Donnerstag, 24. Oktober 2024

# 457 - Allein durch die Wüste - eine wahre Geschichte über die Flucht eines Kindes

Vor 25 Jahren wird ein neunjähriger Junge auf eine
lange und gefährliche Reise von El Salvador nach Tucson, Arizona, geschickt. Der Versuch, ein reguläres Visum zu bekommen, ist da bereits gescheitert. Er wird einem Schlepper anvertraut, sein Großvater begleitet seinen Enkel auf der Busfahrt durch Guatemala bis nach Ocós an der mexikanischen Grenze. Ab dort ist das Kind auf sich allein gestellt. Dieses Kind ist der Autor Javier Zamora, der diese unglaubliche und rd. 6.000 Kilometer lange Reise in seinem Buch Solito beschreibt. Der Titel trifft die Sache genau, denn 'solito' bedeutet 'allein'.

Javiers Eltern sind schon einige Jahre zuvor als "Illegale" in die USA geflüchtet. Der zwölfjährige Bürgerkrieg in ihrer Heimat hatte zu einer Gewaltspirale geführt und El Salvador auch wirtschaftlich zerrüttet. Doch 1999 beschließt die Familie, dass Javier seinen Eltern nach 'La USA' folgen soll. Für den Jungen wird ein Traum wahr.

Javier kennt seinen Vater, der zuerst das Land verlassen hat, nur noch durch regelmäßige Telefonate und weiß durch Fotos, wie er aussieht. An seine Mutter kann er sich jedoch gut erinnern. Die Fotos zeigen seine Eltern vor schönen Häusern, die gepflegte Gärten und Swimmingpools haben. Javier schließt daraus irrtümlich, dass auch sie in solch einer Umgebung leben. Das steigert - neben seiner Sehnsucht nach ihnen - seine Vorfreude auf das neue Leben in den USA.

Javier fährt auf dem Pazifik in einem überladenen Boot von Ocós (Guatemala) nach Oaxaca (Maxiko); er schläft mit seiner Flüchtlingsgruppe in billigen Motels oder überfüllten Wohnungen und läuft nachts durch die eiskalte Wüste, die sich am Tag wie ein brütend heißer Ofen anfühlt; er erlebt Gewalt und Korruption und verbringt eine Nacht und einen Tag in der überfüllten und stinkenden Sammelzelle eines amerikanischen Grenzgefängnisses. Menschen, die mit der Gruppe nicht mehr Schritt halten können, werden in der Wüste zurückgelassen.

Doch Javier hat Glück: Er bekommt unterwegs Hilfe vom 19-jährigen Chino und der 27-jährigen Patricia, die mit ihrer kleinen Tochter Carla ebenfalls auf dem Weg in die USA ist. Die Vier werden auf dem Boot bis zu ihrer Ankunft zu einem Team, das zusammenhält und aufeinander achtet. Sie erleben gemeinsam, an der Grenze ihres Traumlands zu scheitern und motivieren sich gegenseitig, nicht aufzugeben. Die Familie auf Zeit ist Javiers rettender Anker. 

Lesen?

Solito war 2022, als die Originalausgabe in den USA erschien, wochenlang auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das Thema illegale Migration spaltet seit etlichen Jahren das Land und trieb die Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf sowohl in diesem Jahr als auch vor vier Jahren um. Zamora hat mit seinem Buch dazu beigetragen, sich in die Situation der Migranten, gegen die Ex-Präsident Trump das Land mit einer Mauer schützen will, hineinzuversetzen. 

Javier Zamora arbeitet zwar mit konkreten Datumsangaben, es darf jedoch bezweifelt werden, dass sich ein neunjähriger Junge, der mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, täglich Notizen macht. Seine in Romanform verarbeiteten Erlebnisse geben jedoch Einblicke, wie gefährlich eine Flucht durch Schlepper und wie groß die Hoffnung ist, die Angehörigen wiederzusehen und ein Leben in Frieden zu führen.

Zamora hat viele Jahre lang niemandem von seiner fast zehnwöchigen Flucht erzählt. Die Erlebnisse haben ihn so schwer traumatisiert, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben hat. Seine Erzählung enthält sehr viele Eindrücke aus der Perspektive eines Kindes, das sich immer wieder orientieren und eine Situation einschätzen muss: Zamora schildert Gerüche in Unterkünften oder von Menschen, das Mienenspiel von Mitflüchtlingen, Schleppern oder Polizeibeamten oder den Geschmack von Staub. Es ist der Blickwinkel eines Kindes, von dem das Verhalten eines Erwachsenen erwartet wird. Die Angst ist ein ständiger Begleiter - bis zum Schluss, als der kleine Javier hofft, dass seine Eltern ihn vom letzten Schlepper freikaufen und abholen.

Das Buch ist sehr interessant, die immer wieder eingestreuten spanischen Begriffe und Aussprüche, die im Glossar übersetzt werden, haben den Lesefluss allerdings leider gehemmt und waren für das Verständnis nicht nötig.

Zamora ist in den USA bis zur Veröffentlichung von Solito als Lyriker bekannt gewesen und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 

Solito ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundenes Buch 26 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.


Tipp: Im Laufe der Handlung werden immer wieder Bands aus Mittelamerika und ihre bekanntesten Lieder genannt. Man muss kein Fan dieser Musik sein, aber sie sich zwischendurch anzuhören trägt dazu bei, die Atmosphäre des Buches zu erfassen.


Freitag, 18. Oktober 2024

# 455 - Lügen verboten! Sonst...

Tessa Weidrich und Philipp Bajon sind neunzehn Jahre alt, kennen sich (bislang) nicht und finden unabhängig voneinander eine mysteriöse Silbermünze. Obwohl finden nicht das richtige Wort ist: Tessa stiehlt ihr Exemplar aus dem Portemonnaie ihres verhassten Onkels Henrik, Philipp bekommt seine von einer Kommilitonin, die diese in einer Packung Teelichter entdeckt hat. An dieser Stelle läuft sich Scandor von Ursula Poznanski noch warm, wird aber schon kurz danach spannend.

Auf der einen Münzseite ist ein Barcode, der zu einer Website führt, in die man sich mit dem auf der zweiten Seite abgedruckten Pin einloggen kann. Dort stoßen sie auf einen Wettbewerb, der es in sich hat: Es geht darum, eine Zeit lang nicht zu lügen. Keine Notlügen, keine Halbwahrheiten, keine ausweichenden Antworten auf Fragen von Gesprächspartnern. Keine leichte Aufgabe, wenn man dem ständig meckernden Nachbarn einen guten Morgen wünscht oder das neue Kleid, das die beste Freundin begeistert vorführt, scheußlich findet. Kleine Lügereien sind gesellschaftlich akzeptiert und werden in bestimmten Situationen sogar erwartet, weil man seine Mitmenschen nicht verletzen will. Aber sie sind bei diesem ungewöhnlichen Spiel absolut tabu: Wer von den 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern lügt, scheidet sofort aus.

⮚ [...]Alles deutet darauf hin, dass dieser Tag ein Scheißtag wird. Als sie sich das nächste Mal aufrichtet, steckt gerade der Briefträger - der neue, hübsche - ein paar Umschläge in den Postkasten. Er lächelt ihr zu. "Wie geht es Ihnen heute?"
Sie lächelt zurück [...]. "Danke, gut."
Dass das nicht der Wahrheit entspricht und dass Scandor auch dahingesagte Floskeln abstraft, begreift sie erst, als Kälte ihren Arm durchströmt. Ein Gefühl, als hätte sie Eiswasser in den Adern. 

Die Mühe, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf sich nehmen, wird belohnt: Die Person, die zum Schluss alle anderen mit ihrer absoluten Wahrheit besiegt hat, bekommt fünf Millionen Euro.
Aber während des Auswahlgesprächs wird klar, dass alle, die ausscheiden, sich ihrer größten Angst stellen müssen. Die Furcht, Dinge tun oder aushalten zu müssen, die einem schon beim bloßen Gedanken an sie den Angstschweiß auf die Stirn treiben, ist eine zusätzliche Motivation.

Philipp kommt aus einer wirtschaftlich gut situierten Familie. Er leidet jedoch unter den ständigen Streitereien seiner Eltern, die seine Kindheit und Jugend begleitet haben. Er möchte sich mit dem Preisgeld den Traum vom Auslandsstudium erfüllen. Weit weg von den Eltern.

Auch Tessas Entscheidung, bei dem Wettbewerb mitzumachen, hängt mit ihrer Familie zusammen. Ihr Vater hatte einen Motorradunfall, als Tessa ein kleines Mädchen war. Seitdem ist er stark gehbehindert und hadert mit seinem Schicksal. Die Eltern leben zur Miete in einer Wohnung, die Tessas Onkel Henrik gehört. Hendrik unterstützt die beiden auch finanziell, behandelt sie jedoch wie Bettler und generiert sich als barmherzigen Samariter. Mit dem Gewinn wären die Eltern für immer von Henrik unabhängig. Und sie selbst natürlich auch.

Bereits bei der Eignungsprüfung bekommen Tessa und Philipp einen ersten Eindruck von dem, was da auf sie zukommt: Wie alle Kandidatinnen und Kandidaten sind sie mit einem sehr zuverlässig arbeitenden Lügendetektor verbunden, der schon bei der kleinsten Nachlässigkeit anschlägt. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was sie im Wettbewerb erwartet. Wie alle anderen werden Tessa und Philipp mit Scandor ausgestattet, einem neuartigen Gerät, das seinen Träger Tag und Nacht auf Ehrlichkeit und Offenheit scannt. Die flache Vorrichtung wird den Mitspielern auf dem Unterarm fixiert, sie können sie nicht selbst entfernen.

Bald wird deutlich, dass mit dem Gewinnspiel ein bestimmtes Ziel verfolgt werden soll und der Wettbewerb nur den Rahmen bildet. Tessa und Philipp haben jedoch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie müssen ihren normalen Alltag leben, also zur Uni gehen und in ihren Jobs arbeiten: Tessa in einem Callcenter und als Servicekraft, Philipp als Aushilfe in einem Jeansladen. Und dann sind da noch die Konkurrenten, die mit fiesen Tricks versuchen, die anderen Mitspieler auszuschalten, sowie zusätzliche Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Wer ist der oder die Nächste, die durch einen Kältestoß von Scandor erfährt, dass das Spiel für ihn oder sie zu Ende ist?

Tessa und Philipp gewöhnen sich an, keine spontanen Antworten zu geben und die gewohnten Floskeln aus ihrem Sprachschatz zu tilgen. Mit ihrer Taktik machen sie ihrer Konkurrenz schwer zu schaffen. Doch mit dem, was sie gegen Ende erwartet, haben sie nicht gerechnet. Die meisten Leserinnen und Leser vermutlich auch nicht.

Lesen?

Scandor spielt mit der Frage, wie aufrichtig Menschen sind. Wie oft lügen wir pro Tag? Lange Zeit wurde gesagt, dass durchschnittlich 200 Lügen pro Tag normal seien. Doch mittlerweile weiß man, dass es bedeutend weniger sind: Die meisten von uns lügen nur ein bis zwei Mal täglich.

Ursula Poznanski sorgt mit ihrem Jugendroman (ab 14 Jahre) für reichlich Spannung und vermittelt wie nebenbei, dass wir uns unserer Verantwortung für unser Handeln stellen müssen - auch, wenn es schmerzhaft werden kann.

Scandor ist 2024 im Loewe Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

Freitag, 11. Oktober 2024

# 456 - Wer war Magda Goebbels, die Frau des Reichspropagandaministers?

Ein junger Mann ist die Hauptperson des Romans Reichskanzlerplatz von Nora Bossong: Die fiktive Figur des Hans Kesselbach, 1907 geborener Sohn eines im Ersten Weltkrieg schwer verwundeten Generals, übernimmt die Rolle des Erzählers. Durch Kesselbachs Augen wird die Geschichte von Johanna Maria Magdalena Behrend erzählt, die unter dem Namen Magda Goebbels bis heute bekannt ist.

Magda Goebbels wurde 1901 als uneheliche Tochter eines Dienstmädchens und eines Bauunternehmers  geboren. Nach einer kurzen Ehe ihrer Eltern heiratete die Mutter später den wohlhabenden jüdischen Kaufmann Richard Friedländer. Friedländer adoptierte die achtjährige Magda, sodass diese von da an seinen Nachnamen trug.

1920 lernte Magda Friedländer zufällig den deutlich älteren verwitweten Industriellen Günther Quandt kennen. Da der Protestant keine Frau mit einem jüdisch klingenden Namen heiraten wollte, nahm sie übergangsweise den Namen ihres leiblichen Vaters, Ritschel, an, ehe sie 1921 durch ihre Heirat den Namen Quandt bekam. Ihr Ziel war der soziale Aufstieg, Quandts Antisemitismus war für sie kein Ehehindernis. Eine Äußerung, die Nora Bossong Magdas Stiefsohn Hellmut in den Mund legt, bringt es auf den Punkt:
Sie wechselt so oft ihren Namen und ihren Glauben, sagte Hellmut, was weiß ich, was sie in Wirklichkeit ist. Vermutlich kann sie das nicht mal selbst sagen. Weißt du, sagte er leise, Mama hätte gemerkt, dass Madame Quandt auch unseren Namen nur wie eine Maske trägt.

Hans Kesselbach lernt Magda in einer Zeit kennen, in der sie bereits mit Quandt verheiratet ist, sich an dessen Seite jedoch langweilt. Magda hatte sich mit ihrer Heirat nicht nur den sozialen Aufstieg, sondern auch ein aufregenderes Leben versprochen. Ihr Mann war jedoch vor allem an seinem Unternehmen interessiert.

Hans hat sich mit Quandts gleichaltrigem Sohn Hellmut angefreundet, mit dem er in derselben Schulklasse ist, und erhält durch seine Besuche in dessen Elternhaus Einblick in das Leben der Oberschicht. Hellmuts Mutter ist die erste Ehefrau Günther Quandts, die 1918 an der Spanischen Grippe verstarb. 

Hans verliebt sich in Hellmut und sucht seine Nähe. Doch er registriert, dass Hellmut und Magda viel Zeit miteinander verbringen. Hellmut ist in der lieblosen Ehe mit Günther Quandt Magdas Halt. Als die beiden 1927 gemeinsam nach Paris reisen, erkrankt Hellmut an einer Blinddarmentzündung und verstirbt in einem Krankenhaus.

Hans nimmt 1927 nach seinem Militärdienst ein Jurastudium auf. Es beginnt die Zeit, in der er heimlich abends an den Wochenenden seine Homosexualität in den Büschen des Berliner Tiergartens auslebt. Sexuelle Handlungen unter Männern waren nach § 175 Strafgesetzbuch bereits seit 1871 strafbar. Das Verbot wurde erst im Juni 1994 abgeschafft.

Diese Heimlichkeit bestimmt auch in den nächsten Jahren sein Leben, und so ist es für beide von Vorteil, dass Hans Magdas Geliebter wird: Er kann von seiner Homosexualität ablenken und sie sich von ihrer unglücklichen Ehe. 1929 wird die Ehe geschieden und Magda bezieht eine Wohnung am Reichskanzlerplatz in Berlin. Dank des üppigen Unterhalts ihres Ex-Mannes führt sie ein angenehmes Leben. In ihrer Wohnung trifft sich die deutsche Wirtschafts- und Politprominenz.

Als die Affäre beendet ist, gerät Magda sowohl für Hans als auch die Leserinnen und Leser aus dem Fokus. Seine berufliche Laufbahn im diplomatischen Dienst richtet er danach aus, sich so weit wie möglich von der Berliner Politik und der Wehrmacht zu entfernen. Hans lebt seine Sexualität weiter heimlich aus und sieht das Erstarken des Nationalsozialismus' sehr kritisch. Doch er ist ein Mitläufer, der es versteht, das System für sich zu nutzen und Probleme zu umschiffen.

Lesen?

In Reichskanzlerplatz  beschreibt Nora Bossong zwei verschiedene Arten von Opportunisten: Hans will keinen Ärger und laviert sich mit Lügen und Täuschungen durch sein Leben. Die Gräuelmeldungen über die Judenverfolgung redet er klein. Dazu passt, dass er sich von einem jüdischen Bekannten abwendet, als der ihn verzweifelt um Hilfe bittet. Magda hingegen hat keine gefestigten Überzeugungen: Obwohl ihr Stiefvater Jude war und ihre erste große Liebe ein jüdischer junger Mann gewesen ist, passt sie ihr öffentliches Verhalten an das antisemitische Gedankengut der Nationalsozialisten an. Magda geht es allein um ihren gesellschaftlichen Aufstieg, für den sie alles andere hintanstellt. 

Magda Goebbels historische Bedeutung wird leider kaum herausgearbeitet. Sie wirkt wie eine vom Wunsch nach Höherem angetriebene Frau, die sich im Glanz eines bedeutenden Mannes sonnen und so beachtet werden will. Es bleibt unklar, was sie zu der lieblosen Frau gemacht hat, die eine große Liebe erlebt hat, danach die Männer aber nur aus nüchternem Kalkül auswählte. Woran sich die Nachwelt vor allem erinnert, ist der Mord, den sie an ihren sechs Kindern, die sie gemeinsam mit Joseph Goebbels hatte, begangen hat. 

Bossong schildert die historische Entwicklung Deutschlands von einer Demokratie mit großen wirtschaftlichen Problemen zu einer faschistischen Diktatur wie die Hintergrundmusik zur eigentlichen Romanhandlung. Alles, was die monströsen Untaten dieses Regimes ausgemacht hat, wird nur angedeutet. Das Wort "Konzentrationslager" fällt nur einmal, die Lage der Zwangsarbeiter, die für das Unternehmen Quandt in Hannover Akkumulatoren herstellen mussten, wird nur angerissen. 

Reichskanzlerplatz ist ein unterhaltsamer Roman, dem es aber an manchen Stellen an Tiefe fehlt. Das Buch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024.

Reichskanzlerplatz ist 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 25 Euro.


Sonntag, 29. September 2024

# 454 - Verschickungskinder in Kinderkuren - Urlaub mit Schrecken ohne Ende oder pure Erholung?

Lena Gilhaus beschäftigt sich in ihrem Buch Verschickungskinder mit einem Thema, das jahrzehntelag totgeschwiegen wurde. Als die Radio- und Fernsehautorin erfährt, dass ihr damals neunjähriger Vater und dessen sechsjährige Schwester 1967 zu den Kindern gehörten, die ohne die Begleitung ihrer Eltern für sechs Wochen zur Erholung in ein Kinderkurheim geschickt wurden, forscht sie nach.

2022 sitzen Gilhaus, ihr Vater und ihre Tante im Zug von Dortmund nach Sylt, um den Erinnerungen der Geschwister nachzuspüren. Erinnerungen, über die sie lange geschwiegen und die sie größtenteils verdrängt hatten. Das, was sie erzählen, deckt sich mit den Erlebnissen und Erfahrungen zahlreicher Verschickungskinder, die in der BRD und der DDR  zwischen 1945 und bis in die 1990-er Jahre in eines der vielen Heime fuhren. Viele dieser Einrichtungen lagen abseits von Ortschaften und hatten zu wenig oder kaum für diese Aufgabe ausgebildetes Personal. Kontrollen gab es so gut wie nie, vereinzelte Todesfälle wurden verschleiert. Das waren ideale Bedingungen für Übergriffe des Personals: zwangsweises Aufessen (einschließlich des Erbrochenen), erzwungener "Mittagsschlaf", Einsperren in dunkle Kammern als eine von vielen Bestrafungen sowie sexuelle Annäherungen oder Quälereien war in zahlreichen Kurheimen Alltag. Viele Maßnahmen erinnern an pädagogische Dogmen des Nationalsozialismus': Wannenbäder in eiskaltem Wasser sollen die Kinder abhärten, und unwillkürlich fühlt man sich an Hitlers vielzitierten Ausspruch erinnert, wonach die Jugend "hart wie Kruppstahl" sein sollte.  

Es hat schätzungsweise bis zu 15 Millionen Kurverschickungen gegeben. Die genauen Zahlen sind unbekannt, weil sich viele Wohltätigkeitsinstitutionen und kirchliche Einrichtungen beteiligten und diese bis heute kein gesteigertes Interesse an einer Aufklärung über die Zustände in den Heimen haben. Man fühlt sich an das Verhalten der beiden christlichen Kirchen im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern erinnert: Nur der dauerhafte Druck hat sie dazu gebracht, sich (teils widerwillig) an der Aufklärung der Taten ihrer Amtsträger zu beteiligen.

Die Gründe für die Entsendung der Kinder waren unterschiedlich: Bei den meisten spielten Atemwegs- oder Hauterkrankungen, zu wenig oder zu viel Körpergewicht oder eine allgemein schlechte Konstitution eine Rolle. Etliche Kinder sollten aber eine Weile aus ihrem familiären Umfeld herausgenommen werden, um sich an der See oder in den Bergen von prekären Lebensverhältnissen zu erholen und die Eltern zu entlasten.

Lena Gilhaus beschreibt nicht nur, woran sich ihr Vater und seine Schwester erinnern können, sondern nimmt auch Kontakt zu anderen Verschickungskindern auf. Viele sind nachhaltig traumatisiert, was sich auf ihr Leben als Erwachsene auswirkt. Andere wollen sich an die Zeit, die manche mehrmals durchlebt haben, heute nicht mehr erinnern. Viele haben die traumatischen Erfahrungen jahrzehntelang verdrängt.

Doch wie stehen die Träger der Kinderkuren heute zu den Vorwürfen, mit denen sie seit einigen Jahren konfrontiert werden? Gilhaus nimmt mit einigen von ihnen Kontakt auf und stößt auf eine Mauer des Schweigens und Verharmlosens. Doch sie gibt nicht auf, und tatsächlich findet sie konkrete Vorwürfe bei Vor-Ort-Recherchen bestätigt. 

Lesen?

Verschickungskinder gehört zu den wenigen Sachbüchern, die sich mit den Bedingungen in den Kinder-Kurkliniken beschäftigen. Lena Gilhaus hat auch mit Menschen gesprochen, die ihre Kinderkur in guter Erinnerung haben, das sind jedoch Ausnahmen. Die überwältigende Mehrheit hat belastende Erinnerungen an diese Zeit, die ihnen eigentlich guttun sollte.

Gilhaus' Buch liefert einen wertvollen Beitrag zur Aufdeckung dieser Missstände, die zu lange verdrängt wurden. Dieses Thema muss medial am Leben erhalten werden, damit früher oder später alle Fakten offengelegt werden können.

Verschickungskinder ist 2023 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Freitag, 20. September 2024

# 453 - Alte Eltern: Wenn die Demenz alles ändert

Mit seinem Buch Alte Eltern hat sich Volker Kitz mit
dem Abschiednehmen von einem alten Elternteil beschäftigt. In seinem Fall ist das der Vater.

Kitz ist Jurist und Schriftsteller und hat bereits mehrere Sachbücher veröffentlicht, einige davon mit juristischen Themen. Alte Eltern, als literarisches Essay angelegt, dürfte sein persönlichstes sein.

Anlass, sich dem Thema anzunehmen, waren die Erfahrungen, die Kitz mit seinem betagten Vater gemacht hat. Es ist das passiert, was viele Menschen mit ihren Eltern so oder so ähnlich bereits erlebt haben oder noch erleben werden: Der Vater wohnte nach dem Unfalltod der Mutter lange allein im Familienhaus, die beiden Söhne lebten einige Autostunden entfernt und besuchten ihn regelmäßig. 

Doch dann nähert sich der Zeitpunkt, der zu tiefgreifenden Veränderungen führt. In der Anfangsphase der Pandemie wird 2020 ein demenzielles Syndrom diagnostiziert, der Vater bekommt Medikamente, die den Verlauf der Erkrankung für einen begrenzten Zeitraum abbremsen. Die Isolation während dieser Zeit verstärkt seine Demenz. Doch der Vater will und soll weiterhin in seinem Haus leben. Die Dosierung und Sortierung der Medikamente wird nun zweimal pro Tag von einem ambulanten Pflegedienst übernommen.

Im Sommer 2021 lassen sich Vater und Sohn gegen Covid-19 impfen, danach scheint sich die Situation für den Vater durch die neu gewonnene Freiheit zu normalisieren. Doch nicht viel später kommt Volker Kitz zu der Erkenntnis, sich etwas vorgemacht und Tatsachen verdrängt zu haben. Diese Erkenntnis entwickelt sich nach und nach und löst die vorangegangene Vorstellung ab, der Vater könnte bis zu seinem Tod allein in seinem Haus bleiben.

In der folgenden Zeit versucht Volker Kitz mit verschiedenen Mitteln, seinen Vater zu unterstützen. Doch seine Bemühungen wirken wie das Rennen im Märchen von "Der Hase und der Igel": Kaum scheint eine Strategie erfolgreich zu sein, führt ein neuer Demenzschub dazu, dass sie es nicht mehr ist. Ende 2021 zieht der Vater in ein Berliner Pflegeheim, ganz in der Nähe seines Sohnes, aber 700 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem sein bisheriges Leben stattgefunden hat.

Volker Kitz geht sehr genau auf seine Gedanken, Zweifel und Selbstvorwürfe als sich kümmernder Angehöriger ein, die diesem Schritt vorausgehen - und auch nicht weniger werden, als sein Vater schon eine Weile in der Einrichtung wohnt. Wie ein roter Faden werden die Überlegungen von wiederkehrenden Fragen durchzogen: Wann hat die Demenz des Vaters begonnen? Kümmere ich mich genug um den Vater? Kann man sich auch zu viel kümmern? Und: Sind die gelegentlichen eigenen geistigen Aussetzer schon Hinweise auf eine beginnende Demenz oder harmlos? Ein starker Antrieb, möglichst viel über Demenz wissen zu wollen, ist der (vergebliche) Wunsch, die Erkrankung des Vaters aufzuhalten.

Klar ist, dass den ersten Anzeichen der Demenz des Vaters mehr Aufmerksamkeit hätte gewidmet werden müssen. Verharmlosung und Verdrängung waren nicht hilfreich. Dazu kommt die Erkenntnis, dass Demenz mehr ist als nur zu vergessen; Demenz bedeutet auch, Fähigkeiten zu verlieren, die für die Bewältigung des Alltags unerlässlich sind: Wer zum Beispiel wie Kitz' Vater nicht mehr weiß, wie man die Haustür bedient, lebt im eigenen Zuhause als Gefangener. 

Volker Kitz beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der fortschreitenden Demenz des Vaters, sondern hinterfragt auch seine eigene Beziehung zu ihm. Da sein Vater durch seine zugewandte Art dazu beigetragen hat, dass sein Sohn eine schöne Kindheit hatte, fühlt sich der Sohn umso mehr verpflichtet, dem Vater in dessen letzter Lebensphase beizustehen. Die Verantwortung für den alten Mann zu übernehmen, war für Kitz kein Problem. Aber er nimmt wahr, dass sich die Vater-Sohn-Beziehung verändert, was auch daran liegt, dass der Vater den Sohn immer öfter nicht als solchen erkennt, sondern der ihm nur vertraut vorkommt. 

Kitz wird klar: Man erinnert sich daran, wann Ereignisse zum ersten Mal stattfanden, aber nicht mehr, wann es sie zum letzten Mal gegeben hat: miteinander telefonieren, die Nächsten erkennen, die Umarmung - erst im Nachhinein fällt auf, dass da wieder etwas weggefallen ist. Hinzu kommt die Belastung, die durch die fortschreitende Verschlechterung entsteht: Die Angehörigen stehen der Situation hilflos gegenüber, oft erschweren Wesensveränderungen der Patienten das Miteinander. Je mehr die Zeit voranschreitet, desto geringer werden die Möglichkeiten, etwas gemeinsam mit den Erkrankten zu unternehmen - und sei es nur ein Spaziergang durch den Park in der Nachbarschaft. "Die Pläne wurden kleiner und kleiner", schreibt Kitz treffend. 

Lesen?

Volker Kitz wurde 1975 geboren, sein Vater starb im Januar 2023 kurz vor seinem 80. Geburtstag. "Ich bin nicht allein", schreibt der Autor auf den ersten Seiten seines Buches. "Die Sorge um die Eltern erfasst meine Generation. Wir sind die Generation X, zurzeit die größte in Deutschland, wir sind fast siebzehn Millionen." Aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass sich bereits die Vorgänger-Generation der Boomer stark mit der Frage beschäftigen muss (oder musste) und das Thema von der nachfolgenden Generation Y (Geburtsjahrgänge 1981 bis 1996) nicht mehr so weit weg ist. Zu den oben genannten siebzehn Millionen kommen so 12,5 Millionen bzw. rd. 16,45 Millionen Menschen hinzu. Das sind etwa 46 Millionen Menschen, und die Mehrheit von ihnen muss sich mit genau denselben Fragen wie Volker Kitz befassen.

Schon das ist ein starker Grund, dieses Buch zu lesen: zu erfahren, womit man rechnen sollte, wenn die eigenen Eltern alt werden. Kitz schreibt das Erlebte in klaren und ungeschönten Worten, aber mit jeder Menge Empathie. Wer schon mit einer Form von Demenz konfrontiert wurde, hat den Eindruck, in Alte Eltern von den eigenen Erfahrungen zu lesen.

Ich lese, dass Kitz' Vater vom Heimpersonal nicht zu einer heiminternen Veranstaltung abgeholt worden ist, weil es so lange dauert, ihn vorzubereiten. "Mein Vater soll dabei sein, dazugehören. [...] Es macht mich wütend, wenn andere zu schnell aufgeben. Es schmerzt mich, wenn er ausgeschlossen ist, aus der Welt gefallen, weil seine Fähigkeiten schwinden." Kitz schreibt das in dem Wissen, dass Anregungen für Demenzkranke wichtig sind. Ich weiß, dass solche Situationen häufig vorkommen; sie sind schlimm für die Heimbewohnerinnen und -bewohner, ihre Ursache liegt aber in der Regel an der Personalknappheit durch den Fachkräftemangel, das Personal ist in der Regel nicht daran schuld.

Auch, wenn man als Sohn oder Tochter seine Eltern nicht zu sich nimmt, um sich um sie zu kümmern, nimmt die Sorge um ihr Wohlergehen viel Raum ein. Ein Besuch im Pflegeheim dient nicht nur dazu, mit den Eltern Zeit zu verbringen, sondern auch zur Überprüfung, ob es ihnen dort gut geht und man sich angemessen um sie kümmert. Zu Hause werden für die Eltern Telefonate geführt, E-Mails oder Briefe geschrieben, Antragsformulare ausgefüllt, Rechnungen bezahlt - und man macht sich weiter Gedanken darüber, wie ihre Situation verbessert werden könnte. Ich finde mich in einem Satz von Volker Kitz wieder: "Überall sprach ich vom Vater. Traf ich Freunde, redete ich so viel von ihm, dass es mir unangenehm war." Rückblickend frage ich mich, ob mein Freundeskreis womöglich innerlich gestöhnt und gedacht hat: 'nicht schon wieder...'.

Und dann ist da noch ein weiterer Satz, der sehr gut das Ausmaß der Hilflosigkeit beschreibt, die Kitz empfunden hat und die sicher zahllose erwachsene 'Kinder' nachempfinden können: "Es ist der Vergleich zum Vorher, der Dinge unerträglich macht."
Den Kopf in den Sand zu stecken ist hier allerdings keine Option.

Alte Eltern ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Hinweis: Ich habe hier bereits 2015 das Buch Demenz von Tilman Jens vorgestellt. Es handelt von der Demenzerkrankung des bekannten Schriftstellers und Altphilologen Tilman Jens, der 2013 verstorben ist, und bietet ebenfalls viele Denkanstöße.





Samstag, 14. September 2024

# 452 - Gelungener Mix aus Krimi und Rassismuskritik

Clay Robinette ist ein ehemaliger Journalist, der sich vor Jahren seinen Ruf als seriöser Reporter mit einigen handwerklichen "Unzulänglichkeiten" versaut hat. Doch er hat Glück: Durch günstige Umstände wird er 1989 Professor an der Arden University in Ohio, ausgerechnet im Fach Journalistik mit dem Schwerpunkt Creative Non-Fiction. Die Stelle ist zwar nicht sein Traum, aber er ist schwarz, verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Der Uni-Job bietet ihm finanzielle Sicherheit. Das Leben der Robinettes könnte weiter vor sich hin plätschern, aber das ist in Jake Lamars Krimi Das schwarze Chamäleon selbstverständlich nicht vorgesehen.

Nur wenige Jahre später wird Reginald "Reggie" Brogus ebenfalls Professor in Arden. Reggie, die Ikone der Black Panther-Bewegung der 1960-er Jahre, dessen sogenanntes 'Manifest' Clay mit Hochachtung und Bewunderung gelesen hat. Reggie war damals fast so bedeutend wie Martin Luther King. Doch mit dem einst charismatischen Kämpfer ist etwas geschehen. Jahrelang war er von der Bildfläche verschwunden. Dann tauchte er wieder auf: ein feister Mann mit neoliberalen Ansichten, die denen von damals genau entgegengesetzt sind. Clay ist irritiert, blendet Brogus' Meinungsumschwung jedoch aus. Für ihn hat der Mann noch etwas vom damaligen Glanz eines Helden.

Februar 1992: Mitten in der Nacht klingelt Clays Telefon. Der völlig aufgelöste Brogus fleht ihn an, mit ihm in sein Büro in der Uni zu kommen. Was Clay dort sieht, schockiert ihn auf mehreren Ebenen: Auf Brogus' Bürosofa liegt eine nackte tote Frau. Um ihren Hals schlingen sich die auffällige Hosenträger des übergewichtigen Professors, mit denen sie augenscheinlich erwürgt wurde. Auf den zweiten Blick erfasst Clay, um wen es sich handelt: Jennifer Wolfshiem ist Studentin an der Uni von Arden und Clay hatte bis vor Kurzem mit ihr eine Affäre. 

Aber Brogus hat ganz eigene Sorgen: Da sich die Leiche in seinem Büro befindet, ist die Wahrscheinlichkeit, wegen Mordes verurteilt zu werden, hoch. Er faselt etwas vom FBI, das ihn verfolgt, und will nur noch eins: möglichst weit weg, und Clay soll ihm dabei helfen. Dem behagt seine Rolle als Fluchthelfer eines Mannes, der vielleicht ein Mörder ist, nicht. Doch Brogus beteuert seine Unschuld. Kann Clay ihm glauben?

Clay bringt seinen Kollegen in die Nähe des Flughafens und hofft, dabei nicht beobachtet zu werden. Ihm ist klar, dass er zu einem der Hauptverdächtigen wird, wenn die Beziehung zu Jennifer publik wird. Ein schwarzer Professor und eine weiße Studentin, die möglicherweise von ihm getötet wurde: Clay sieht bereits vor sich, wie sein bisheriges geordnetes Leben zu Staub zerfällt. Er ist wegen des gewaltsamen Todes der jungen Studentin schockiert, denkt jedoch darüber nach, wer als Täter oder Täterin infrage kommen könnte: der militante schwarze Student, der Jennifer gestalkt hat? Die exzentrische Professorin am Afrikamerika-Institut? Clays Ehefrau Penelope, die - wie auch immer - von der Affäre Wind bekommen hat? Oder doch Brogus?

Lesen?

Das schwarze Chamäleon ist eine Mischung aus einem Krimi mit dem klassischen Whodunit-Muster und einer satirischen Kritik der US-Rassenpolitik der letzten Jahrzehnte. Die Handlung nimmt ab der ersten Seite Fahrt auf, und man ist immer wieder fassungslos, wie meisterhaft Clay Robinette Fakten so lange verdrängt, bis sie ihm auf die Füße fallen. Er begibt sich in Situationen, von denen er ahnt, dass sie für ihn und sogar seine Familie problematisch werden könnten, zieht sich aber trotzdem nicht zurück. 

Clay gerät in einen Strudel von Ereignissen, bei denen er zeitweise nicht weiß, wer ihn da eigentlich bedroht. Jake Lamar entwirft mit Clay Robinette einen Protagonisten, dessen sich steigernde Verzweiflung greifbar und dessen Orientierungslosigkeit glaubwürdig ist. Mit seinem Buch ist Lamar ein Pageturner gelungen.

Das schwarze Chamäleon ist 2001 unter dem Originaltitel If 6 were 9 erschienen und wurde 2024 von der Edition Nautilus GmbH in der deutschen Übersetzung herausgegeben. Übersetzt von Krimiautor Robert Brack, der auch das Nachwort, das sich mit der Suche nach Jack Lamar beschäftigt, verfasst hat.

Das Buch kostet als Paperback 22 Euro und als E-Book 17,99 Euro. Es steht auf der Krimibestenliste September 2024 des Deutschlandfunks.

Sonntag, 8. September 2024

# 451 - Szenen einer verzweifelten Ehe

Wie kann man Furchtbares mit poetischen Worten beschreiben? Nassira Belloula gelingt dies in ihrem Roman Marias Zitronenbaum auf eine so empathische Weise, dass man beim Lesen das trostlose Leben der Protagonistin Maria als Ehefrau und Mutter und ihren Weg in Depression und Wahn buchstäblich nachfühlen kann. 

Maria ist gläubige Muslima und lebt mit ihrer Familie in Algerien. Bis sie sechzehn Jahre alt war ist sie behütet und von ihren Eltern geliebt am Mittelmeer aufgewachsen. Doch dann wird sie an einen fremden Mann verheiratet. Sie weiß nichts vom Leben und nichts von Sexualität. Das junge Mädchen, das die Natur und die Weite des Himmels liebt, muss mit ihrem Mann in die Stadt ziehen, wo es niemanden kennt. Am Tag nach der Hochzeit eröffnet er der frisch Verheirateten, was sie ab jetzt nicht mehr darf: Jede Art von Kontakt mit der Außenwelt ist ihr verboten, sogar der Blick aus dem Fenster. Das Haus darf sie nur in Begleitung ihres Mannes verlassen. Alles, was ihre Persönlichkeit ausmacht, will er auslöschen. 

Maria leidet, aber sie widerspricht nicht. Sie hält sich strikt an die Vorgaben des Korans: Wenn sie ihre Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllt, wird sie nach ihrem Tod ins Paradies eintreten. Dort wird sie Ali wiedersehen, ihre große und längst verstorbene Liebe. Maria erträgt die Schmähungen ihres Mannes und dass sie von ihren Kindern für ihre angebliche Prüderie und Rückständigkeit ausgelacht wird.

Aber dann sieht Maria dreißig Jahre nach ihrer Heirat zufällig die Fernsehpredigt eines jungen Imams. Was sie da hört, lässt sie zusammenbrechen:
"[...]E
s hieß, dass die fromme, hingebungsvolle und gläubige Ehefrau von Allah belohnt werden wird, dass sie ins Paradies eintreten und dort ihren Mann wiederfinden wird für alle Ewigkeit. Er sagte auch, dass sie ihn ohne Eifersucht oder Zank mit Ehefrauen und Houris teilen werde, eine nach der anderen. Ein Paar wird sich nicht mehr voneinander abwenden können, und eine Stunde dauert dort so lange wie siebzig Jahre auf der Erde. So ist das Paradies konzipiert."

Der Albtraum soll also für alle Ewigkeit weitergehen? Maria beschließt zum Entsetzen ihrer Töchter ihren Mann zu verlassen. Ihre Kinder glaubten bis zu diesem Zeitpunkt daran, dass ihre Eltern eine einvernehmliche und harmonische Beziehung führen würden. Doch nun erkennen sie, wie falsch sie die Situation beurteilt und wie sehr sie ihrer Mutter Unrecht getan haben.

Lesen?

Marias Zitronenbaum schont seine Leserinnen und Leser nicht. Stellen wie "Dieser Ehemann, der unter Schmerzen geehrt wird, um die Schriften nicht zu missachten. In der Religion heißt es, dass der Körper der Frau für den Mann ein Acker zum Pflügen ist", deuten bildlich an, was da jede Nacht im Ehebett geschieht. 

Nassira Belloula stellt außerdem fest: "Seit Anbeginn der Zeit hat das patriarchalische System ein Echo in der Religion gefunden und Gott zu einem Verbündeten in dieser unerbittlichen Entfremdung gegen alles Weibliche gemacht. So lebt dieses System fort, indem es seine Kraft aus dem Penis und nicht aus dem Gehirn bezieht, und jede weibliche Stimme, die aus dem Chaos herauskommen will, unterdrückt und zerstört."

Diese deutlichen Worte der algerischen Feministin, Journalistin und Schriftstellerin Belloula bringen es auf den Punkt, wie das System der Unterdrückung der Frauen funktioniert. Die Religion (nicht nur der Islam) und ihre Schriften sind hierfür der Türöffner. Marias Zitronenbaum beschreibt ein Beispiel von vielen.

Marias Zitronenbaum ist 2021 im Verlag Donata Kinzelbach erschienen (Übersetzung: Tina Aschenbach) und kostet 20 Euro.

Nachtrag: Wenn ihr mehr über Donata Kinzelbach und ihren Verlag in Mainz erfahren möchtet, empfehle ich euch dieses 🠞 Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe. Dort werden auch weitere Bücher genannt, die ich in meiner Bücherkiste bereits vorgestellt habe.

 

Montag, 2. September 2024

# 450 - Frauen im ersten Deutschen Bundestag - keine Selbstverständlichkeit

Am 7. September 1949 kamen die 410 Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages zum ersten Mal zusammen. Darunter waren 28 Frauen; bis zum Ende der Legislaturperiode sollten es 38 sein.

Die Herren fremdelten mit der Situation. Sie waren nicht gewohnt, dass eine Frau das Wort ergreift und die eigenen Positionen verteidigt. Zu dieser Unsicherheit gehörte auch die Frage, wie die Kolleginnen angesprochen werden sollen. Zwar saßen zwischen 1919 und 1933 bereits in der Nationalversammlung und im Reichstag insgesamt mehr als 100 Frauen, aber trotzdem mussten die weiblichen Bundestagsabgeordneten um den Respekt und die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen kämpfen.

"Der nächste Redner ist eine Dame" war die Aufforderung des ersten Bundestagspräsidenten Erich Köhler an die CDU-Abgeordnete Anne Marie Heiler, das Wort zu ergreifen. Der treffende Titel dieses Sachbuchs deutet an, wie schwer es den weiblichen Abgeordneten gemacht wurde, überhaupt zu Wort zu kommen. Anne Marie Heiler musste 64 Sitzungen auf die Gelegenheit warten, sprechen zu dürfen. Da die Kollegen, die vorher am Rednerpult gestanden haben, ihre zulässige Redezeit überzogen hatten, wurde diese für Heiler kurzerhand reduziert.

Natalie Weis ist Historikerin und arbeitet für den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags. Sie stellt alle weiblichen Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages in mehrseitigen Kurzbiografien vor. Fünf Abgeordnete werden darüber hinaus von Schriftstellerinnen wie zum Beispiel Juli Zeh oder Terézia Mora in längeren Texten porträtiert, wobei jede einen anderen Stil wählt.


Lesen?


Der nächste Redner ist eine Dame bietet den bislang einzigen Überblick über die ersten weiblichen Bundestagsabgeordneten. Die meisten von ihnen sind längst vergessen. Das ist umso bedauerlicher, wenn man erfährt, unter welchem persönlichen Einsatz sie ihre Mandate wahrgenommen haben und wie man immer wieder versuchte, sie in die Ecke der klassischen "Frauenthemen" wie Soziales und Familie zu drängen. Auch, wenn jede Abgeordnete eigene Schwerpunkte hatte: Alle 38 Frauen haben sich nach den üblen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus für den Aufbau und die Stabilisierung der jungen Demokratie stark gemacht, obwohl ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden. Jede Einzelne von ihnen kann mit ihrer Durchsetzungs- und Willensstärke als Vorbild dienen. Diese Entwicklungen nachzuvollziehen, macht das Buch zu einer sehr interessanten Lektüre.

Der nächste Redner ist eine Dame wurde 2024 vom Deutschen Bundestag herausgegeben und ist im Ch. Links Verlag veröffentlicht worden. Das Sachbuch kostet gebunden 25 Euro und als E-Book 18,99 Euro.

Montag, 26. August 2024

# 449 - Eine Revolution: Frauen fahren Fahrrad

Die britische Autorin Hannah Ross lebt für das 
Radfahren. Ihr Großvater nahm an Radrennen teil, sie selbst lässt es aus gesundheitlichen Gründen langsamer angehen. Ross bringt geflüchteten Frauen ehrenamtlich das Fahrradfahren bei und ist Mitglied in einem Fahrradclub. Ihre Urlaube verbringt sie immer auf dem Rad.

Kein Wunder, dass sich die Fahrrad-Enthusiastin Ross Gedanken über die Bedeutung des Radfahrens für Frauen gemacht hat. Der Titel ihres Sachbuchs Revolutions lässt erahnen, was seine Leserinnen und Leser erwartet.

Dass Frauen Fahrrad fahren, war tatsächlich lange Zeit revolutionär. Doch als sich die ersten von ihnen im 19. Jahrhundert auf Fahrräder wagten, wurde nicht nur über diese Ungeheuerlichkeit an sich diskutiert, sondern auch über die hierfür richtige Bekleidung. Praktische Überlegungen spielten da überhaupt keine Rolle, es wurde Wert darauf gelegt, dass Frauen "anständig" gekleidet waren.

Ist es überraschend, dass es vor allem Männer waren, die dem wachsenden Wunsch der Frauen nach Freiheit und Mobilität im Weg standen? Hannah Ross berichtet vom Widerstand der University of Cambridge, den bei ihr eingeschriebenen Frauen einen vollwertigen Abschluss zu ermöglichen. Ein entsprechender Antrag wurde 1897 abgelehnt. Die auf die Entscheidung der Universitätsleitung wartenden Studenten ließen ihre Wut darüber, dass die Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Studierenden überhaupt in Betracht gezogen wurde, an einem gegenüber der Universität aufgehängten Symbol aus: einer Puppe, die eine Frau auf einem Fahrrad darstellte und nur eine Bluse und eine Unterhose trug. Die Studenten zerstörten die Puppe und warfen die Einzelteile vor den Eingang eines nur von Frauen besuchten Colleges.

Dieser Vorgang macht deutlich, wogegen die Studenten rebellierten: Es ging ihnen darum, die eigenen Pfründe zu verteidigen. Die Frauen sollten dort bleiben, wo sie bislang gewesen waren: zu Hause.
Doch die waren dazu nicht mehr bereit. Gegen alle Widerstände stiegen immer mehr Frauen aufs Fahrrad. Zunächst nur die aus wohlhabenden Kreisen, später auch Frauen, die über geringe finanzielle Mittel verfügten. Sie kauften die abgelegten gebrauchten Fahrräder der gutsituierten Damen oder traten Frauen-Fahrradclubs bei, die für kleines Geld Fahrräder verkauften oder verliehen.

Aber aus Sicht der Herren und der Konservativen wurde es noch schlimmer: Immer mehr Frauen entschieden sich für praktische Fahrradbekleidung. Sie legten die bauschigen Röcke und Korsetts ab und trugen Blusen und sogenannte Bloomer, die Pumphosen ähnelten. Diese "Reformkleidung" weckte im viktorianischen England den Verdacht, die Frauen könnten sich durch diesen  maskulinen Bekleidungsstil in Männer verwandeln. Es wurde auch die Vermutung geäußert, dass das Sitzen auf Fahrradsätteln zu Unfruchtbarkeit führen könnte. Der Fantasie, welche üblen Folgen das Fahrradfahren für Frauen haben könnte, waren fast keine Grenzen gesetzt.

Wie groß der Freiheitsdrang mancher Frauen war, zeigte sich am Beispiel von Annie Kopchovsky, die unter dem Namen Annie Londonderry bekannt wurde. Sie startete 1894 von Boston aus zu einer Weltreise - selbstverständlich auf dem Fahrrad. Sie finanzierte ihre Tour, indem sie ihr Fahrrad gegen Entgelt mit Werbetafeln belud. Auch, wenn sie für einzelne Etappen auf andere Verkehrsmittel auswich, gilt sie als die erste Frau, der eine Weltumfahrung mit dem Fahrrad gelungen ist.

Es geht Hannah Ross jedoch nicht nur darum, sich einigen Pionierinnen zu widmen, die Herausragendes bei Radtouren oder -rennen geleistet haben. Sie zeigt auch, dass diese "New Women", die als die Wegbereiterinnen des Frauen-Radfahrens angesehen werden können, nicht so frei waren, wie sie es sich gewünscht haben. Die Konventionen, unter deren Einfluss sie aufgewachsen waren, wirkten nach. So lobte zwar die Zeitschrift The Lady Cyclist den praktischen Nutzen der Reformkleidung, kritisierte aber die "Angeberei einzelner Trägerinnen und ihre Tendenz zu jungenhaften Gesten und Reden, die sie für schockierend unanständig hielt". Dieselbe - von einem Mann herausgegebene - Zeitschrift empfahl die richtige Kleidung, die aber so geschnitten sein musste, dass vorbeifahrende Männer nicht abgeschreckt werden.

Lesen?

Hannah Ross' Buch besticht durch seinen Detailreichtum und die Begeisterung der Autorin für das Radfahren, die in jedem Kapitel deutlich wird. Man ahnt natürlich vor dem Aufschlagen der ersten Seite, dass es um die Benachteiligung der Frauen beim Radfahren gehen muss; welche Dimensionen diese Diskriminierung hat, die bis in unsere Zeit hineinreicht, ist jedoch erschreckend. Vor allem Frauen, die professionell Radrennen fahren, werden bis heute stark benachteiligt. Die Rennen, an denen sie teilnehmen (dürfen), finden nur wenig Publikum, weil sie meistens im Schatten großer Rennveranstaltungen für Männer stattfinden. 

Während erfolgreiche Rennfahrer ein Millionengehalt bekommen, reicht es auch bei den erfolgreichsten Fahrerinnen kaum zum Überleben. Sponsorenverträge für Männer, die zum Beispiel eine Zahlung der Prämien auch im Krankheitsfall vorsehen, findet man bei den Frauen sehr selten. Oft bedeuten Schwangerschaften das Aus ihrer Rennkarriere. An lukrativen Rennen wie der Tour de France dürfen sie nicht teilnehmen. Eine häufige Begründung der Verbände für diese Ungleichbehandlung: Frauen sind solchen Strapazen körperlich nicht gewachsen. Dass etliche Frauen das Gegenteil bewiesen haben, wird systematisch nicht zur Kenntnis genommen.

Wenn man an Revolutions etwas kritisieren möchte, dann das fehlende Quellenverzeichnis. Es ist darum nicht möglich, sich besondere Themenbereiche selbst zu erschließen.

Revolutions mit dem treffenden Untertitel Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt verändern ist 2021 unter dem Originaltitel Revolutions - How Women Changed the World on Two Wheels erschienen. Die deutsche Übersetzung wurde 2022 im mairisch Verlag veröffentlicht und kostet als Hardcover 24 Euro, als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Freitag, 16. August 2024

# 448 - Roman über eine Gesellschaftsordnung im freien Fall

Republik Irland, zu einem nicht näher bezeichneten
Zeitpunkt der heutigen Welt. Die Bevölkerung spürt ein politisches Grummeln, aber noch sind die Verhältnisse wie gewohnt: geordnet und verlässlich. Doch schon auf den ersten Seiten des Romans Das Lied des Propheten des irischen Schriftstellers Paul Lynch ist zu spüren, dass sich da etwas verschiebt. Die Menschen nehmen diese schleichenden Veränderungen jedoch nicht ernst: Die Kinder fahren zur Schule, man geht seinen Berufen nach und hält Haus und Garten in Ordnung.

Die rechtsgerichtete National Alliance Party (NAP) ist dabei, das Land nach ihren Vorstellungen zu verändern. Das Ziel: Totalitarismus. Dagegen formiert sich allmählich Protest, wenngleich die meisten Bürgerinnen und Bürger den Mund halten. Der Alltag der Menschen wird durch immer neue Notverordnungen geregelt, die nach und nach die Bürgerrechte aushebeln. Die Anzeichen für einen gewaltsamen Aufstand der Rebellen werden immer deutlicher. Es ist beim Lesen zu spüren, dass nur noch ein kleiner Funke fehlt, damit es zu einer Eskalation kommt, bei der Waffen das Sagen haben.

Auch die in Dublin lebende sechsköpfige Familie Stack beobachtet die Situation, vertraut aber darauf, dass der Staat nicht gegen seine eigenen Bürger vorgehen wird. Vater Larry Stack ist Lehrer und hoher Gewerkschaftsfunktionär. Als solcher tritt er für eine bessere Bezahlung für seine Kolleginnen und Kollegen ein. An einem regnerischen Abend tauchen zwei Mitglieder der neu gegründeten Geheimpolizei bei den Stacks auf, um Larry zu verhören. Den Protest der Lehrerschaft nimmt die NAP zum Anlass, die Maske fallen zu lassen: Obwohl es sich bei den Demonstrationen um legale Aktionen handelt, werden alle Gewerkschaftsführer festgenommen. Zu den Inhaftierten gehört auch Larry, der seitdem wie vom Erdboden verschluckt ist. Der Kontakt zu einem Anwalt wird ihm widerrechtlich verwehrt. Eilish macht ihrer Verzweiflung Luft, indem sie auf den Punkt bringt, warum es so weit kommen konnte:

"Ich habe selbst im Gesetz nachgeschaut, in den Verträgen, das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts, [...] warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?"

Binnen kurzer Zeit verändert sich das Leben der Stacks um 180 Grad. Mutter Eilish, eine Wissenschaftlerin, versucht nicht nur, ihren Mann zu finden, sondern ihren vier Kindern so lange es geht ein normales Leben zu ermöglichen. Aber die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Rebellen nehmen das Ausmaß eines Krieges an, in dem die toten und verletzten Bürgerinnen und Bürger nur Kollateralschäden sind. Das gesamte System erodiert, es gilt das Recht des Stärkeren. Lebensmittel werden knapp, Wucherer bereichern sich an der Krise und verlangen horrende Preise. Krankenhäuser arbeiten nur noch eingeschränkt. Das Land versinkt im Chaos.

Eilishs in Kanada lebende Schwester bietet ihr Unterstützung an, Irland zu verlassen und mit ihrer Familie zu ihr zu kommen. Aber die Mutter hofft auf Larrys Rückkehr und schafft es nicht, ihren in der Nähe lebenden dementen Vater im Stich zu lassen. In seinen klaren Momenten rät dieser seiner Tochter ebenfalls eindringlich, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen, bevor es zu spät ist. 

Als sich ihr ältester Sohn den Rebellen anschließt und ihr Haus von einer Granate getroffen wird, ändert Eilish ihre Meinung. Doch dann wird ihr zweiter Sohn durch einen Granatsplitter verwundet und muss im Krankenhaus behandelt werden. Die ohnehin schon dramatische Situation verschärft sich auf eine unerwartete Weise, die Eilish nicht für möglich gehalten hätte.

Lesen?

Mit Das Lied des Propheten ist Paul Lynch ein eindringlicher Roman gelungen. Er zeigt, wie fragil eine stabil wirkende demokratische Gesellschaftsordnung tatsächlich ist, wenn dem Treiben faschistischer Kräfte zu lange tatenlos zugesehen wird. Die Handlung bekommt in dem Maß, in dem sich die Krise für das Land und die Familie Stack zuspitzt, eine immer stärkere Eindringlichkeit. Lynch zeigt deutlich, dass eine Selbstbeschwichtigung à la "So etwas kann hier nicht passieren" der falsche Umgang mit Parteien und Personen ist, die ein Land umkrempeln und in eine Autokratie verwandeln wollen. 

Das Lied des Propheten erschien 2023 unter dem Originaltitel Prophet Song. Paul Lynch erhielt im selben Jahr für seinen Roman den renommierten britischen Booker Prize. 2024 erschien das Buch in der Übersetzung von Eike Schönfeld im Verlag Klett-Cotta. Es kostet in der gebundenen Ausgabe 26 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.