie praktischen politischen Konstellation ungebremst bereichern. In autokratisch regierten Staaten gehört die Korruption so selbstverständlich zum Alltag wie die Luft zum Atmen.
Doch so einfach ist das nicht. So ein Autokraten-Leben hat seine Tücken: "Alleinherrschaften haben Systemfehler - sie können nicht auf Dauer funktionieren", stellt Dirsus fest. Da könnte man natürlich einwenden, dass auch demokratisch gewählte Regierungen zeitlich an ein Ende kommen, oft sogar früher als Diktatoren. Aber Dirsus weist gleich auf den nächsten Pferdefuß hin: "Tyrannen haben immer mehr Feinde als Freunde - und das Ende ihrer Herrschaft ist oft dramatisch."
Unter "dramatisch" ist das erzwungene Exil oder der Tod zu verstehen. Hin und wieder landen entmachtete Diktatoren auch für eine lange Zeit im Gefängnis. Immerhin 69 Prozent der Tyrannen beenden ihre Regierungszeit mit einer dieser Varianten. Ein ruhiger Lebensabend im Luxus und in einer schönen Umgebung ist sehr unwahrscheinlich - weder im Aus- noch im Inland. Ein Ende einer Diktatur durch den natürlichen Tod des Diktators ist reines Wunschdenken - seitens des Diktators.
Das Leben eines Diktators ist aber auch während seiner Regierungszeit ziemlich ungemütlich. Das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Sicherheit muss ständig austariert werden, die engsten Vertrauten können von einem Moment auf den anderen zu den erbittertsten Feinden werden. Und dann sind da noch ausländische Mächte, die Einfluss auf die Geschicke des Landes ausüben, um eigene Interessen wie zum Beispiel den Zugang zu Bodenschätzen oder den Ausbau militärischer Stützpunkte zu verfolgen.
Dirsus stützt seine Betrachtungen auf zahlreiche Studien, Artikel und Gespräche. Er beschreibt genau, wie Diktaturen entstehen - auch dort, wo es zuvor eine Demokratie gegeben hat - und welche Chancen und Risiken mit Putschversuchen einhergehen. Er nennt beispielhaft zahlreiche Diktatoren und deren Schicksale und kommt zu interessanten Rückschlüssen: Nach einem Putsch wird nur selten aus einer Diktatur eine Demokratie. Vielmehr "ergibt sich Demokratie häufig aus Versehen", zitiert Dirsus eine Studie der University of California, die die Demokratisierungsgeschichte bis zum Jahr 1800 zurück verfolgt hat. Der Normalfall ist leider, dass auf einen Tyrannen der nächste folgt.
Marcel Dirsus bezieht sich auf einen Artikel der Politikwissenschaftlerinnen Erica Frantz und Andrea Kendall-Taylor, wonach "zwischen 1950 und 2012 [...] nur 20 Prozent der gestürzten autokratischen Herrscher von einer Demokratie abgelöst" wurden.
Aber warum ist es schwer, nach dem Ende einer Diktatur zu einer Demokratie zu finden? Die Erklärung ist so einfach wie einleuchtend: Nicht nur der Diktator bereichert sich auf Kosten seines Volkes, sondern auch seine direkte Umgebung wie seine Familie oder zahlreiche Günstlinge, die durch die Zuwendungen des Autokraten wohlhabend werden. Niemand von ihnen will eine Demokratie und den damit verknüpften Verlust der Privilegien und sprudelnden Einnahmequellen. Also bleibt im Prinzip alles, wie es war.
Aber was ist, wenn ein Tyrann zu alt, zu krank oder einfach zu lustlos geworden ist, um dem dauerhaften Druck noch länger standzuhalten? Haben Diktatoren eine Exit-Strategie? Man kann beinahe Mitleid bekommen, wenn man liest, welche Fallstricke es bei der Vorbereitung des Ruhestands gibt. Kurz: Man(n) kann es nur falsch machen.
Diktatorisch agierende Frauen kommen in diesem Sachbuch übrigens nicht vor. Woran liegt das? Haben Frauen weniger Interesse daran, ihr Volk zu unterdrücken und auszubeuten, um sich zu bereichern? Es gab einige wenige Frauen, die ein Interesse daran hatten, ihren Einfluss in einem Maß zu vergrößern, wie es ihren Ländern nicht guttat. Dazu zählt beispielsweise die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi, die mithilfe eines ohne Not ausgerufenen zweijährigen Ausnahmezustands die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit radikal einschränkte. Isabel Perón, die nach dem Tod ihres Mannes Juan Perón dessen Amt übernahm und Präsidentin von Argentinien wurde, hielt sich nur zwei Jahre an der Macht, bevor sie vom Militär aus dem Amt geputscht wurde. Durch Glück und für sie günstige rechtliche Konstellationen ist ihr der seltene Fall eines beschaulichen Rentnerinnendaseins in Madrid beschieden.
Frauen spielen bei der Betrachtung von Diktaturen also eine absolute Nebenrolle, die so gering ist, dass sich die Wissenschaft nicht für sie zu interessieren scheint.
Lesen?
Marcel Dirsus' Buchtitel Wie Diktatoren stürzen hat einen für Demokraten beruhigenden zweiten Teil: und wie Demokraten siegen können. Das letzte Kapitel "Wie man Diktatoren stürzt" beginnt ausgerechnet mit einem Zitat von Wladimir Putin: "Die Geschichte beweist, dass alle Diktaturen und alle autoritären Regierungsformen vorübergehend sind. Nur demokratische Systeme sind nicht vorübergehend. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz hat die Menschheit nichts Besseres ersonnen."
Ehe einem vor Staunen der Mund offen steht, sei darauf hingewiesen, dass diese Äußerung aus dem Januar 2000 stammt: Zwei Monate später wurde Putin erstmals zum russischen Präsidenten gewählt. Er hatte zehn Gegenkandidaten, galt aber wegen der ausdrücklichen Wahlempfehlung durch seinen Vorgänger Boris Jelzin als aussichtsreichster Bewerber. Eine Verfassungsänderung macht es möglich, dass Putin bis 2036 im Amt bleiben kann. Man kann rückblickend davon ausgehen, dass seine Äußerung eher den Charakter einer Beruhigungspille haben sollte und nicht aufrichtig gemeint war.
Wie dem auch sei: Marcel Dirsus zeigt, dass der Sturz eines Diktators zwar handstreichartig gelingen kann, eine sehr gute Vorbereitung aber unbedingt nötig ist, um erfolgreich zu sein. Kurz: Es gibt Hoffnung.
Wie Diktatoren stürzen ist ein sehr interessantes Buch, das leicht verständlich die Mechanismen beschreibt, die dazu führen, dass Diktatoren an die Macht kommen, diese Macht behalten und irgendwann gestürzt werden. Parallelen zur aktuellen Weltpolitik sind nicht zu übersehen.
Wie Diktatoren stürzen ist im Februar 2025 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro sowie als E-Book 24,99 Euro.