Vor 25 Jahren wird ein neunjähriger Junge auf eine
lange und gefährliche Reise von El Salvador nach Tucson, Arizona, geschickt. Der Versuch, ein reguläres Visum zu bekommen, ist da bereits gescheitert. Er wird einem Schlepper anvertraut, sein Großvater begleitet seinen Enkel auf der Busfahrt durch Guatemala bis nach Ocós an der mexikanischen Grenze. Ab dort ist das Kind auf sich allein gestellt. Dieses Kind ist der Autor Javier Zamora, der diese unglaubliche und rd. 6.000 Kilometer lange Reise in seinem Buch Solito beschreibt. Der Titel trifft die Sache genau, denn 'solito' bedeutet 'allein'.
Javiers Eltern sind schon einige Jahre zuvor als "Illegale" in die USA geflüchtet. Der zwölfjährige Bürgerkrieg in ihrer Heimat hatte zu einer Gewaltspirale geführt und El Salvador auch wirtschaftlich zerrüttet. Doch 1999 beschließt die Familie, dass Javier seinen Eltern nach 'La USA' folgen soll. Für den Jungen wird ein Traum wahr.
Javier kennt seinen Vater, der zuerst das Land verlassen hat, nur noch durch regelmäßige Telefonate und weiß durch Fotos, wie er aussieht. An seine Mutter kann er sich jedoch gut erinnern. Die Fotos zeigen seine Eltern vor schönen Häusern, die gepflegte Gärten und Swimmingpools haben. Javier schließt daraus irrtümlich, dass auch sie in solch einer Umgebung leben. Das steigert - neben seiner Sehnsucht nach ihnen - seine Vorfreude auf das neue Leben in den USA.
Javier fährt auf dem Pazifik in einem überladenen Boot von Ocós (Guatemala) nach Oaxaca (Maxiko); er schläft mit seiner Flüchtlingsgruppe in billigen Motels oder überfüllten Wohnungen und läuft nachts durch die eiskalte Wüste, die sich am Tag wie ein brütend heißer Ofen anfühlt; er erlebt Gewalt und Korruption und verbringt eine Nacht und einen Tag in der überfüllten und stinkenden Sammelzelle eines amerikanischen Grenzgefängnisses. Menschen, die mit der Gruppe nicht mehr Schritt halten können, werden in der Wüste zurückgelassen.
Doch Javier hat Glück: Er bekommt unterwegs Hilfe vom 19-jährigen Chino und der 27-jährigen Patricia, die mit ihrer kleinen Tochter Carla ebenfalls auf dem Weg in die USA ist. Die Vier werden auf dem Boot bis zu ihrer Ankunft zu einem Team, das zusammenhält und aufeinander achtet. Sie erleben gemeinsam, an der Grenze ihres Traumlands zu scheitern und motivieren sich gegenseitig, nicht aufzugeben. Die Familie auf Zeit ist Javiers rettender Anker.
Lesen?
Solito war 2022, als die Originalausgabe in den USA erschien, wochenlang auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das Thema illegale Migration spaltet seit etlichen Jahren das Land und trieb die Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf sowohl in diesem Jahr als auch vor vier Jahren um. Zamora hat mit seinem Buch dazu beigetragen, sich in die Situation der Migranten, gegen die Ex-Präsident Trump das Land mit einer Mauer schützen will, hineinzuversetzen.
Javier Zamora arbeitet zwar mit konkreten Datumsangaben, es darf jedoch bezweifelt werden, dass sich ein neunjähriger Junge, der mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, täglich Notizen macht. Seine in Romanform verarbeiteten Erlebnisse geben jedoch Einblicke, wie gefährlich eine Flucht durch Schlepper und wie groß die Hoffnung ist, die Angehörigen wiederzusehen und ein Leben in Frieden zu führen.
Zamora hat viele Jahre lang niemandem von seiner fast zehnwöchigen Flucht erzählt. Die Erlebnisse haben ihn so schwer traumatisiert, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben hat. Seine Erzählung enthält sehr viele Eindrücke aus der Perspektive eines Kindes, das sich immer wieder orientieren und eine Situation einschätzen muss: Zamora schildert Gerüche in Unterkünften oder von Menschen, das Mienenspiel von Mitflüchtlingen, Schleppern oder Polizeibeamten oder den Geschmack von Staub. Es ist der Blickwinkel eines Kindes, von dem das Verhalten eines Erwachsenen erwartet wird. Die Angst ist ein ständiger Begleiter - bis zum Schluss, als der kleine Javier hofft, dass seine Eltern ihn vom letzten Schlepper freikaufen und abholen.
Das Buch ist sehr interessant, die immer wieder eingestreuten spanischen Begriffe und Aussprüche, die im Glossar übersetzt werden, haben den Lesefluss allerdings leider gehemmt und waren für das Verständnis nicht nötig.
Zamora ist in den USA bis zur Veröffentlichung von Solito als Lyriker bekannt gewesen und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Solito ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundenes Buch 26 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.
Tipp: Im Laufe der Handlung werden immer wieder Bands aus Mittelamerika und ihre bekanntesten Lieder genannt. Man muss kein Fan dieser Musik sein, aber sie sich zwischendurch anzuhören trägt dazu bei, die Atmosphäre des Buches zu erfassen.