Dienstag, 23. September 2025

# 488 - Liebe und Kulturschock - eine anstrengende Mischung

T. C. Boyle verfolgt in seinem neuen Roman No Way
Home
die Spuren einer Liebe, die nicht nur für die beiden hauptsächlich Beteiligten, sondern auch für eine dritte Person anstrengend ist.

Terry ist 31 Jahre alt, Arzt in einem Krankenhaus in L. A. und arbeitet auf die Zulassung als Internist hin. Jeden Tag wird er in der Klinik mit den Folgen von Gewalt und Verwahrlosung konfrontiert. Eines Tages erfährt er, dass seine Mutter verstorben ist. Sie hinterlässt ihm ein Haus in der Wüstenstadt Boulder City und die Hündin Daisy. Terrys Mutter lebte seit einigen Jahren in der Kleinstadt in der Nähe von Las Vegas, Terry kennt den Ort nur von seinen seltenen Besuchen. Nun muss er sich jedoch dort um die Formalitäten kümmern und entscheiden, was aus Haus und Hund werden soll.

Terry lernt dort zufällig die gutaussehende Bethany kennen, die sich von ihrem Freund Jesse getrennt hat und aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist. Zwischen Terry und Bethany gibt es sofort eine Anziehung, die nach einer gemeinsamen Nacht darin mündet, dass die junge Frau hinter Terrys Rücken in das leerstehende Haus seiner Mutter einzieht. Terry schafft es nicht, Bethany vor die Tür zu setzen, denn das Arrangement hat auch für ihn Vorteile. Ab sofort pendelt er an den Wochenenden zwischen Los Angeles und Boulder City, eine Strecke von immerhin mehr als 450 Kilometern.

Was genau Bethany für den jungen Arzt empfindet, bleibt unklar. Für sie ist er auf jeden Fall "eine gute Partie" mit einer hoffnungsvollen Zukunft - in Boulder City, wenn es nach ihr geht. Aber Terry empfindet in der Wüstenstadt einen Kulturschock und erlebt ein Amerika, das ihm bislang fremd war: die Leute haben konservative Ansichten, reichlich Machos und Lebensentwürfe, in denen er sich nicht wiederfindet. Er erlebt, was mit dem Wort "Sozialkontrolle" gemeint ist.

Und dann ist da noch Jesse, Bethanys Ex-Freund. Der Lehrer entwickelt sich zum Stalker und verletzt Terry so schwer, dass dieser seine Facharztausbildung unterbrechen muss. Bethany kümmert sich um Terry, aber die Pflege, die Verantwortung für den Hund und die Erwartungen, die Terry an sie stellt, überfordern sie schnell. Zuverlässigkeit und Disziplin sind nicht unbedingt ihr Ding. Jesse ist charakterlich einfach gestrickt, für ihn zählen männlich-dominante Typen. Er hat seine Eifersucht immer weniger im Griff und verstößt sogar gegen richterliche Auflagen.

Letztlich bleibt wegen ihres ambivalenten Verhaltens unklar, zu wem sich Bethany tatsächlich hingezogen fühlt und ob das, was die beiden jungen Männer für Liebe halten nicht eher der Wunsch nach einer Inbesitznahme ist.

Lesen?

T. C. Boyle hat sich in vielen seiner Bücher mit Klima- und Umweltthemen beschäftigt. In No Way Home werden sie zwar nicht völlig vernachlässigt, aber nur am Rande benannt. Da ist beispielsweise vom stetig sinkenden Wasserspiegel des durch den Hoover-Damm aufgestauten Lake Mead die Rede sowie der Hoffnung, dass es in den Bergen einen schneereichen Winter gibt, damit das Schmelzwasser im Frühling den See speist. Doch der Lake Mead, an dessen Ufer sich Boulder City befindet, hat nicht nur mit dem Wasserverlust, sondern auch mit einer zu starken Wassererwärmung und dadurch übermäßigen Algenausbreitung zu kämpfen.
Etwas rätselhaft bleibt, warum Boyle an dieser Stelle den Tod eines Jungen erwähnt, der sich nach dem Baden in einem nicht benannten amerikanischen Gewässer mit der sog. hirnfressenden Amöbe Naegleria fowleri infiziert hatte. Dieser von Bethany erwähnte Fall bleibt ein loses Ende - ebenso wie der Schluss des Romans. Und es bleibt die Frage: Ist es besser, sich in einer problematischen Beziehung zu arrangieren oder allein zu sein? Um eine befriedigende Antwort zu geben, wurden die Hauptfiguren allerdings nicht klar genug herausgearbeitet.

No Way Home ist im September 2025 im Hanser Verlag erschienen. Die englische Originalausgabe wird im April 2026 veröffentlicht, ebenfalls im Hanser Verlag. Die deutsche Fassung kostet als gebundenes Buch 28 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.



Donnerstag, 4. September 2025

# 487 - Elefanten in Berlin lösen eine Regierungskrise aus

Gaea Schoeters greift in ihrem neuesten Roman Das
Geschenk
 eine politische Begebenheit aus den Jahren 2023 und 2024 auf: Mehrere europäische Staaten, darunter auch Deutschland, sprachen sich dafür aus, das EU-Recht hinsichtlich des Imports von Jagdtrophäen zu verschärfen. Die Einfuhr von beispielsweise Elfenbein sollte nach Ansicht des Bundesumweltministeriums „insgesamt reduziert und im Einzelfall ganz verboten“ werden. 
Botswanas Präsident 
Mokgweetsi Masisi war darüber verärgert, er und andere afrikanische Staatschefs werteten diesen Vorschlag als neokoloniale Einmischung. Im Scherz drohte Masisi, 20.000 Elefanten nach Deutschland zu schicken.

Schoeters hat den Faden weitergesponnen und in ihrem Buch tatsächlich den botswanischen Präsidenten Elefanten nach Berlin schicken lassen. Eines Tages werden einige von ihnen im Morgennebel am Spreeufer gesehen, nach und nach tauchen im ganzen Stadtgebiet immer mehr auf. Zum Schluss werden 20.000 Tiere gezählt. Sie trampeln nieder, was ihnen vor ihre Füße kommt, brauchen riesige Mengen Futter und hinterlassen wahre Kotberge. Außer, dass die riesigen Kotfladen stinken, haben sie noch eine andere Wirkung: In ihnen sind unverdaute Samen aus der afrikanischen Heimat der Elefanten, die die Pflanzenwelt der Hauptstadt verändern. Das bezieht auch hohe Gebäude ein, die schon nach bis dahin elf vergangenen Wochen in einen grünen Mantel eingewoben sind. Geht das wirklich so schnell? Die Antwort: nein.

Die Elefanten-Armada hat aber nicht nur eine ökologische Dimension, sondern wirft auch finanziell, sicherheitstechnisch und politisch reichlich Probleme auf. Bundeskanzler Hans Christian Winkler wird von der Gesamtsituation kalt erwischt. Er muss diese Krise unbedingt bewältigen, denn die nächsten Wahlen stehen an und er will sein Amt gegen den Rechtsaußen-Politiker Holger Fuchs verteidigen. Während ein Krisenstab eingerichtet wird und man Zuständigkeiten hin und her schiebt, verschärft sich die Situation.

Die Elefanten werden von der Bevölkerung zu Beginn ihres Auftauchens als Ereignis angesehen, aber hundert Tage später lehnen sich ganze Berufsgruppen von den Landwirten bis zu den Müllwerkern gegen ihre Anwesenheit auf. Der Kanzler steht als Versager da, sein Kontrahent Fuchs gewinnt in Wählerumfragen an Boden. Der Satz "Wir schaffen das!", fällt auch hier, damit auch die und der Letzte die Parallelen sieht. Wer kann da helfen? Winkler wendet sich an Ex-Kanzlerin Erika Fuchs, die einen Rat parat hat.

Doch kaum, dass sich eine Lösung anbahnt, ergeben sich neue Probleme: Wie kann verhindert werden, dass sich die Elefantenpopulation vergrößert?

Das Ende des Romans erinnert stark an Vorschläge, was mit illegal eingereisten Menschen, die nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, passieren sollte. 

Lesen?

Vor etwa einem Jahr habe ich hier Trophäe vorgestellt, das erste Buch von Gaea Schoeters, das auf Deutsch übersetzt wurde. Nicht nur ich war von diesem Roman begeistert, der inhaltlich und sprachlich überzeugte. Inhaltlich knüpft Das Geschenk daran an, wenn auch weniger überzeugend.

Die amüsante Grundidee, dass sich ein afrikanischer Regierungschef mit dem Verschicken von Wildtieren für eine politische Entscheidung rächen könnte, wird schon ab dem Zeitpunkt unglaubwürdig, in dem völlig unklar ist, wie die Tiere nach Berlin gekommen sind. Doch offensichtlich geht es Schoeters nicht um Elefanten und Artenschutz. Im Verlauf der Handlung wird immer klarer, dass die Elefanten metaphorisch für illegal eingereiste Flüchtlinge stehen, die nun insbesondere von Holger Fuchs für politische Propaganda herhalten müssen: "Und so muss der durchschnittliche, hart arbeitende Deutsche für den Schaden geradestehen, für den invasive afrikanische Arten als Folge irgendeines woken Gesetzes verantwortlich sind." Die Situation ist "der perfekte Nährboden für eine Partei, die nur Phrasen drischt und von der Unzufriedenheit der Bürger lebt. Dass ihre Lösung [...] nicht umsetzbar ist, ist egal; sie können das einfach rausposaunen, ohne es je umsetzen zu müssen."

Die Handlung des Romans erstreckt sich über 435 Tage, wobei Schoeters in großen Zeitsprüngen erzählt. Auf weniger als 150 Seiten reißt sie Themen wie Natur- und Artenschutz, Landwirtschaft, Integration, Klimakrise, Postkolonialismus, die Fallstricke des Politikbetriebs, Wirtschaft, ... - habe ich etwas vergessen? - an, vertieft jedoch nichts davon. Am Ende des Buches bleibt die Frage: Wollte Gaea Schoeters ihre Leserinnen und Leser amüsant unterhalten oder sie zum Nachdenken bringen? 
Von den Geschlechterklischees habe ich da noch gar nicht angefangen. 

Das Geschenk ist 2025 im Zsolnay Verlag erschienen (Übersetzung: Lisa Mensing) und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.



Montag, 25. August 2025

# 486 - VW, China und eine Familiengeschichte

Wer kennt Wenpo Lee? Vermutlich nur wenige Menschen; und das, obwohl Herr Lee für den Volkswagen-Konzern buchstäblich der Türöffner für den Einstieg ins China-Geschäft war und eine beeindruckende Lebensgeschichte hat. Der Journalist Felix Lee hat sich mit seinem Buch China, mein Vater und ich der Lebensgeschichte seines Vaters gewidmet, die eng mit Deutschland und dem Volkswagen-Konzern verknüpft ist.

Wenpo Lee wurde 1936 in Nanjing, der damaligen Hauptstadt Chinas, geboren. Seit dem Sturz der Qing-Dynastie - und damit der Beendigung der 2.000-jährigen Herrschaft chinesischer Kaiser über China -  im Oktober 1911 und der Ausrufung der Republik drei Monate später befand sich das Land im Aufruhr. Die unruhige und instabile Situation mündete 1927 in den bis 1949 dauernden Chinesischen Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der Kommunisten über die nationalistische Partei Kuomintang und der Gründung der Volksrepublik China endete. Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong die Chinesische Volksrepublik.

Das ist ein stark verkürzter geschichtlicher Abriss, der die Not, in der sich die Bevölkerung während dieser jahrzehntelangen Machtkämpfe befand, nicht annähernd beschreiben kann. Die Armut der Menschen war so groß, dass jeder um sein eigenes Überleben kämpfte. 

Die Familie Lee lebte vom Getreidehandel. Als die Soldaten der Kommunistischen Partei 1948 auf Nanjing zumarschierten, war Wenpo Lees Vater klar, dass sein Geschäft unter deren Herrschaft am Ende war. Wenpo floh als 12-Jähriger mit zwei Schwestern und einem Schwager nach Taiwan. Doch seine Hoffnung, seine Familie bald wiederzusehen, erfüllte sich fast dreißig Jahre lang nicht: Mao Zedong schirmte Festland-China völlig von der Außenwelt ab. Die geflüchteten Chinesen und Chinesinnen galten als Klassenfeinde, der Kontakt zu ihnen war verboten.

Wenpo arbeitete in Taiwan in einem Fahrradgeschäft und lernte dort die Grundlagen der Mechanik. Einer Fachhochschuldozentin fiel dort die besondere Begabung des Jungen auf. Sie nahm ihn bei sich auf und bezahlte seinen Schulbesuch. Danach besuchte Wenpo erfolgreich eine Fachhochschule und eine Militärhochschule, an der er Fahrzeugtechnik studierte. Sein nächster Schritt war wieder einem glücklichen Umstand zu verdanken: Einer der dortigen Professoren hatte in Deutschland Motorentechnik studiert und riet Wenpo, das ebenfalls zu tun. Der junge Mann folgte dem Rat 1962, studierte in Aachen Maschinenbau und promovierte. Er bewarb sich erfolgreich auf eine Stelle als Ingenieur bei Volkswagen in Wolfsburg, heiratete eine Chinesin und wurde nicht viel später zum ersten Mal Vater. 

1972, nachdem Mao Zedong zu einer Rückkehr zur Normalität aufgerufen hatte, wagte es Wenpo, seinem Vater einen Brief zu schreiben. Das war die erste Kontaktaufnahme mit der Familie auf Festland-China seit 24 Jahren. Es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, bis Wenpo Lee seine Heimatstadt Nanjing wiedersah. Zwei Jahre zuvor war sein zweiter Sohn Felix geboren worden.

Lesen?

Felix Lee hat mit China, mein Vater und ich ein spannendes Buch geschrieben, in dem er anschaulich die Entwicklung Chinas von einem bitterarmen und unbedeutenden Land zu einem machtbewussten und wirtschaftlich stark prosperierenden Staat beschreibt, der einen großen Einfluss auf die Weltpolitik ausübt.

Und inwiefern war Wenpo Lee für VW ein Türöffner ins China-Geschäft? Das ist eine Anekdote, die Felix Lee gleich im ersten Kapitel beschreibt. 1978, als sein Vater dort eine Forschungsabteilung zur Entwicklung sparsamer Motoren leitete, standen einige Chinesen unangemeldet am Werkstor. Niemand wusste, was sie wollten. Einer von ihnen bezeichnete sich selbst als den chinesischen Maschinenbaumeister. Man bat ihn, den einzigen Chinesen im Werk, zu dolmetschen. Die Familie Lee war völlig in Deutschland integriert. Ihr Leben unterschied sich in nichts von dem deutscher Familien. Wenpo Lee hatte sich lange Zeit nicht mehr für die chinesische Politik interessiert und starke Zweifel, dass es sich bei der Gruppe am Werkstor tatsächlich um Chinesen handeln könnte. Für Deutsche sahen Asiaten schließlich alle gleich aus. Doch er sollte sich irren: Die Delegation wurde vom chinesischen Minister für Land- und Industriemaschinen angeführt und interessierte sich für Nutzfahrzeuge. Dieser Tag markiert den Grundstein für das Engagement von Volkswagen in China, das ohne Wenpo Lees Vermittlung so nicht oder erst später zustande gekommen wäre.

Wenpo Lee starb vor wenigen Wochen im Alter von 89 Jahren in Wiesbanden.

China, mein Vater und ich ist 2023 im Aufbau Verlag erschienen. Mir lag die Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2024 vor, die 5,-- Euro kostet.

Felix Lee gewann 2023 mit seinem Buch den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis.

Dienstag, 12. August 2025

# 485 - Tod, Liebe - Mallorca

Es fällt fast gar nicht auf, dass ich ein Fan von 
Mallorca bin. In meiner Bücherkiste habe ich bislang fünf Titel vorgestellt, die mit der Baleareninsel in Verbindung stehen (siehe unten). Klar, dass ich Das Teufelshorn von Anna Nicholas lesen musste. Nicholas ist Britin, lebt aber schon viele Jahre auf Mallorca.

Dort hat sie nun den ersten Band ihrer Cosy-Crime-Reihe um die ehemalige Polizistin Isabel Flores Montserrat angesiedelt. Isabel ist Anfang 30, Single, in ihrem fiktiven Heimatdorf Sant Martí beliebt und hat vor zwei Jahren den Polizeidienst in Palma gegen die Arbeit in der Vermittlungsagentur für Ferienwohnungen ihrer Mutter getauscht. Dort wird sie von Pep, dem Bruder ihrer besten Freundin, unterstützt. Seitdem Isabel sich um die Agentur kümmert, hat diese sich zu einem lukrativen Unternehmen entwickelt. Insgeheim trauert sie der Polizeiarbeit jedoch ein bisschen nach.

Doch dann passiert am Montag, dem 20. August um 14 Uhr etwas Schreckliches: Die achtjährige Britin Miranda Walters verschwindet unbemerkt am Strand von Pollença, als ihre Mutter einen kurzen Moment abgelenkt ist. Es gibt keine Anhaltspunkte, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handeln könnte. Aber die Lokalpolitik ist sich einig: Der Fall muss so rasch wie möglich aufgeklärt werden, um schlechte Presse zu vermeiden. Isabels Ex-Chef in Palma, Hauptkommissar Tolo Calbot, bittet seine frühere Kollegin noch am selben Tag um ihre Hilfe.

Die Suche nach dem Kind sollte alle Alarmglocken schrillen lassen, aber wie so oft zieht ein Verbrechen ein weiteres nach sich. Mindestens. So ist es auch diesmal: Ein alter Mann, der gemeinsam mit seiner Haushälterin in seiner Finca lebt, wird grausam ermordet aufgefunden. Die ebenfalls betagte Angestellte wurde von den Tätern an einen Stuhl gefesselt. Beide stammen ursprünglich aus Kolumbien. Der Senior ist dem örtlichen Pater wegen seiner Frömmigkeit bekannt, auch die Haushälterin ist eine eifrige Kirchgängerin. Ansonsten lebten die beiden alten Leute sozial isoliert. Wer hatte einen Grund, diesen Mord zu verüben? Auch für diesen Fall wird Isabel von der Polizei um Unterstützung gebeten.

Und dann ist da noch das mysteriöse Kokain in einer Meereshöhle, das vermutlich von Drogenschmugglern dort versteckt wurde. 
Als ob das nicht reichen würde, kommt noch eine dem Okkultismus anhängende Bruderschaft hinzu, die vor langer Zeit vom Drogenbaron Pablo Escobar gegründet wurde. Hier kommt der Buchtitel ins Spiel: Das Geheimzeichen dieser Bruderschaft ist ein Teufelshorn gewesen.

Lesen?

Das Teufelshorn ist genau das Richtige für einen entspannten Sommertag auf Mallorca oder anderswo. Der Roman ist leichte Lektüre, die man genießen kann, wenn man die Dinge nicht so eng sieht. Ich finde allerdings, dass der Respekt vor den Leserinnen und Lesern beinhaltet, ihnen keine falschen Informationen anzubieten. Einige Beispiele, über die ich in diesem Buch gestolpert bin: 

Wer Mallorca kennt, weiß, dass Pollença keinen Strand hat, sondern man nach Port de Pollença fahren muss, um das Meer zu genießen. 
Nicholas beschreibt das Innere einer Höhle im Westen Mallorcas, in der Jahre zuvor die Knochen von Tausenden von Höhlenziegen gefunden worden waren. In diesem Zusammenhang spricht sie von einem "Elfenbeinberg", der ein Geschenk für Paläontologen war. Als Elfenbein werden die Stoßzähne von Elefanten oder Mammuts, manchmal auch die Eck- oder Stoßzähne einiger Säugetiere wie zum Beispiel Pott- oder Narwale bezeichnet. Kein Teil einer Ziege ist als Elfenbein bekannt.
Die toxikologische Untersuchung des ermordeten alten Mannes ergibt, dass er mit einer Substanz vergiftet wurde, "die als Burundanga bekannt ist. Das Pulver wird aus einem Nachtschattengewächs hergestellt, das in Kolumbien verbreitet ist. Wohlgemerkt, es wächst auch hier auf Mallorca." Doch diese Nachricht des Rechtsmediziners überrascht Isabel nicht: "Ich kenne Burundanga. [...] Enthält Scopolamin." Das geht knapp an den Tatsachen vorbei: Burundanga ist die in kriminellen Kreisen verwendete Bezeichnung für Scopolamin. Scopolamin ist Burundanga und nicht ein Teil davon. Für seine Herstellung kommen viele Nachtschattengewächse infrage und nicht nur eines. Einige davon (z. B. Engelstrompete, Stechapfel, Bilsenkraut) gibt es auf Mallorca, aber auch in den meisten anderen Teilen der Erde. 
Diese und weitere Ungenauigkeiten können als dramaturgische Kniffe bewertet werden, haben mich allerdings gestört. 

Irritierend ist auch Isabels Cleverness als Alleinstellungsmerkmal unter allen mit den Fällen befassten Personen. Sie lässt ihre früheren Kontakte spielen (hat ihr Ex-Chef keine?), hat immer den richtigen Riecher und ist einfach unverzichtbar. Man will nicht wissen, wie die mallorquinischen Polizeibehörden zurechtkommen, wenn sich Isabel eines Tages entschließt, sich nur noch um die Agentur zu kümmern. 

Die Handlung ist abseits des kriminellen Anteils in eine Atmosphäre voller Harmonie und Zuneigung eingebettet. Außer von den Bösen fällt keine hässliche Bemerkung, niemand ist ungeduldig. Die Beschreibung von Mallorcas Schönheit vervollständigt die Idylle. Zum Schluss warten noch ein Liebes-Cliffhanger und die Auflösung des Rätsels um das Verschwinden von Isabels Onkel auf die Leserinnen und Leser des zweiten Bands.

Das Teufelshorn ist 2025 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 18 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

Nachtrag
Wie oben angekündigt zeige ich euch, welche Bücher über Mallorca sich außerdem in meiner Bücherkiste tummeln:

Freitag, 8. August 2025

# 484 - Abschied: Ein Zeitzeugnis und eine unerfüllte Liebe

Der 1999 verstorbene Sebastian Haffner wurde als
Journalist und Autor von zeitgeschichtlichen Büchern wie Anmerkungen zu Hitler oder Von Bismarck zu Hitler bekannt. Auf Anraten seines Vaters stellte er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, zurück, und studierte Jura. Erst jetzt, fast einhundert Jahre nach dessen Fertigstellung, erscheint Haffners Roman Abschied.
 

Haffner, der unter dem Namen Raimund Pretzel geboren wurde, schildert seine Liebe zu Teddy während seiner Zeit als Rechtsreferendar am Amtsgericht Rheinsberg. Mit Teddy ist Gertrude Joseph gemeint, die als Jüdin bereits 1930 angesichts des in Deutschland erstarkenden Nationalsozialismus' nach Paris emigrierte und dort studierte. Teddy umgab sich mit interessanten Personen und war für Haffner die Verkörperung von Lebenslust und Unabhängigkeit. Die beiden fühlten sich zueinander hingezogen, wurden aber nie das, was man als Liebespaar bezeichnen würde. Abschied spielt 1930 zwischen Rheinsberg und Berlin sowie 1931 in einer Pension in Paris, in die sich Haffner für seinen Besuch bei Teddy eingemietet hat. Dort wohnt die junge Frau ebenfalls, und der verliebte Referendar erlebt, wie seine Angebetete ihre Zeit verbringt - und mit wem. 

Haffners Beziehung mit Teddy ist ein Wechselspiel zwischen Anziehung und Abstoßung. Man spürt beim Lesen, wie sehr sein Herz an ihr hängt und ahnt früh die Melancholie des Abschieds, die sich auf dem Bahnsteig des Gare du Nord einstellt. Das letzte Gespräch der beiden bleibt im Ungefähren, es werden keine Zusagen oder gar Liebesschwüre ausgetauscht, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft machen könnten.

Lesen?

Raimund Pretzel emigrierte 1938 nach Großbritannien, nachdem er im nationalsozialistischen Deutschland weder persönlich noch politisch eine Zukunft sah. Da er sich in Deutschland in einem liberalen Umfeld bewegte, befürchtete er Repressalien. In Großbritannien arbeitete er als Journalist und nahm den Namen Sebastian Haffner an, um insbesondere seine Eltern zu schützen. 

Haffner hat Abschied innerhalb weniger Wochen zwischen dem 18. Oktober und dem 23. November 1932 geschrieben. Sein Roman ist in einem gerade für die damalige Zeit gelösten und beschwingten Stil verfasst. Die Sprache macht jedoch deutlich, wie viel Zeit über das Buch hinweggegangen ist: Haffner verwendet häufig veraltet wirkende Begriffe oder Formulierungen, die heute in einem anderen Kontext stehen. So beschreibt er beispielsweise den Inhalt seines überquellenden Reisekoffers mit dem Satz: "In meinem Koffer ging es zu wie in einem Konzentrationslager oder in einem Flüchtlingszug." Das erste NS-Konzentrationslager (Dachau) gab es allerdings erst 1933. Der Begriff war jedoch seit dem 19. Jahrhundert in Zusammenhang mit den kubanischen Unabhängigkeitskriegen (1868-1898) und dem Burenkrieg (1899-1902) in der Welt.

Die Familie von Sebastian Haffner, insbesondere sein Sohn Oliver Pretzel, haben die Veröffentlichung von Abschied ermöglicht. Eine gute Entscheidung.

Abschied wurde 2025 im Carl Hanser Verlag veröffentlicht und kostet 24 Euro.

 


Dienstag, 29. Juli 2025

# 483 - Surreale Kurzgeschichten

Etgar Keret ist ein Experte für Kurzgeschichten. Nicht
nur, aber auch. In seinem neuesten Buch Starke Meinung zu brennenden Themen versammeln sich 33 von ihnen und bieten ihren Leserinnen und Lesern einen oft surrealen Blick aufs Leben.

Haben wir uns nicht manchmal gewünscht, in eine Zeitmaschine zu steigen und in der Zeit vor oder zurück zu reisen? Kerets Vision in einer der Geschichten macht es möglich, hat jedoch einen entscheidenden Haken: Wer in die Zukunft reist, nimmt an Körpergewicht zu; wer sich in der Vergangenheit umsehen möchte, verliert zwar einige Kilogramm, muss sich aber mit den Gefahren des vergangenen Zeitalters herumschlagen und dort bleiben, wenn er nicht wieder sein altes (Über-)Gewicht bekommen will.

Der Verlauf der titelgebenden Geschichte der englischen Ausgabe (Autocorrect) erinnert entfernt an den Kinofilm "Und täglich grüßt das Murmeltier": Juvi ist CEO des von ihm gegründeten Unternehmens. Heute ist ein wichtiger Tag, weil die Chinesen einen Vertrag unterschreiben werden. Sein Vater kommt an diesem Morgen schon früh in Juvis Wohnung und möchte mit ihm gemeinsam in die Firma fahren. Doch dann gibt es einen Unfall, bei dem der Vater ums Leben kommt. Die Frage, die sich Keret gestellt hat, lautet: Hätte das Unglück durch eine andere Entscheidung verhindert werden können? 
Wie oft haben wir uns das nicht schon selbst gefragt: Was wäre gewesen, wenn ich dies oder jenes getan oder gelassen hätte? Wir haben darauf keine Antwort, aber Keret nimmt sich die Freiheit, den morgendlichen Ablauf wieder und wieder wie einen Film zum Anfang zurückzuspulen. Jeder neue Anfang birgt die Chance, dass nun alles gut wird oder das Schicksal erneut die Keule herausholt.

Fast alle Kurzgeschichten spielen in Israel, der Heimat des Autors, und viele ranken sich in irgendeiner Weise um den Tod. Keret greift in den meisten dieser kurzen Szenarien ein aktuelles Thema auf und überzeichnet es stark. Das gilt auch für die Titelgeschichte der deutschen Ausgabe: Im Mittelpunkt steht ein Mann, der auf eine Zeitungsanzeige stößt, die provokativ "Haben Sie eine starke Meinung zu brennenden Themen?" fragt. Meine Güte, wer hat das heutzutage nicht? Sind wir nicht umgeben von Leuten, die weniger durch Kenntnisse, aber umso mehr durch ihre (laut)starken Meinungen auf sich aufmerksam machen? Und haben diese Leute nicht so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, gequirlten Blödsinn in die Welt zu pusten? Hier setzt Kerets Geschichte an und gewinnt an Fahrt, als der junge Mann den zweiten Satz der Annonce liest: "Jetzt können Sie viel Geld aus Ihren Meinungen machen!" Ein Geschäftsmodell, das mit einem stabilen Einkommen mit wenig Leistung lockt - oder?

Lesen?

Etgar Keret greift wie nebenbei politische und gesellschaftliche Dystopien auf, die zum Teil bereits Wirklichkeit geworden sind: Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts währende israelisch-palästinensische Hass oder die Corona-Pandemie sind Beispiele dafür. Viele Texte beschreiben einen Alltag, der so auch in den USA stattfinden könnte: Hedgefonds, Dating-Plattformen oder Streaming-Dienste sind Teil des Lebens. Nur wegen der israelischen Ortsbezeichnungen oder den Erwähnungen des israelischen Militärs sowie der Hisbollah wird dieser irreführende Eindruck geradegerückt. Tatsächlich wurden zahlreiche Kurzgeschichten aus diesem Buch in US-amerikanischen Medien veröffentlicht. Jüdisches Leben kommt nur vereinzelt vor, was ein deutlicher Gegensatz zu Büchern anderer jüdischer Autorinnen und Autoren wie beispielsweise Deborah Feldman oder Akiva Weingarten ist.

Kerets Art, zu schreiben, ist sehr speziell und oft irritierend. Bei manchen Geschichten bleibt das Lachen im Hals stecken, weil trotz des Humors, der sich durch die Seiten zieht, viele der Hauptfigur von einer atmosphärischen Düsternis umgeben sind, die sie daran hindert, glücklich zu sein, obwohl sie vom Glück nur eine Handbreit entfernt sind. Kann ich Starke Meinung zu brennenden Themen empfehlen? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.

Starke Meinung zu brennenden Themen ist 2025 in der Übersetzung von Barbara Linner im Aufbau Verlag erschienen. Das gebundene Buch kostet 24 Euro, das E-Book 17,99 Euro.

Montag, 21. Juli 2025

# 482 - Männer, die die Welt verbrennen

Dieses Buch gehört zu denen, die mich beim Lesen wirklich auf die Palme gebracht haben. Nicht, weil ich den Autor Christian Stöcker kritisieren würde oder nichts vom Inhalt seines Buches Männer, die die Welt verbrennen halte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Erkenntnisse aus Stöckers Recherchen rund um die Fossil-Branche sind so haarsträubend, dass man sie ins Reich der Verschwörungserzählungen verweisen möchte - wohin sie nicht gehören. Ein paar Kostproben gefällig?

Zwischen 1970 und 2020 hat die Öl- und Gasbranche inflationsbereinigt pro Jahr einen Gewinn (!) von einer Billion Dollar gemacht. Das sind drei Milliarden Dollar pro Tag! Das entspricht etwa dem jeweiligen Umfang der öffentlichen Haushalte von z. B. Kanada, Italien oder Brasilien. 
Subventionen (= Steuergelder) tragen dazu bei, dass es der Branche weiterhin gut geht. Der Internationale Währungsfond (IWF) stellte fest: "Weltweit beliefen sich die Subventionen für fossile Brennstoffe im Jahr 2022 auf 7 Billionen US-Dollar oder 7,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was einem Anstieg von 2 Billionen US-Dollar seit 2020 entspricht [...]" Wohlgemerkt nur in diesem einen Jahr.

Noch nicht mal während der Covid19-Pandemie mussten sich die Ölkonzerne um ihr Geschäftsmodell Sorgen machen: Der Gewinn (!) der fünf größten Öl-Aktiengesellschaften ExxonMobil, Shell, Chevron, Total und BP betrug 2022 insgesamt 200 Milliarden Dollar.

Christian Stöcker hat sein Buch in neun Kapitel aufgeteilt. Sehr anschaulich beschreibt er, wie das Netzwerk der Klimawandelleugner erfolgreich agiert, wer am meisten von Geschäften mit fossilen Energien profitiert und wer für die möglichst lange Beibehaltung von Öl und Gas verantwortlich ist. Die maßgeblichen Akteure sind Männer. Es fallen Namen von einflussreichen Profiteuren wie zum Beispiel Charles Koch, Donald Trump oder Wladimir Putin. Sie benutzen ihre Macht und ihr Geld, um Entscheidungsträger in ihrem Sinne zu beeinflussen. Doch es gibt auch eine Reihe von Staaten, deren Haupteinnahmequelle die Erdöl- oder Erdgasförderung ist. Manchmal ist sie sogar die einzige nennenswerte Einnahmequelle. Auch sie sind Teil einer weltweiten Manipulationsmaschinerie.

Desinformation ist ebenfalls sehr gut geeignet, das "bewährte" Geschäft am Laufen zu halten. Erinnert sich noch jemand an die gigantischen Desinformationskampagnen, die die US-amerikanische Tabakindustrie ab 1960 gestartet hatte? Kurz zuvor hatten wissenschaftliche Studien einen Zusammenhang zwischen Zigarettenkonsum und schweren Erkrankungen wie zum Beispiel Lungenkrebs oder chronischer Bronchitis festgestellt. Das Geschäftsmodell der Tabakindustrie drohte, ins Wanken zu geraten. Die Branche streute gezielt Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Studien: Wissenschaftler wurden für dem Rauchen unkritisch gegenüber stehende Studien bezahlt, es wurde Werbung mit irreführenden Botschaften geschaltet und man erzeugte den Eindruck, dass es in der Wissenschaftsszene zwei Lager gebe - was falsch war.

Was das mit der Fossilbranche zu tun hat? Von ihr wird mit denselben Mitteln erfolgreich die öffentliche Meinung beeinflusst, obwohl man dort längst weiß, dass die durch das Verbrennen von Erdöl und -gas freigesetzten Treibhausgase die Erde immer weiter aufheizen. Zitat aus einem internen Briefing mit dem Betreff "CO2 Greenhouse-Effect" des Exxon-Konzerns aus dem Jahr 1982:

"Die Verbrennung fossiler Brennstoffe und die Abholzung von Wäldern gelten als die wichtigsten anthropogenen Faktoren [...]. Wir gehen davon aus, dass sich der Klimawandel um das Jahr 2090 verdoppeln könnte, basierend auf dem im langfristigen Energieausblick von Exxon prognostizierten Brennstoffbedarf. [...] Unsere beste Schätzung geht davon aus, dass eine Verdoppelung der aktuellen Konzentration die durchschnittliche globale Temperatur um etwa 1,3 bis 3,1 Grad Celsius erhöhen könnte." Der Text belegt, dass dem Exxon-Konzern der Zusammenhang zwischen dem Verbrennen von fossilen Brennstoffen und dem Treibhauseffekt schon vor mehr als vierzig Jahren bekannt war.

Doch der Blick richtet sich auch nach Deutschland. Ein Klimawandelleugner-Netzwerk ist hier ebenfalls erfolgreich aktiv. Ein seit 2007 eingetragener Verein mit Verbindungen zu einem FDP-Bundestagsabgeordneten, der AfD sowie Koch Industries streut Halb- oder Unwahrheiten, die durch dessen gute Vernetzung ihre gewünschte Wirkung nicht verfehlen. Derselbe Abgeordnete gründete vor mehr als zehn Jahren eine sogenannte Denkfabrik, die sich als 'Freiheitsinstitut' bezeichnet und libertäre Positionen vertritt, wozu auch die Leugnung des Klimawandels gehört. Diese Denkfabrik ist Teil des Atlas-Netzwerks, das aktiv eine 'klimaskeptische' Grundhaltung vertritt und beispielsweise - wenig überraschend - von den Stiftungen der Koch-Brüder und ExxonMobil finanzielle Zuwendungen erhält.

Im letzten Kapitel "Das Zeitalter des Lichts hat begonnen, das des Feuers muss enden" gibt Stöcker einen Ausblick auf eine Entwicklung, die bereits begonnen hat. In immer mehr Ländern wächst die Erkenntnis, dass die bisherigen Arten, Energie zu erzeugen (einschließlich Atomstrom), im Vergleich zu erneuerbaren Ressourcen zu kostspielig sind. Zitat aus einer 2021 von BloombergNEF veröffentlichten Studie: "In Staaten einschließlich China, Indien und Deutschland ist es jetzt billiger, ein neues, großes Solarkraftwerk zu errichten, als ein bereits existierendes Kohle- oder Gaskraftwerk weiterzubetreiben."

Die Abkehr vom Verbrennen von fossilen Ressourcen wird, wenn nicht aus Klimaschutzgründen, aus ökonomischen Gründen erfolgen.

Lesen?

Der Journalist und Fachhochschul-Professor Christian Stöcker beschäftigt sich schon lange mit Technik-, Energie- und Klimathemen. Mit Männer, die die Welt verbrennen zeichnet er die Mechanismen nach, die der Fossilwirtschaft immer noch ihre großen Gewinne sichern und nur ein Ziel haben: einem kleinen Kreis von Männern (und ihren Unternehmen) ihren Profit zu sichern, auch mit Steuergeldern.

Männer, die die Welt verbrennen ist 2024 bei Ullstein Buchverlage erschienen. Mir lag die im selben Jahr herausgegebene Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung vor, die als Paperback für 5,-- Euro erhältlich ist.

Sonntag, 13. Juli 2025

# 481 - Miss History schreibt

Wer ein bisschen auf Social Media-Kanälen wie
Instagram, Facebook oder TikTok unterwegs ist, ist ihren Beiträgen vielleicht schon begegnet: Unter dem Namen 'Miss History' stellt Melina Hoischen interessante historische Ereignisse vor. Das tut sie in mittelalterlich anmutenden Gewändern und spricht dabei ihr Publikum stilecht mit "Edeldamen und Edelherren, seid gegrüßt zu Eurem täglichen Geschichtswissen" an. Ich kenne sie von Instagram, wo ihr 326.000 Menschen folgen.

In ihrem Buch Mystery mit Miss History hat sie aus ihrem mittlerweile großen Themenfundus zwölf historische Begebenheiten ausgewählt, die so rätselhaft sind, dass sie nicht nur die Menschen ihrer Zeit beschäftigt haben, sondern auch Kriminologen, Theologen, Ingenieure oder Historiker bis heute nicht zur Ruhe kommen lassen.

Melina Hoischen versucht den Rätseln, soweit es mit dem verfügbaren Material möglich ist, auf den Grund zu gehen. Sie widmet sich unter anderem ausführlich den 4.500 Jahre alten Pyramiden von Gizeh, der geheimnisumwobenen Legende von El Dorado oder den steinernen Moai-Statuen, die angeblich über die Osterinsel wandern. Welche Erklärungen gibt es für die rätselhaften Phänomene? Gibt es wissenschaftliche Beweise zum Beispiel für die Existenz von Päpstin Johanna im 9. Jahrhundert? Kann es sein, dass das legendäre Bernsteinzimmer noch existiert? Was hat es mit dem "Zodiac-Killer" auf sich, der Ende der 1960-er Jahre im kalifornischen Napa-Valley die Bürgerinnen und Bürger in Angst und Schrecken versetzte? Und warum und wo ist die Boeing 777 mit der Flugnummer MH 370 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking abgestürzt?

Die Autorin und Moderatorin schreibt in einem lockeren, manchmal auch flapsigen Stil. Jedes Ereignis wird verständlich erklärt, es sind keine Vorkenntnisse nötig, um ihr zu folgen. Sie greift Beweise und Gegenbeweise auf und erläutert sie gut nachvollziehbar.
Hoischen hat ihrem Buch (E-Book) fünfzig Seiten Fußnoten und Anmerkungen beigefügt, der Tonfall ist aber nicht so sachlich und nüchtern, wie man ihn von den meisten Sachbüchern kennt. Sie hat neben dem Informations- auch auf den Unterhaltungswert Wert gelegt. Beides ist ihr gelungen.

Lesen?

Mystery mit Miss History greift spannende und bekannte Rätsel der Weltgeschichte auf, über die immer wieder in unregelmäßigen Abständen in den Medien berichtet wird - dann, wenn es (angeblich) neue Erkenntnisse gibt. Das ist interessant und haucht den geschichtlichen Ereignissen, die man in der Schule vielleicht mit einem unterdrückten Gähnen verfolgte, Leben ein.

Hoischers Schreibstil hat mich nicht durchgehend begeistert: zu viele Ausrufungszeichen, zu viele "..." bei etwas Geheimnisvollem oder Unerklärlichem und ab und zu eingestreute Emojis. Aber das ist Geschmackssache und hält mich nicht davon ab, das Buch als Lektüre zu empfehlen.

Mystery mit Miss History ist 2025 bei Knaur erschienen und kostet als gebundenes Buch 18,99 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Freitag, 11. Juli 2025

# 480 - Ein tödliches Testament

Der bekannte und wohlhabende Seidenfabrikant Sahei Inugami hat sowohl sein Unternehmen als auch seine Familie streng patriarchalisch geführt. 1945 stirbt der 81-Jährige in seinem Anwesen am Nasu-See im Kreis seiner Familie. Nur sein Anwalt Kyozo Furudate ahnt, dass mit dem letzten Atemzug des alten Mannes keine guten Zeiten anbrechen. Furudates ungutes Gefühl soll sich in Der Inugami-Fluch des japanischen Krimi-Autors Seishi Yokomizo bewahrheiten. Das Buch ist der vierte Band einer Reihe um den unkonventionellen, aber erfolgreichen Privatdetektiv Kosuke Kindaichi.

Kindaichi wird von einem Mitarbeiter Furudates gebeten, unverzüglich an den Nasu-See zu kommen. Jemand hat unbefugt Inugamis Testament gelesen, der Detektiv soll nun das Schlimmste verhindern. Doch Kindaichi lernt den Mitarbeiter nicht mehr kennen, weil dieser vergiftet wird. Kindaichis Interesse ist geweckt. Mit Erlaubnis der Familie nimmt er an der Testamentseröffnung teil und erlebt hautnah das Entsetzen der Angehörigen: Das Testament des Verstorbenen sieht vor, dass nicht etwa Inugamis drei Töchter oder seine Enkelkinder bedacht werden sollen, sondern die junge und sehr schöne Tamayo Nonomiya das Vermögen erbt. Tamayo ist allerdings kein Familienmitglied, sondern die Enkelin eines Priesters. Dieser kümmerte sich um den damals 17-jährigen Waisen Inugami und hat ihn sein ganzes Leben lang unterstützt.

Tamayos Erbschaft ist jedoch an eine Bedingung geknüpft: Sie muss innerhalb von drei Monaten einen der Enkelsöhne heiraten. Tut sie es nicht, verfällt ihr Anspruch. Als Nacherbe hat Inugami einen unehelichen Sohn benannt, der seit langer Zeit als verschollen gilt und von der Familie totgeschwiegen wird. Die Erbkonstellation setzt eine Mordserie in Gang, bei der die Toten in bizarren Situationen aufgefunden werden.

Privatermittler Kindaichi findet sich bei seinen Nachforschungen in einem Geflecht von Intrigen, Lügen, heimlichen Liebschaften und enttäuschten Hoffnungen wieder, das er entwirren muss, um herauszufinden, wer für die Morde verantwortlich ist.

Lesen?

Vor mehr als zwei Jahren habe ich hier den ersten Band der 77-teiligen Krimiserie um den Detektiv Kosuke Kindaichi Die rätselhaften Honjin-Morde  vorgestellt. Der Autor Seishi Yokomizo ist bereits seit über vierzig Jahren verstorben, seine Bücher sind in Japan jedoch noch immer populär. Sie bieten einen Einblick in frühere Gepflogenheiten des Landes, an die sich heute nur wenige Menschen erinnern. Bei Yokomizo wird nicht nur gemordet, um jemanden aus dem Weg zu schaffen; es wird gemordet, um mit viel Symbolik und Anspielungen auf Landes- oder Familientraditionen Botschaften zu vermitteln. Das trägt wesentlich zur etwas mystischen Atmosphäre des Krimis bei.

Unübersehbar ist die Beurteilung von Frauen: Yokomizos männliche Figuren beurteilen ihren Wert vor allem nach ihrem Aussehen und ihrer Zugewandtheit. Es wird deutlich, dass Frauen unterhalb von Männern stehen. Diese Sichtweise besteht in der japanischen Gesellschaft seit dem 6. Jahrhundert, als der Konfuzianismus begann, sich im Land auszubreiten. Der Inugami-Fluch ist also nicht nur die Geschichte eines Kriminalfalls, sondern auch ein Blick in eine uns fremde Kultur in einer zurückliegenden Zeit.

Der Inugami-Fluch wurde 1951 im japanischen Original erstmals unter dem Titel Die Familie Inugami veröffentlicht. Der von Ursula Gräfe ins Deutsche übersetzte Krimi erschien 2025 bei Blumenbar, einem Imprint des Aufbau-Verlags. Das Buch (Hardcover) kostet 24 Euro, als E-Book 14,99 Euro.

Mittwoch, 2. Juli 2025

# 479 - Beklaute Frauen

Die Journalistin, Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Leonie Schöler greift in ihrem Buch Beklaute Frauen auf, was lange Zeit nicht im öffentlichen Bewusstsein war: Zahlreiche Frauen, die auf ihrem Gebiet Großes geleistet haben, erlebten, dass nicht sie, sondern die Männer, mit denen sie zusammengearbeitet hatten, geehrt wurden. Diejenigen, die ihnen die Anerkennung verwehrten, waren Männer: Kollegen in der Forschung, Künstler (Picasso kommt hier ganz schlecht weg), einflussreiche Männer des Literaturbetriebs, Ehemänner...

Die Annahme, dass Männer seit Anbeginn der Menschheit dasjenige Geschlecht sind, das führende Positionen inne hatte, während Frauen Früchte sammelten, kochten und sich um die Kinder kümmerten, wurde durch mehrere archäologische Funde widerlegt. Der wohl spektakulärste Fund wurde 2008 gemacht: Bei Valencia wurde das 5.000 Jahre alte Grab eines einflussreichen Herrschers aus der Kupferzeit entdeckt. Darin befanden sich wertvolle Grabbeigaben und aus Elfenbein gefertigte Waffen. Die Wissenschaftler gingen selbstverständlich davon aus, dass es sich bei den Gebeinen um einen Mann gehandelt hat und nannten ihn "Ivory Man". Erst 2023 ergaben DNA-Untersuchungen, dass sich die Forscher geirrt hatten: Es handelte sich bei dieser hochgestellten Persönlichkeit um eine Frau. Man war lange Zeit davon ausgegangen, dass man anhand der Grabbeigaben automatisch auf das Geschlecht einer Person schließen kann. Der geschlechtsbezogene Verzerrungseffekt (Gender Bias) hatte voll zugschlagen. Auch Charles Darwin war von ihm beeinflusst, wie man in seinem 1871 erschienen Werk Die Abstammung des Menschen nachlesen kann:
"Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern." Darwins unvoreingenommene Einschätzung darüber, wozu Frauen in der Lage sind, darf bezweifelt werden. Damit war er in der durch Männer geprägten Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts nicht allein.

Schöler nennt zahlreiche Beispiele von Frauen, die um die Anerkennung ihrer Leistung gebracht wurden. Sie beschränkt sich dabei auf die letzten 200 Jahre in Europa, um eine Einordnung in den historischen Kontext zu ermöglichen. Es geht dabei um bekannte und unbekannte sowie um Frauen, die eine bedeutsame Entwicklung angestoßen haben, die Geschichtsschreibung es aber nicht wichtig fand, ihre Namen festzuhalten. Ob es dabei um Rosalind Franklin (sie wurde um den Nobelpreis gebracht), Elisabeth Hauptmann (sie war zu 80 Prozent am Entstehen von Brechts Dreigroschenoper beteiligt) oder die etwa 6.000 Frauen geht, die am 5. Oktober 1789 am Marsch auf Versailles teilnahmen und von König Ludwig XVI. die Unterzeichnung der Menschenrechtserklärung und die Abschaffung der Privilegien des Adels erzwangen: Ihre Namen wurden ignoriert, ihr Engagement brachte ihnen keine Vorteile.

Männer, die Frauen durch Ausbeutung oder Diebstahl um die ihnen zustehende Anerkennung gebracht haben, fanden oft nichts dabei, mit ihrem Handeln zu prahlen. Ihr Verhalten hatte für sie in der Regel keine negativen Folgen. 
Diesem Buch ist deutlich anzumerken, dass Leonie Schöler Historikerin ist. Sie hat sehr genau recherchiert und ihrem Text sehr viele Quellennachweise, Literaturempfehlungen und ein umfangreiches Personenregister beigefügt.

Lesen?

Das Besondere an Beklaute Frauen ist nicht nur, dass Leonie Schöler über das Schicksal von Frauen schreibt, deren Leistungen durch männliche Einflussnahme unter den Tisch fielen. Sie erklärt darüber hinaus, in welchem historischen Zusammenhang die Unterschlagungen, Betrügereien, Diebstähle und Zurückweisungen stattgefunden haben. Sie nennt die Namen von Männern, die nur vorgaben, mit Frauen auf Augenhöhe leben und/oder arbeiten zu wollen, deren Fähigkeiten jedoch nur für ihren eigenen Erfolg missbrauchten: Darunter sind nicht nur die schon genannten Bert Brecht und Pablo Picasso, sondern auch Karl Marx, Walter Gropius oder Albert Einstein.  Schöler zieht in ihrem Schlusswort ein für Frauen bedrückendes Fazit: "Jede beklaute Frau ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems, das uns alle betrifft und bis heute wirkt."

Wer nach dem Lesen dieses Buches immer noch glaubt, dass der Feminismus überflüssig geworden ist, dem ist nicht mehr zu helfen.

Beklaute Frauen mit dem Untertitel Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte ist 2024 im Penguin Verlag erschienen und kostet 22 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.