Montag, 15. April 2024

# 432 - Der Platz - ein Buch über die innere Distanz zum Vater

Die Literaturnobelpreis-Trägerin Annie Ernaux hat in
ihrem Buch Der Platz über ihr Verhältnis zu ihrem Vater geschrieben, der 1967 gestorben ist - genau zwei Monate nach ihrer Prüfung für den höheren Schuldienst an Gymnasien. Sein Tod war der Anstoß, sich über sein Leben und das, was zwischen Vater und Tochter stand, Gedanken zu machen.

Ernaux hat sich einmal als "Ethnologin meiner selbst" bezeichnet. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wie in Eine Frau geht es auch hier um den sozialen Aufstieg der Eltern, insbesondere aber um den Aufstieg der Tochter Annie, den die Eltern immer gewollt hatten.
Der Vater hat nur eine geringe Schulbildung und wächst unter einfachsten Verhältnissen auf dem Land auf. Nach der Schule wird er zunächst Knecht. Nach dem Ersten Weltkrieg findet er eine Stelle in einer Seilerei. Dort lernt er Ernaux' Mutter kennen. Sein Leben wird von dem Wunsch bestimmt, es einmal besser zu haben und sich einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten. Er ist sich mit seiner Frau einig, dass sie nur ein Kind haben würden. Das konnten sie sich finanziell erlauben, mehr nicht.

Nach einigen Rückschlägen schafft es das Paar, in Yvetot einen renovierungsbedürftigen Hof mit einem Lebensmittelladen und einer Kneipe zu übernehmen. Das Leben von Ernaux' Eltern ist um die Selbstständigkeit herum aufgebaut, Laden und Kneipe werden auch sonntags geöffnet. Um den Erhalt des erreichten sozialen Status' kämpft der Vater bis zum Schluss; es geht ihm darum, seinen Platz im Leben zu verteidigen. Emotionale Zuwendung und Kommunikation sind beiden Eltern jedoch fremd. Die Fürsorge für ihre Tochter drückt sich darin aus, dass sie ihr eine gute Schulbildung ermöglichen, mit der es Annie Ernaux auf die Hochschule schafft.

Je älter Ernaux wird, desto fremder werden ihr die Eltern; das gilt sicher auch in die andere Richtung. Dieses auf dem Bildungsaufstieg des Kindes beruhende Phänomen gibt es heute ebenso wie damals und kann zu einem Kontaktabbruch zwischen den Eltern und ihren Kindern führen. Auch zwischen Annie Ernaux und ihren Eltern gab es Phasen, in denen sie sich kaum sahen, weil sie sich nichts zu sagen hatten oder sich nur stritten. Die Eltern sind stolz auf ihre gescheite Tochter, während diese sich ihrer oft schämt - um sich dann für ihre Scham zu schämen. Diese Scham fühlt sich an wie ein Verrat an den Eltern. Gerade dem Vater ist seine unterprivilegierte Herkunft in seiner Sprache und seinem Habitus anzumerken.

Wie ein dunkler Schatten liegt der Tod von Ernaux' Schwester über der kleinen Familie, die zwei Jahre vor Ernaux' Geburt gestorben ist. Annie ist das Ersatzkind. Auch darüber wird nur einmal gesprochen und danach nie wieder.

Lesen?

Annie Ernaux blickt auf ihr Leben und das ihrer Kernfamilie zurück, indem sie es fragmentiert. Jedem Fragment oder jeder Person wird eines ihrer Bücher gewidmet. So bleibt es nicht aus, dass sich deren Inhalte oft überschneiden. Wer also Eine Frau gelesen hat, dem kommt auch vieles in Der Platz bekannt vor.

Ernaux schreibt auch hier sachlich und schnörkellos. Diese Direktheit ermöglicht es, sich in die Familie einzufühlen und ihre Emotionen nachzuvollziehen. Diese strikte Sachlichkeit führt jedoch dazu, dass auch in schicksalhaften Momenten wie dem Tod des Vaters man als Leser oder Leserin mit Befremden auf das Abspulen des üblichen Alltags blickt, der doch gerade erst erschüttert wurde. Nur der Besuch des Pfarrers und die Beisetzung unterbrechen den gewohnten Tagesablauf.

Einen Hinweis auf den Grund, der Ernaux dazu bewogen hat, über ihren Vater zu schreiben, gibt ein Zitat des französischen Schriftstellers Jean Genet, das der Handlung vorangestellt ist:
"Ich wage eine Erklärung: Schreiben ist der letzte Ausweg, wenn man einen Verrat begangen hat."

Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel La Place. Das mir vorliegende E-Book folgt der 3. Auflage der Ausgabe des Suhrkamp Taschenbuchs 5108 und wurde von Sonja Finck übersetzt.
Der Platz kostet als gebundenes Buch 20 Euro, als Broschur 11 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.


Freitag, 5. April 2024

# 431 - Ein Film

Der Roman Ein Film (3000 Meter) ist aus verschiedenen Gründen etwas Besonderes. Er erschien 1926 in Barcelona in der katalanischen Originalausgabe und auf seinem Cover stand der Name des Autors Víctor Català. Doch hierbei handelte es sich um ein Pseudonym der Schriftstellerin Caterina Albert i Paradís. Man kennt das auch von anderen Autorinnen, denen es nicht möglich war, ihre Werke unter ihrem eigenen Namen zu veröffentlichen, weil sie Frauen waren, und die deshalb den Umweg über ein männliches Pseudonym gehen mussten: George Sand beispielsweise wäre unter ihrem Namen Amandine Aurore Lucile Dupin de Francueil wohl für immer unbekannt geblieben. Das gilt auch für die englische Schriftstellerin Mary Ann Evans, deren Roman Middlemarch 2015 von mehr als 80 Kritikern zum bedeutendsten Roman aller Zeiten gekürt wurde. Sie hat das Buch 1872 unter dem Pseudonym George Eliot veröffentlicht.

Die Handlung des Romans spielt um 1910 herum. In Europa werden Kinos gerade populär, ihre Wirkung wird in literarischen Kreisen diskutiert. 
Auch politisch durchlebte Spanien unruhige Zeiten. Es kam vermehrt zu sozialen Spannungen, und das Land stürzte sich in Nordafrika in den verlustreichen Rif-Krieg, um seinen Status als Kolonialmacht auszubauen. Als das zunächst misslang, kam es in Spanien zu innenpolitischen Problemen, die mit Billigung von König Alfonso XIII. 1923 zur Errichtung einer rechtsgerichteten Diktatur unter General Miguel Primo de Rivera führten.
Im Sommer 1909 gab es in Barcelona einen Arbeiteraufstand, der in mehreren Tausend Verhaftungen und einigen Todesurteilen mündete. In der Folge wurden mehrere Bürgerrechte ausgesetzt.

In dieser Atmosphäre der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit ist Ein Film (3000 Meter) angesiedelt. Im Mittelpunkt steht der 22-jährige Nonat Ventura, der als Säugling in einem Waisenhaus in einer ländlichen Gegend Kataloniens abgegeben wird. Er ist intelligent und entwickelt sich zu einem gutaussehenden jungen Mann. Ein Waisenkind zu sein, empfindet er jedoch als Makel und fühlt sich vom Leben benachteiligt. Er ist sich sicher, wohlhabende Eltern zu haben und fühlt sich um ein schönes Leben betrogen. 

Ein kinderloser Schlossermeister aus Girona nimmt den Jungen bei sich auf und behandelt ihn wie einen eigenen Sohn. Doch Nonat strebt nach Höherem: Er liebt schöne Kleidung und den Lebensstil der wohlhabenden Bürger und weiß, dass er niemals deren Status erreichen kann, wenn er ein Leben als Schlosser lebt. Deshalb verlässt er seinen Ziehvater, der ihm zum Abschied eine Goldunze schenkt, die diesem immer Glück gebracht hat. Die Münze soll nun Nonats Talisman sein.

Nonat findet den Namen seiner Taufpatin heraus. Diese lebt mit ihrem Mann in einem Dorf und spürt schnell, dass der Schönling, der an ihre Tür geklopft hat, Ärger mit sich bringen könnte. Da sie vor 22 Jahren geschworen hat, das Geheimnis von Nonats Herkunft für sich zu behalten, tischt sie diesem eine offensichtliche Lüge auf, um ihn rasch loszuwerden. Der sieht sein Heil nun in Barcelona. Sein Gefühl sagt ihm, dass er dort die Antwort auf seine Herkunft finden wird und die Chance hat, mehr aus sich zu machen. Viel mehr.

Nonat schafft es schnell, dank seiner Cleverness und seines guten Aussehens in Barcelona Fuß zu fassen. Er übernimmt eine Werkstatt, die bald gute Kunden hat, und wird in seinem Umfeld geachtet. Aber das ungelöste Rätsel um seine Herkunft treibt ihn um. Außerdem hat die katalonische Hauptstadt Verlockungen, die Nonat von Girona nicht kannte. Wer es sich leisten kann, fährt mit der Straßenbahn oder sogar Droschke, es gibt viele gute Restaurants und auch kulturell ist Barcelona Girona weit überlegen. Doch diese Möglichkeiten, die Nonat gerne wahrnimmt, übersteigen seine Finanzen. Hat er bislang nur gelegentlich etwas in großen Menschenmengen mitgehen lassen, schart er schon bald einige Kleinkriminelle um sich, die das schnelle und leicht verdiente Geld wittern. Was sie nicht wissen: Alle Menschen, die den jungen Mann für ihren Freund hielten, wurden von ihm massiv enttäuscht. Einige, die ihn früher liebten und bewunderten, hassen ihn nun. Nonat ist das gleichgültig, er sieht nur seinen eigenen Vorteil. Aber wie lange kann er sein Glück, das ihm bisher treu war, strapazieren? 

Dann kommt der Tag, an dem Nonat die Goldunze seines Ziehvaters gestohlen wird...

Lesen?

Ein Film (3000 Meter) wirft ein Licht auf das Leben der Menschen in Katalonien, die vor etwa einhundert Jahren knapp ihr Auskommen hatten oder am Rand der Gesellschaft standen. Nonats brennender Wunsch, ein Mitglied der wohlhabenden Klasse zu sein, zeigt immer wieder, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich war. Doch es war nicht nur das Geld, das ihn von denen "da oben" trennte, sondern auch seine Herkunft, die sich unter anderem in seinem schlechten Spanisch widerspiegelte. 

Catarina Albert i Paradís bettet ihren Roman in ein zeithistorisches Umfeld ein, in dem es in Katalonien und Spanien etliche Erschütterungen gab und man sich neu orientieren musste. Sie gehörte zu den Anhängern des Noucentisme, einer kulturellen und ideologischen Strömung, die mit dem Beginn der Diktatur von Miguel Primo de Rivera ihr abruptes Ende fand. In diese Zeit fiel ihre kreative Krise. Die wenigen Male, in denen sie in ihrem Roman direkt Bezug auf das Kino nimmt, das immer mehr Menschen begeisterte, sind wohl als Annäherung an das neue Medium zu sehen. Catarina Albert i Paradís wird beobachtet haben, welchen Einfluss das Kino auf das Leben und die Gewohnheiten der Menschen nahm. Davon blieb auch die Literatur nicht unberührt.

Einziger Kritikpunkt ist das Fehlen eines Nachworts, das den Kontext für die Romanhandlung liefert. 

Ein Film (3000 Meter) ist 2024 im Kupido Literaturverlag erschienen und wurde sehr lebendig von Petra Zickmann übersetzt.
Der Roman kostet gebunden 29,80 Euro.

Sonntag, 24. März 2024

# 430 - Alles heiter, oder was?

Der durch seine Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung bekannt gewordene Journalist und Schriftsteller Axel Hacke beschäftigt sich in seinem Buch Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte mit der Frage, was es eigentlich mit der Heiterkeit auf sich hat: Stellt sie sich von selbst ein? Muss man einen entsprechenden Charakter haben, um sein Leben heiter zu verbringen? Wie wichtig ist Heiterkeit im Alltag?

Es soll hier nicht um bierselige Festzelt-Heiterkeit gehen oder den Nachbarn, der einen schlüpfrigen Witz nach dem anderen vom Stapel lässt und sich lachend auf die Schenkel schlägt. Was Hacke meint, ist so etwas wie eine Lebensheiterkeit, eine grundsätzliche Einstellung, die das Gegenteil dessen verkörpert, was wir zum Beispiel von der von Charles Dickens geschaffenen Figur Ebenezer Scrooge kennen: einen ständig missgelaunten Menschen, der anderen stets abweisend gegenüber tritt.

Dass sich ausgerechnet Axel Hacke diesem Thema widmet, verwundert zunächst. Seine regelmäßigen oben erwähnten Kolumnen vermitteln Heiterkeit und eine gewisse Leichtigkeit des Seins, ohne oberflächlich zu sein. Doch er sagt tatsächlich über sich, dass er sich im Alltag um die Heiterkeit bemühen muss und kein heiterer Mensch ist.

Den Anstoß zu diesem Buch gab ein Auftrag zu einem Artikel, den er spontan zugesagt hat, dessen Bedeutung für ihn selbst sich Hacke aber erst später erschloss. Es sollte um die Heiterkeit gehen. Aber Hacke merkte rasch, dass dieses auf den ersten Blick luftig-leicht wirkende Wort seine Tücken hat; erst recht, wenn es um Heiterkeit in schwierigen Lebensphasen geht.

Axel Hacke ist nicht mehr weit weg von seinem 70. Geburtstag und damit rund zehn Jahre älter als ich. Beim Lesen seines Buches denke ich immer wieder, dass seine Bewertung von Ereignissen, die er rückblickend als heiter einstuft, auch an seinem Alter und den damaligen "Highlights" liegen mag: Beispielsweise ging es in der mit einer mehrjährigen Pause gesendeten Quiz-Show "Was bin ich?" mit dem Moderator Robert Lembke darum, möglichst rasch den Beruf des jeweiligen Kandidaten zu erraten. Die Sendung hatte in den 1970-er Jahren sehr gute Einschaltquoten und war so wie später "Wetten dass...?" eine Familiensendung. Was der Popularität sicher half, war die geringe Zahl der Fernsehsender: Je nachdem, ob man auch die DDR-Sender empfangen konnte, waren es nur drei oder eben fünf Kanäle. Als ich selbst so alt war wie Hacke zur besten "Was bin ich?"-Zeit, riss mich das Format nicht mehr vom Hocker. Es wirkte auf mich verstaubt und überholt.

Axel Hacke sieht sich bei zahlreichen Fachleuten, die aus verschiedenen Perspektiven etwas über die Heiterkeit geäußert haben, um. Da ist zum Beispiel die Kolumnistin Doris Knecht, die er zitiert, als er sich Gedanken darüber macht, ob es angesichts von Krisen wie dem Krieg in der Ukraine in Ordnung ist, sich seine Heiterkeit zu bewahren. Knecht reagiert 2022 auf die Kritik einer Leserin mit einem Fluchthintergrund und vermittelt hier eine pragmatische Haltung:
"Sie, Knecht, habe etwas über ihre Lieblingsspeisen geschrieben. Die Leserin fand es lächerlich und oberflächlich, angesichts der aktuellen Situation (vor allem des Krieges in der Ukraine) etwas über Essensvorlieben lesen zu müssen. Knecht schrieb die klaren und eleganten Sätze: »Natürlich hat sie recht. Aber ich finde, sie hat auch ein bisschen nicht recht."
Sie schrieb weiter: "Wir haben diesen Krieg nicht angefangen, keiner von uns wollte ihn, alle sind entsetzt. Ich finde nicht, dass wir uns Tag und Nacht dafür schuldig fühlen sollten, dass wir weiter das tun, was auch die Menschen in der Ukraine taten und weiter tun wollten: ganz normal in Frieden leben." Dieser Krieg höre nicht auf, wenn wir aufhörten uns zu freuen an unseren Kindern, an einem guten Essen, an Kunst. Den Menschen in der Ukraine und den Flüchtenden gehe es nicht besser, wenn wir den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen hätten wegen unserer Ohnmacht.
"Was stattdessen passiert: Wir lassen Putin auch Krieg führen gegen uns", schrieb sie. Dann gewinne Putin. Dann bestimme Putin auch über unser Leben und nehme auch uns die Freiheit. "Helfen wir den Menschen in der Ukraine und auf der Flucht, wie und wo wir können, aber lassen wir Putin nicht bestimmen: wie wir leben wollen, woran wir uns freuen und was wir schreiben."

Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich brachte ihre Haltung über das Zulassen von Heiterkeit angesichts von Krisen noch knapper zum Ausdruck, als sie 2008 im Alter von 91 Jahren während eines Vortrags in Frankfurt einem Zuhörer antwortete, der sich länger über die düstere Lage der Nation, den Werteverfall und die unfähigen Politiker ausließ:
"Das ist mir alles viel zu wehleidig, junger Mann. Sie sind ja nur am Jammern. Lassen Sie es mich so sagen: Jedes Leben hat seine Erschütterung, jede Zeit auch. Diese Selbstverständlichkeit zu beklagen - da machen Sie es sich sehr einfach."

Lesen?

Es fällt mir schwer, für dieses Buch eine klare Empfehlung zu geben. Axel Hacke zitiert so viele Wissenschaftler, Autoren, Philosophen und Künstler, dass es an einigen Stellen schwer fällt, den Überblick zu behalten. Dabei drohen seine eigenen Gedankengänge beinahe unterzugehen.

Manchmal kommt es auch vor, dass der Autor einen interessanten Gedanken aufgreift, ihn aber nicht bis zum Ende ausführt. Ein Beispiel hierfür sind die Überlegungen über Weltuntergangsphantasien: Die Vorstellung der Vernichtung alles Lebendigem kennt man in dieser Ausprägung nur in den sog. westlichen Ländern. In China oder Japan ist solch eine Idee einer Komplettvernichtung unbekannt. Die sich für mich automatisch stellende Frage, wie dieser Unterschied zu erklären ist, wird von Axel Hacke nicht beantwortet.

Und zu welchem Ergebnis kommt Axel Hacke nach seinen ausführlichen Überlegungen zu Heiterkeit? Ja, er gibt eine Antwort auf die Frage, wie man ein heiterer Mensch sein kann. Aber ich bezweifle, dass sie das ist, was seine Leserinnen und Leser am Ende dieses Buches erwartet haben.

Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte ist 2023 im DuMont Buchverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.




Samstag, 16. März 2024

# 429 - Ein Krimi, der auf das Leben in Japan im beginnenden 20. Jahrhundert blickt

Der bereits 1981 verstorbene Krimi-Autor Seishi Yokomizo ist in Japan sehr bekannt, außerhalb des Landes war er es bis vor Kurzem nicht. Das änderte sich zumindest für den deutschen Buchmarkt, nachdem der Aufbau Verlag 2022 unter seiner Marke Blumenbar die Übersetzung des ersten Teils der Reihe um den Detektiv Kosuke Kindaichi, Die rätselhaften Honjin-Morde, herausbrachte. Das erstmals 1946 erschienene Buch war so erfolgreich, dass Yokomizo noch 76 weitere Male seinen Detektiv durch Japan schickte, um scheinbar unlösbare Kriminalfälle aufzuklären.

Die Handlung spielt im November 1937 in einer ländlichen Gegend in der Präfektur Okayama. Kenzo, der älteste und bereits 40-jährige Sohn einer begüterten Familie, hat am Vortag im kleinen Kreis geheiratet, als die Familie in der Nacht durch schreckliche Schreie geweckt wird. Kurz erklingt das schnelle Anschlagen einer Koto [Anm.: japanisches Saiteninstrument], gefolgt vom Geräusch eines Aufpralls. Als die Familie das vor Kenzos Haus liegende Gartentor gewaltsam öffnen will, sind wieder die Töne einer Koto und kurz darauf ein sirrendes Geräusch, das von einer gerissenen Saite stammen könnte, zu hören.

Die Familie findet Kenzos Haus verschlossen vor. Auf dem Grundstück sind auf dem frisch gefallenen Schnee keine menschlichen Spuren außer ihren eigenen zu sehen - und ein Schwert, das im Schnee steckt. Mithilfe eines Beils verschaffen sich einige der Männer Zutritt zum Gebäude und finden das Brautpaar getötet in einer großen Blutlache vor. Neben der toten Braut Katsuko steht eine blutverschmierte Koto mit einer gerissenen Saite. Außerdem ist ein Wandschirm umgestürzt. Auf ihm befinden sich ebenfalls Blutspuren: Es ist der Abdruck einer Hand zu sehen, allerdings nur des Daumens, des Zeige- sowie des Mittelfingers. Und offenbar hatte sich der Mörder Koto-Plektren über die Finger gestreift. Ist der mysteriöse Fremde, der im Dorf am Tag der Hochzeit nach dem Weg zum Anwesen der Familie gefragt hatte, der Mörder?

Katsukos Onkel, der Teil der Hochzeitsgesellschaft gewesen ist, registriert, dass der anwesende Kriminalkommissar und sein Assistent an ihre Grenzen stoßen und schickt seiner Frau ein Telegramm: Katsuko tot. Schick Kindaichi.
Wird der Privatdetektiv, der Kriminalfälle nur nach logischen Gesichtspunkten löst, es schaffen, auch hinter das Geheimnis dieses Falls zu kommen?

Lesen?

Die rätselhaften Honjin-Morde ist insbesondere für europäische Leserinnen und Leser ungewöhnlich. Nicht nur, dass Seishi Yokomizo hier ein Locked Room Murder Mystery konstruiert und sein Publikum zwischendurch gekonnt in die Irre führt; der Krimi gibt außerdem einen tiefen Einblick in die gesellschaftlichen Regeln und Lebensumstände im Japan der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - eine Welt, die uns kaum fremder sein kann. Wer normalerweise keine Krimis liest, sollte diesen allein deshalb zur Hand nehmen.

Allerdings ist auch Yokomizos Stil etwas gewöhnungsbedürftig, sodass sich sein Krimi nicht durchgehend flüssig lesen lässt. Aber es lohnt sich, am Ball zu bleiben.

Um den Überblick aufgrund der Vielzahl von japanischen Ausdrücken und auftretenden Personen nicht zu verlieren, sind dem Buch ein Personenregister und ein Glossar angefügt.

Die rätselhaften Honjin-Morde ist gebunden für 20 Euro, als Taschenbuch für 12 Euro, als Audio-Download für 14,99 Euro sowie als E-Book für 9,99 Euro erhältlich.

Anmerkung: Honjins waren während der Edo-Zeit Gasthäuser, in denen nur gehobene Regierungsbeamte und Adelige einkehrten. Wer solch einen Gasthof betreiben durfte, stieg sowohl wirtschaftlich als auch sozial auf. Die Familie des getöteten Kenzo betrieb ein Honjin bis zum Sturz des Shoguns und der Wiederherstellung des kaiserlichen Systems Ende der 1860-er Jahre. Diese Zeit bildet die Grundlage ihres Ansehens und Wohlstands.


Samstag, 2. März 2024

# 428 - Ein Essay über die Liebe

Die Philosophin und Journalistin Veronika Fischer war dabei, eine Doktorarbeit über die Liebe zu schreiben. Dann beschloss sie, nicht zu promovieren und den Inhalt der Beinahe-Dissertation so umzuschreiben, dass er sich als Sachbuch eignet, das auch von Nicht-Philosophen verstanden wird. So entstand Liebe.

Das ist ihr zweifellos gelungen. Beim Lesen erwischt man sich dabei, immer wieder zustimmend mit dem Kopf zu nicken oder über die eine oder andere Aussage nachzudenken. Fischer macht schon zu Beginn deutlich, wie inflationär mit dem im Grunde sehr intimen Begriff "Liebe" umgegangen wird. Ist das Kribbeln im Bauch und der Gefühlsrausch am Beginn einer Beziehung schon Liebe? Oder ist es eine Vorstufe, also die Verliebtheit? Und wie ist das, wenn sich langjährige Freundschaften nach und nach in Liebesbeziehungen verwandeln, ohne dass es vorher die Phase der Verliebtheit gegeben hat?

Fischer zieht zahlreiche Quellen wie Philosophen, Schriftsteller oder Musiker heran, um zu ergründen, was es mit der Liebe auf sich hat. Für die Überlegung, ob es sich bei der Liebe um ein Gefühl handelt, hilft möglicherweise die Definition des Wörterbuches der Philosophie weiter, denn es heißt hier, dass man unter einem Gefühl eine "nicht dem Willen unterliegende, körperlich-seelische Reaktion eines Individuums auf die Inhalte seines Erlebens" versteht. So ganz passt das nicht auf die Liebe.

Vorsicht ist geboten, wenn man auf der Suche nach klugen Ratgebern, die sich in der Vergangenheit bereits über die Liebe Gedanken gemacht haben, auf solche stößt, die außer salbungsvollen Worten nichts Hilfreiches zum Thema zu bieten haben. Beispielhaft sei der französische Schriftsteller Stendhal genannt, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jahrelang eine verheiratete politische Aktivistin liebte, aber von ihr nie erhört wurde. Stendhal hat die Dame nie berührt und die in seinem Inneren mit ihr geführten Gespräche nie in der Realität umgesetzt. Er hatte sein Leben lang keine Liebesbeziehung, weswegen Fischer ihn mit einem mittelalterlichen Minnesänger vergleicht. Wie sollte er etwas Sinnvolles über die Liebe sagen können, wenn er nur das Stadium des Verliebtseins kannte?

Veronika Fischer nähert sich der Liebe von mehreren Seiten und es wird deutlich, was wir schon ahnten: Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, sondern eine Liebesbeziehung basiert auch darauf, dass man an ihr arbeitet und - schöne Grüße an Paare, die sich nur noch anschweigen - miteinander kommuniziert.

Die meisten Überlegungen, die Fischer in Liebe anstellt, sind nachvollziehbar. Einige Stellen fand ich jedoch irritierend, zum Beispiel die Aussage, dass in Liebesbeziehungen nicht automatisch Liebe im Spiel ist. Die Begründung hat mich leider nicht überzeugt.
Auch die Passage, in der es heißt, dass "in vielen anderen Kulturen [...] arrangierte Ehen ein fester Bestandteil der Liebespraxis (sind), bei deren Nicht-Befolgung ein Verstoßen aus der Gemeinschaft droht", ließ mich ratlos zurück. 

Lesen?

Liebe ist ein lesenswerter Exkurs in ein Thema, über das wohl schon nachgedacht wird, seitdem Menschen Sätze formen können. Dem Text ist zwar manchmal anzumerken, dass seine Autorin mit ihm ursprünglich etwas anderes vor hatte, den für wissenschaftliche Arbeiten verwendeten sprachlichen Duktus vermeidet Fischer jedoch. Manche Aussagen werden jedoch nicht weiter vertieft und bleiben einfach im Raum stehen. Da wäre an einigen Stellen mehr möglich gewesen.

Liebe ist 2024 im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.


Dienstag, 27. Februar 2024

# 427 - Der Schiffskoch und der Ziegenbock

Ich wollte eigentlich nur in unseren örtlichen Buchladen, um ein Geschenk zu kaufen. Als ich hatte, was ich gesucht habe, fiel mein Blick auf dieses schmale Buch: Der Schiffskoch von Methijs Deen. Der Roman hat nur rd. 100 Seiten, aber die haben es in sich.

Bis auf wenige Szenen spielt sich die Handlung auf dem Feuerschiff "Texel" ab, das vor Den Helder in Nordholland liegt. Die Mannschaft bleibt vier Wochen ununterbrochen an Bord, bevor sie von der nächsten Crew abgelöst wird. Das Leben auf der "Texel", die keinen Meter zurücklegt, ist öde. Auf solch einem Schiff, das weder eine Schraube noch ein Ruder hat, geht es darum, die Funktionen eines Leuchtturms zu übernehmen, wo es nicht möglich ist, einen aufzustellen. Die Mahlzeiten des Schiffskochs Lammert sind der einzige Lichtblick und retten die Männer vor der Verzweiflung.

Eines Tages beschließt Lammert, etwas ganz Besonderes zu kochen: Gulai kambing, einen indonesischen Schmortopf mit dem Fleisch eines jungen Ziegenbocks. Lammert schmuggelt das Tier verbotenerweise in seinem Rucksack an Bord und plant, es demnächst zu schlachten. Aber wie das so ist mit Plänen: Trotz Lammerts Hinweis, dem Böckchen auf keinen Fall einen Namen zu geben, wird es zu einem unterhaltsamen Teil der Besatzung. Es gewöhnt sich schnell an das schwankende Schiff und entwischt dem Koch, wenn der es fangen will. Und die Crew gewöhnt sich an das Böckchen.

Doch Lammerts Plan, ein leckeres Gulai kambing zu kochen, wird durch ein weiteres Problem verhindert: Der Koch hatte sich als Kind mit Malaria infiziert. Seitdem kehren immer wieder heftige Fieberschübe zurück. Als es Lammert besonders schlecht geht und er in seiner Koje intensive Fieberträume hat, zieht dichter Nebel auf, der die "Texel" und alle anderen Schiffe in der Umgebung praktisch unsichtbar macht. Das Feuerschiff muss ununterbrochen mit Leuchtfeuer und Nebelhorn auf sich aufmerksam machen, um nicht selbst von vorbeifahrenden Frachtschiffen, die deutlich größer sind, gerammt zu werden. 

Lammert nimmt das Dröhnen der Nebelhörner ebenso wahr wie das Rennen und Rufen der Mannschaft an Deck. Doch alles vermischt sich mit seinen traumatischen Erinnerungen an das Leben im Lager auf Java, als er noch ein kleiner Junge war. Was damals in seiner Kindheit passierte, ist tief in seiner Seele vergraben und bricht während seiner Krankentage in der Kajüte hervor. Eines Tages wurde dem kleinen Lammert gesagt, dass sein Vater nicht mehr wiederkommen würde. Wo er war, das wurde ihm nicht erklärt. Und dann ist da noch eine andere Erinnerung: 
"[...] und sie haben Mutter eingesperrt, und jeden Tag gehen sie dort hinein, und dann hört er sie schreien, und dann schreit er selbst auch, aber seine Tante, wo ist sein Vater, seine Tante, die keine richtige Tante ist, nimmt ihn fest in den Arm und streicht ihm über den Kopf, [...]."


Lesen?

Der Schiffskoch hat mich überrascht, weil in diesem kurzen Roman mehr steckt, als ich erwartet hatte.
Mathijs Deen schildert plastisch, wie es ist, auf engem Raum zusammenleben zu müssen und von anderen nicht ernst genommen zu werden, weil man auf einem Schiff arbeitet, das nie vom Fleck kommt.

Als es zu einem Todesfall kommt, der möglicherweise hätte verhindert werden können, zeigt sich, wie wenig die Männer trotz der räumlichen Nähe voneinander wissen. Als er von Kriminalbeamten befragt wird, antwortet der Maschinist zutreffend: 
"Was weiß man denn wirklich von jemand anderem?"

Mathijs Deen spielt in seinem Roman auf historische Ereignisse an, die der Schiffskoch in seinen Fieberträumen immer wieder durchlebt: Die Insel Java war Teil der niederländischen Kolonie Niederländisch-Indien und wurde im März 1942 im Rahmen des Pazifikkrieges in Südostasien von japanischen Truppen überfallen und eingenommen. Die dort lebenden Niederländer wurden in Lager gesperrt oder getötet, viele Frauen vergewaltigt - eine Parallele, die praktisch alle Kriege gemeinsam haben.

Das Feuerschiff "Texel" war tatsächlich im Einsatz. Wer sich für seine Geschichte interessiert, kann sie hier nachlesen. Es kann heute im Museumhaven Willemsoord besichtigt werden.

Der Schiffskoch ist 2021 als gebundene Ausgabe im mareverlag Hamburg zum Preis von 18 Euro erschienen. Ein Jahr später erschien das Buch in  einer Broschurausgabe für 11 Euro im Insel Verlag.

Freitag, 9. Februar 2024

# 426 - Hass und Liebe während der "Troubles" in Nordirland

Louise Kennedy hat mit Übertretung ihren ersten
Roman veröffentlicht - im dafür ungewöhnlichen Alter von 56 Jahren. Sie wuchs in der Nähe von Belfast auf und hat die auch als "Troubles" bezeichneten bürgerkriegsähnlichen Zustände während des Nordirlandkonflikts, um die es in ihrem Buch geht, aus erster Hand erlebt.

Belfast, 1975: Die 24-jährige Grundschullehrerin Cushla Lavery lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter Gina zusammen und hilft häufig im Pub ihres Bruders Eamonn aus. Der Pub befindet sich in einem Stadtteil, der überwiegend von Protestanten bewohnt wird, die Laverys sind allerdings Katholiken. Das ist mitten im Nordirland-Konflikt, in dem trotz der vereinbarten Waffenruhe täglich Attentate von beiden Seiten verübt werden, nicht einfach. Katholisch zu sein ist dort eine Sache, es zu zeigen eine andere und in dieser Gegend keine gute Idee. Niemand ist davor geschützt, nicht Opfer eines Anschlags zu werden. Wer nicht hinterrücks in seinem Haus erschossen werden will, zieht mit Einbruch der Dunkelheit die Vorhänge vor die Fenster. Schon ein geringes Fehlverhalten von pro-britischen Protestanten oder pro-irischen Katholiken kann zu einer Eskalation führen.

Cushla ist mit ganzem Herzen Lehrerin und nimmt wahr, wie belastend die ständige Gewalt um sie herum für ihre Schülerinnen und Schüler ist. Am meisten haben Kinder aus sogenannten Mischehen zu leiden, bei denen ein Elternteil katholisch und das andere protestantisch ist. Das erfährt auch der kleine Davey McGeown, dessen Klassenlehrerin Cushla ist. Sein Vater wird eines Tages derart zusammengeschlagen, dass ihn die massiven Verletzungen zu einem lebenslang behinderten Mann machen, der seine Familie nicht mehr ernähren kann. Um Davey kümmert sich Cushla besonders.

Cushla lernt während ihrer Arbeit im Pub den Prozessanwalt Michael Agnew kennen. Der Jurist ist Protestant, verheiratet, Vater eines Sohnes und etwa doppelt so alt wie die junge Frau. Er ist in Nordirland sehr bekannt, weil er vor allem Menschen verteidigt, die wegen politischer Delikte angeklagt sind. Ihre Konfession ist Michael egal. Es gibt somit genügend Gründe, zu ihm Abstand zu halten. Eigentlich. Doch zwischen Cushla und Michael beginnt eine leidenschaftliche Beziehung, die strikt geheim gehalten werden muss. Sie ahnen nicht, dass sie schon bald ins Visier genommen werden. Über ihnen braut sich ein Unheil zusammen, das sich in einem dramatischen Ereignis entlädt.

Lesen?

Mit Übertretung ist Louise Kennedy ein Roman gelungen, der seine Leserinnen und Leser in den Nordirland-Konflikt, der seit dem Brexit auf kleiner Flamme wieder aufgelebt ist, eintauchen lässt. Mit der verbotenen Liebe zwischen Cushla und Michael transportiert sie die damalige brisante Stimmung in Nordirland und zeigt, wie sehr der Hass das Leben der Menschen bestimmte und Menschlichkeit und Mitgefühl abschaffte.

Kennedy beleuchtet auch, inwieweit die Kirche durch ihren Einfluss auf die Bevölkerung den Konflikt befeuerte und hier in Gestalt des widerwärtigen Paters Flatterly Öl ins Feuer goss. Der Roman ist spannend geschrieben, sodass man ihn kaum aus der Hand legen mag.

Leider sind in der von mir gelesenen E-Book-Erstausgabe etliche Fehler beim Korrekturlesen übersehen worden. Das ist sehr schade, ändert aber nichts am guten Eindruck des Werks.

Übertretung ist 2023 im Steidl Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Freitag, 2. Februar 2024

# 425 - Ein Familiengeheimnis wird entschlüsselt

Matilda war zum letzten Mal vor zwanzig Jahren im Haus ihrer Großmutter Enni am Bodensee. Doch Enni ist vor Kurzem gestorben, und Matilda hat gemeinsam mit ihrer Schwester deren Haus geerbt. Matildas Mutter, Ennis Tochter, hat das Erbe ausgeschlagen. Sie wollte nichts mehr von ihrer Mutter, mit der sie seit Jahrzehnten kein Wort mehr gewechselt hatte, haben. Der Graben zwischen ihnen war offenbar zu tief.

Rike Richstein schickt ihre Protagonistin in ihrem Roman Die Farben des Sees für eine Auszeit an den Bodensee, die Matilda helfen soll, die Trennung von ihrem Freund zu überwinden. Als sie sich in Ruhe im Haus umsieht, stellt sie fest, wie wenig sie über ihre Großmutter wusste. Die Besuche bei ihr fanden damals, als sie noch ein Kind war, ein abruptes Ende. Warum, das hat ihr nie jemand erklärt.

Und dann stößt Matilda im Nachttisch ihrer Großmutter auf das Foto eines jungen Mannes, der nicht ihr verstorbener Großvater ist. Um wen handelt es sich und warum ist dieser Mann für Enni offenbar so wichtig gewesen, dass sie dieses Bild aufbewahrt hat?

Mit einer Mischung aus Neugier und dem Versuch, sich vom eigenen Kummer abzulenken, macht sich Matilda auf die Suche nach einer Antwort. Doch sie hätte nicht gedacht, dass sie am Ende ihrer Nachforschungen ein Familiengeheimnis aufdecken würde, das eine Erklärung für einige Ungereimtheiten, die Matilda im Laufe der Jahre aufgefallen sind, ist.

Lesen?

Die Farben des Sees verknüpft eine besondere Familiengeschichte mit der Atmosphäre des Bodensees, dessen Farben immer wieder anders sind und von einer Person beschrieben werden, die sich erst nach und nach als diejenige herausstellt, die ohne es zu wollen außerhalb der Familie steht.

Mir hätte das Buch noch besser gefallen, wenn die einzelnen Figuren etwas genauer herausgearbeitet geworden wären. So weiß man zum Beispiel von Matilda kaum mehr, als dass sie um das Zerbrechen ihrer Beziehung trauert und ein enges Verhältnis zu ihrer Schwester hat.

Etwas kurios ist, dass ich im Buchtext auch bei einer zweiten Durchsicht keinen Hinweis darauf gefunden habe, dass es sich bei dem beschriebenen Gewässer um den Bodensee handelt. Es ist die Rede von einem See, über den eine Fähre fährt und in dessen Nähe Berge sind. Das trifft jedoch nicht nur auf den Bodensee zu. Die einzige konkrete Benennung findet sich im Klappentext. Immerhin.

Die Farben des Sees ist 2024 im Verlag Friedr. Stadtler Konstanz erschienen und kostet als gebundene Ausgabe mit Lesebändchen 22 Euro.

Sonntag, 28. Januar 2024

# 424 - Reinhold Beckmann: Zwei Kriege löschten beinahe seine Familie aus

Reinhold Beckmann ist der breiten Öffentlichkeit vor
allem als TV-Moderator und Fußballkommentator bekannt. In großen Abständen veröffentlicht er jedoch auch Bücher, die sich mit dem Blick in die Vergangenheit beschäftigen. In seinen Titeln Zufall? und Erzähl doch mal von früher - Loki Schmidt im Gespräch mit Reinhold Beckmann ging es immer um die Leben bekannter Persönlichkeiten, die mit seinem eigenen nichts zu tun hatten.

Das ist mit seinem neuesten Buch Aenne und ihre Brüder: Die Geschichte meiner Mutter völlig anders. Beckmann erzählt die Lebensgeschichte seiner Mutter, die 2019 im Alter von 98 Jahren verstarb. Ihr Leben war geprägt durch Entbehrungen, Krankheiten und Todesfälle, die im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen standen.

Der Zwillingsbruder ihres Vater litt seit seiner Rückkehr aus dem 1. Weltkrieg, wo er gemeinsam mit Aennes Vater im Stellungskrieg gegen Frankreich an der Front gewesen war, an einem hartnäckigen Husten. Als Aenne am 1. August 1921 in Wellingholzhausen, heute ein Ortsteil von Melle in Niedersachsen, als Schwester von drei Brüdern geboren wurde, besuchte der stolze Onkel seine Schwägerin und seine Nichte. 

Unwissentlich steckte Aennes Onkel sie und ihre Mutter mit Tuberkulose an, an der er kurz darauf verstarb. Nur knapp acht Wochen später war auch die Mutter tot. Aenne überlebte die Krankheit knapp. Beide Todesfälle stehen in einem Zusammenhang zum Weltkrieg.

Mit fünf Jahren wurde Aenne zur Vollwaise. Sie wird drei Brüder, eine Halbschwester sowie einen Stiefbruder haben. Alle vier Brüder kommen im 2. Weltkrieg ums Leben. Reinhold Beckmann spürt seinen Onkeln, die starben, bevor sie ihre eigenen Träume leben konnten, mithilfe von Feldpostbriefen nach, die ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod übergeben hatte. In ihnen spiegelt sich das ganze Elend im Leben der Frontsoldaten wider. Der Jüngste, Stiefbruder Willi, wird kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag zum Volkssturm, dem letzten Aufgebot, das den "Endsieg" bringen soll, eingezogen.

Reinhold Beckmann bettet die Geschichte der durch die Weltkriege so sehr strapazierten Familie inhaltlich in drei Teile ein: Da sind die Brüder mit ihrer Angst vor dem Tod und der immerwährenden Hoffnung, dass alles doch noch ein gutes Ende nimmt; da ist Aennes Leben in Wellingholzhausen und ihren Arbeitsstellen in der näheren Umgebung, einschließlich der Schilderung, wie sich die dortige Bevölkerung und insbesondere die Repräsentanten der katholischen Kirche angesichts der wachsenden Bedrohung durch Nationalsozialismus und Krieg verhalten haben; und schließlich ist da Beckmanns Beschreibung der historischen politischen Ereignisse und Kriegsverläufe, mit denen er seine Familiengeschichte einrahmt.

Lesen?

Es gibt viele Familien wie die Beckmanns, in denen eine ganze Generation von Söhnen ausgelöscht wurde, weil der "Führer" auf Gedeih und Verderb sein Ziel von einer Weltmacht Deutschland durchsetzen wollte. In einer Kultur des Schweigens haben allerdings viele Nachfahren nur wenig Wissen über die näheren Umstände, unter denen man im "Dritten Reich" lebte. Das Thema totzuschweigen, war viel zu oft die Regel. Beckmanns Buch lässt das Schicksal seiner Angehörigen nah an die Leserinnen und Leser heranrücken und macht es begreifbar. Durch das wörtliche Zitieren der Feldpostbriefe der drei ältesten Brüder wird es noch authentischer. Kurz: Lest es.

Aenne und ihre Brüder: Die Geschichte meiner Mutter ist 2023 im Propyläen Verlag erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 26 Euro sowie als E-Book 21,99 Euro.



Montag, 22. Januar 2024

# 423 - Der Struwwelhitler - eine Parodie neu aufgelegt

Dieses Buch ist in der Originalausgabe zum ersten Mal bereits 1941 in Großbritannien erschienen. Es trug wie die spätere deutsche Fassung den Titel Struwwelhitler - A Nazi Story Book. Als Autor wurde ein "Doktor Schrecklichkeit" angegeben, aber tatsächlich steckten die Brüder Philip und Robert Spence hinter der Parodie auf den Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. Sie gehörten zu den besten Illustratoren ihrer Zeit. Hier haben sie sich jedoch nicht auf das Zeichnen beschränkt, sondern auch für die - manchmal etwas holprigen - Verse gesorgt.

Die Figuren und Handlungen sind Hoffmanns Werk entlehnt: Außer Adolf ist da zum Beispiel anstelle von Paulinchen mit den Streichhölzern das Gretchen mit der Hakenkreuz-Armbinde, das ihre Katzen mit Kanonenschüssen erschreckt, denn: 

"Ich schieße jetzt, mir ist 'ne Last
der Frieden in der Nachbarschaft!"

Man ahnt, welches Ende es mit dem schießenden Gretchen nimmt.

Der Struwwelhitler war der Beitrag der Spence-Brüder zum "Daily Sketch War Relief Fund" und sollte mit seinen Übertreibungen und dem britischen Humor Hitler und sein Regime lächerlich machen. Großbritannien fühlte sich von der Übermacht des Deutschen Reiches bedrängt, und die englischen Truppen sowie die Opfer von deutschen Luftangriffen sollten mit dieser Persiflage neue Zuversicht und Hoffnung schöpfen.
Das Buch war von Anfang an ein großer Erfolg.

Lesen?

Struwwelhitler - A Nazi Story Book enthält einige
Anspielungen auf Personen und Ereignisse, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Einfluss auf das Schicksal Europas hatten. Ein paar Geschichtskenntnisse sind also hilfreich, um die Verse zu verstehen. Die Spence-Brüder haben es verstanden, sich der für ihr Heimatland bedrohlichen Situation mit britischem Humor zu nähern, sodass das Buch auch mehr als achtzig Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe lesenswert ist.

Der Autorenhaus Verlag Berlin hat den Struwwelhitler erstmals 2005 mit der deutschen Übersetzung herausgebracht. Der mir vorliegende Nachdruck stammt aus dem Jahr 2018. Der Historiker Joachim Fest, der durch seine Hitler-Biografie und mehrere Bücher über den Nationalsozialismus bekannt wurde, hat das sehr interessante Vorwort geschrieben, in dem er den Struwwelhitler in den historischen Kontext einordnet.

Das Buch wird als Klappenbroschur angeboten und kostet 10 Euro.