Montag, 28. Dezember 2020

# 271 - Ist das die öffentlich-rechtliche Medienwelt?

Vor acht Jahren hat der Journalist Jens Jessen mit seinem Roman Im falschen Bett seine schriftstellerischen Scheinwerfer gleich auf mehrere Szenerien geworfen: auf das Selbstverständnis derer, die sich zur gehobenen bürgerlichen Schicht Münchens zählen, den Umgang des (öffentlich-rechtlichen) Fernsehens mit Menschen und Geld, das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten im selben Umfeld sowie das sogenannte "zweite München", in dem die Reichen und Mächtigen sich junger Frauen bedienen, als seien sie ihr Spielzeug.

Im Mittelpunkt stehen der TV-Produzent Dr. Torsten Welske, der von allen nur als "der Bonze" bezeichnet wird, und die deutlich jüngere Christina Laroche. Die beiden lernen sich während eines Castings einer Fernsehshow kennen, und der Bonze verliebt sich in sie, weil sie sich in ihrer Unauffälligkeit und Zurückhaltung deutlich von den anderen Kandidatinnen unterscheidet, auf die normalerweise sein Blick fällt.

Was in diesem Roman passiert, wird aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschildert, der als Praktikant die folgenden Ereignisse erlebt oder aber von anderen ins Bild gesetzt wird. Er ist Student an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und lebt in einer Studenten-WG, in der das seltsame Verhältnis zwischen Christina und dem Bonzen interessiert verfolgt und gern kommentiert wird.

Die Beziehung zu Christina ist kurz, entwickelt sich aber für den Bonzen zu einem Desaster. Zu spät erfährt er, dass Christina die Patentochter von Oberkirchenrat Neander ist, der als Mitglied des Rundfunkrates immer wieder beim Bonzen auftaucht und ihm auf den Zahn fühlt: Wie ist das eigentlich mit dem Sponsoring von lokalen Unternehmern, deren Produkte in den Fernsehsendungen des Produzenten gezeigt werden? Fließt da nicht auch Geld, das möglicherweise dem Sender vorenthalten wird? 

Doch der Oberkirchenrat ahnt nicht, wessen Groll er sich da zuzieht: Der kleine Rachefeldzug des Bonzen wird ihn und seine drei mit ihm zusammenlebenden alten Tanten die Wohnung kosten. Es wird intrigiert, es wird gestorben und irgendwie kennt jeder um ein paar Ecken jeden - was nicht immer gut ist. Immer wieder fragt man sich beim Lesen, wie groß das Körnchen Wahrheit wohl sein mag, das Jessen in seine Geschichte eingestreut hat. Das kann der Autor am besten selbst beantworten, der zum Zeitpunkt der Romanveröffentlichung Ressortleiter des Feuilletons der Wochenzeitschrift "Die Zeit" gewesen ist.

Einen Hinweis gibt Jessen mit dem Zitat eines mittlerweile verstorbenen einflussreichen Medienunternehmers: "Im Seichten kann man nicht ertrinken", war ein Ausspruch von Leo Kirch, der damit auf die Kritik hinsichtlich des niedrigen Niveaus der Sendungen seiner privaten Fernsehsender reagierte.

Doch im Abspann stellt Jessen klar, dass es Produzenten wie den in seinem Roman beschriebenen in öffentlich-rechtlichen Sendern nicht gibt und er sich alle Personen, Gremien, Gewohnheiten und die ganze Geschichte "aus den Fingern gesaugt" hat.

Lesen?

Im falschen Bett ist ein unterhaltsamer und humorvoller Roman, der einige Untiefen der (Münchener) Gesellschaft und der Fernsehlandschaft aufs Korn nimmt. Ob das Buch als Satire verstanden werden soll, bleibt aber unklar. 

Im falschen Bett ist 2012 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 17,90 Euro sowie als E-Book 6,99 Euro.

Freitag, 18. Dezember 2020

# 270 - Vier Bücher zum Verschenken oder Selberlesen

Weihnachten steht vor der Tür, und da ich ein großer Fan davon bin, Bücher zu verschenken (und natürlich auch zu bekommen), stelle ich heute vier Titel vor, die die unterschiedlichsten Geschmäcker ansprechen.

Es geht los mit einem Krimi, der seine Leser so sehr in seinen Bann zieht, dass sie ihn erst weglegen, wenn die letzte Seite gelesen worden ist: Tin Men des kanadischen Autors Mike Knowles.

Dennis, Woody und Os sind hartgesottene Polizisten, die schon lange im kanadischen Hamilton ihren Dienst tun. Die Drei haben bereits einiges in ihrem Berufsleben gesehen und glauben, dass sie nichts mehr erschüttern kann. Doch der Mord an ihrer Kollegin Julie hat eine besonders grausame Komponente: Der Schwangeren wurde von ihrem Mörder ihr ungeborenes Kind aus dem Bauch geschnitten. Das ungleiche Ermittlerteam wird auf die Frage angesetzt, warum Julie getötet wurde und wer ein Interesse an ihrem Baby gehabt haben könnte.

Die drei Cops sind nicht unbedingt ein vertrauenswürdiges Dream Team: Woody ist drogensüchtig und hat sein Leben nicht mehr im Griff, Dennis hält sich für den fähigsten Cop der Stadt und gibt seinem schwachen Ego durch Bordellbesuche einen faden Glanz, und der Hüne Os flößt seinen Mitmenschen schon durch seine massige Erscheinung Angst ein, befindet sich aber in der Hand der örtlichen Russenmafia. Selbstverständlich setzt jeder von ihnen alles daran, seine Schwächen vor anderen zu verbergen. Einer von ihnen hütet außerdem ein Geheimnis, das ihn zwar auch privat motiviert, Julies Mörder und das verschwundene Kind so schnell wie möglich zu finden, aber die Ermittlungsarbeit für die beiden Kollegen erschwert.

Die einzige Person, mit der Julie befreundet gewesen war, ist ihre Wohnungsnachbarin Lisa. Diese gibt wertvolle Hinweise zum Privatleben der Ermordeten. Die Situation wird jedoch kompliziert, als Lisa kurz nach ihrer polizeilichen Befragung bei einem Autounfall ums Leben kommt. Gibt es einen Zusammenhang mit Julies Ermordung? 

Während der gesamten Ermittlungsarbeit kämpfen die drei Polizisten gegen ihre eigenen Dämonen an und haben Mühe, dass nicht ihre eigenen Leben aus der Kurve getragen werden. Einer von ihnen wird nicht mehr erfahren, wer die Kollegin auf dem Gewissen hat.

Tin Men  ist 2020 im Polar Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 14 Euro. 

 

Es geht kriminell weiter, dieses Mal aber ganz realistisch und bodenständig. Der Kulturjournalist Bert Lingnau hat sich in seinem in der zweiten Auflage 2018 erschienenen Buch Rübe ab! in seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern umgesehen und spürt in vier Kapiteln, die das Bundesland unterteilen, 48 wahren Kriminalfällen nach, die sich zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert ereignet haben. Mordende Diener, Münzfälscher, als Hexen verfolgte Frauen oder Räuber, die ihren Opfern in dunklen Wäldern auflauerten: Sie alle sind in diesem Buch vertreten, das Lingnau mit zahlreichen Fotos illustriert hat. Früher war man auch mit der Art der Bestrafung nicht zimperlich: Wer "Glück" hatte, landete im Kerker; oft waren aber auch Vierteilungen oder Köpfungen das Mittel der Wahl, um einen Täter zu bestrafen. 

Rübe ab! ist trotz des ernsten Hintergrunds ein sehr unterhaltsames Buch, weil der Autor es versteht, den lange zurückliegenden Ereignissen durch seinen Schreibstil Leben einzuhauchen. Der Titel ist im Klatschmohn Verlag als Taschenbuch erschienen und kostet 9,80 Euro.


Wer sich gern mit Sprache beschäftigt, wird an diesem
Buch Gefallen finden: Der Schriftsteller und Satiriker Eckhard Henscheid hat mit Dummdeutsch erstmals 1985 seinem Unmut über den Verfall der deutschen Sprache Luft gemacht. Der damals vom Fischer Verlag herausgegebene Titel wurde im Reclam Verlag neu aufgelegt, mir liegt die Printversion aus dem Jahr 2017 vor. Henscheid ist Mitbegründer der Satirezeitschrift "Titanic" und so verwundert es nicht, dass seine Kritik nicht bitterböse, sondern humorvoll und messerscharf daherkommt. Dummdeutsch ist wie ein Lexikon alphabetisch aufgebaut, der Wortfundus reicht von A wie "Abbauen" bis Z wie "Zynisch". Henscheid belegt an Beispielen, wie die Bedeutung von bereits bestehenden Begriffen z. B. in der Werbung verhunzt wird oder neue Wörter ("Korngesund", "Gehirn-Jogging" oder "Entsorgungspark") kreiert wurden, um den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Und immer wieder stellt man beim Lesen fest, dass man selbst nicht frei davon ist, dummdeutsch daherzureden.

Der Titel ist im üblichen Format der kleinen Reclam-Bücher erschienen und kostet 7,80 Euro.


Zum Schluss stelle ich ein Buch vor, das sich an Kinder im Grundschulalter richtet, aber auch Erwachsenen die
ein oder andere neue Information bietet: Eine Reise durch die Zeit - Alfelds Geschichte für Kinder wurde von der Stadt Alfeld (Leine) herausgegeben und widmet sich der Geschichte der niedersächsischen Stadt in der Nähe von Hannover vom Jahr 1010 bis heute. Das Buch ist mit sehr vielen Zeichnungen und Fotos illustriert und zeigt, wie ähnlich sich die Entwicklungen deutscher Städte in vielen Dingen sind: der Dreißigjährige Krieg, der Einfluss der Kirche, die typische Ernährung der einfachen Bürger im Mittelalter, der Nationalsozialismus oder Feuersbrünste: Die Alfelder Stadtgeschichte ist nicht weniger abwechslungsreich als die größerer Orte. Hervorzuheben ist jedoch etwas, das weltweit nur wenige Städte vorzuweisen haben: Mit dem 1911 vom Architekten Walter Gropius entworfenen Fagus-Werk hat Alfeld ein UNESCO-Weltkulturerbe, das seit 2011 auf der Liste der wichtigsten Bauwerke der Welt steht.

Eine Reise durch die Zeit - Alfelds Geschichte für Kinder kostet 9,50 Euro und kann über das Forum Alfeld Aktiv e. V. vor Ort oder im Versand erworben werden.

Dienstag, 8. Dezember 2020

# 269 - Wer spricht denn da? Wir sind von immer mehr Algorithmen umgeben

Seit den 1950-er Jahren wird versucht, der menschlichen Sprache mit technischen Mitteln möglichst nahe zu kommen. Aber Sprache ist eben nicht nur der Austausch von Worten unter Verwendung der korrekten Grammatik. Menschliche Kommunikation setzt darüber hinaus eine Art Weltverständnis voraus, das Wissen um Hintergründe und Zusammenhänge. Der Autor und Journalist Christoph Drösser hat sich nicht nur Siri, Alexa & Co. angeschaut, sondern in seinem Buch Wenn die Dinge mit uns reden einen Ausblick auf die zu erwartende Weiterentwicklung der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine gegeben.

Auch wer selbst keine "Alexa" in seinem Wohnzimmer hat, weiß, was der Sprachassistent kann: Er ist in Lautsprecher integriert und kann zahlreiche Smart Home-Geräte steuern. Alexa gehört zu den KI-Anwendungen, also zu dem, was heute unter "Künstlicher Intelligenz" verstanden wird. Mit einer mittlerweile sehr menschenähnlichen Stimme lauert die Software auf ihr Stichwort, das ihr signalisiert, dass ihr Nutzer etwas von ihr möchte: den aktuellen Wetterbericht, die Lieblingsmusik oder eine Lexikoninformation. Erweitert man das Grundgerät mit smarten Geräten, können per Sprachbefehl Saugroboter bedient, Heizkörper reguliert oder Türen geöffnet werden. Der Erfolg dieses und anderer Sprachassistenten beruht auf der Bequemlichkeit der Käufer: Viele alltägliche Dinge lassen sich mit der Stimme erledigen, sich wegen banalen Tätigkeiten aus dem Sofa hochzuquälen kann vermieden werden. 

Klar, dass das nur funktioniert, wenn die entsprechenden Geräte ununterbrochen online sind. Sie schicken alle Daten in eine Cloud und erhalten von dort Daten zurück. So "lernt" der Algorithmus ständig dazu - und dadurch, dass Mitarbeiter irgendwo auf der Welt mithören, was bei den Kunden passiert. Auf diese Weise soll der Grad der Perfektionierung weiter vorangetrieben werden.

Aber dieser Typus von Sprachprogrammen ist natürlich noch lange nicht der Weisheit letzter Schluss. Das Ziel ist ein Algorithmus, der sich am Sprachverständnis des Menschen orientiert und das möglichst so gut, dass er menschliche (Sprach-)Züge annimmt und als dessen Gesprächspartner agieren kann - und nicht bloß als auf der Reiz-Reaktion-Ebene verharrt. Bei aller Technikbegeisterung, die Christoph Drösser seinen Lesern vermittelt, mischt sich an dieser Stelle eine gehörige Portion Skepsis in seine Ausführungen. Insbesondere dann, wenn es um die Entwicklung von Sprachmodellen geht, die mit Deep Learning arbeiten und sich dazu eignen, einige Dinge in der Wirtschaft und der Gesellschaft umzukrempeln.

Das amerikanische Forschungsunternehmen OpenAI hat mit Generative Pre-trained Transformer 3 - oder kurz GPT-3 - ein solches Modell entwickelt. GPT-3 befindet sich seit Juli 2020 im Betatest und hat mit 175 Milliarden maschinellen Lernparametern das bislang führende Produkt Turing NLG von Microsoft, das erst im Februar 2020 eingeführt worden ist, mit seiner mehr als zehnfachen Kapazität überrundet.

GPT-3 ist zunächst einmal ein Textgenerator, der nicht versteht, was er schreibt. Das ist für Menschen jedoch kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen. Die Sprache ist zwar nicht identisch mit der eines Menschen und auch die Sinnhaftigkeit mancher von GPT-3 erstellter Texte lässt zu wünschen übrig. Das Sprachmodell eignet sich aber bestens für den Einsatz als Chatbot, für das Schreiben von Hausarbeiten im Grundstudium - und leider auch für die Verbreitung von Fake News, die vom durchschnittlichen Leser nicht mehr von wahren Meldungen unterschieden werden können, weil das Modell seinen Schreibstil an den von tatsächlich existierenden Schreibern wie z. B. bestimmten Zeitungsjournalisten anlehnen kann. Nicht zuletzt ist zu erwarten, dass durch den Einsatz von GPT-3 Menschen arbeitslos werden, die ihr Geld bislang mit dem Schreiben von Texten verdient haben. Wie bei allen Neuerungen hat die Medaille auch hier zwei Seiten.

Was Wenn die Dinge mit uns reden von zahlreichen anderen Sachbüchern unterscheidet, ist die Heranziehung von Fachkompetenz durch Interviews: Drösser befragt u. a. den Experten für KI und Sprachverarbeitung Richard Socher und die Stanford-Professorin Monica Lam, die mit ihrem Team das Open-Source-System Almond entwickelt hat, das in Konkurrenz zu Alexa und Siri treten soll.

Lesen?

Wer sich mit Sprachassistenz und -modellen bereits beschäftigt hat, wird in Christoph Drössers Buch auch Bekanntes antreffen. Aber jedem, der sich hierfür interessiert, kann der Titel empfohlen werden, weil sich der Autor und seine Interviewpartner dem Thema von verschiedenen Blickwinkeln aus annähern. Die Sorge, vor lauter Fachbegriffen nicht zu verstehen, worum es geht, ist unbegründet: Drösser schreibt so, dass ihm auch Techniklaien folgen können.

Wem der Name des Autors bekannt vorkommt, hat von ihm möglicherweise schon Artikel in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT gelesen. Drösser war dort lange Redakteur und hat das Ressort "ZEIT-Wissen" gegründet. Etliche Jahre hat er außerdem in der Kolumne "Stimmt's?" Fragen von Lesern beantwortet wie z. B. Verhindert ein Löffel im Flaschenhals, dass Sekt über Nacht schal wird? (Antwort: Nein, von ihm natürlich ausführlich begründet.)

Wenn die Dinge mit uns reden ist 2020 im Dudenverlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 16 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.

Freitag, 4. Dezember 2020

# 268 - Ein Leben auf der Suche nach Liebe

Delia Owens hat mit ihrem Roman Der Gesang der Flusskrebse 2019 einen Bestseller veröffentlicht, der seinen großen Erfolg verdient hat. Die Hauptperson Catherine Clark, die von allen Kya genannt wird, lebt mit ihren Eltern und vier Geschwistern im Marschland an der Küste von North Carolina, in der Nähe der beschaulichen fiktiven Küstenstadt Barkley Cove. Ihr Lebensweg ist mehr als ungewöhnlich.

Kya wird 1945 als jüngstes Kind der Familie geboren und erfährt nur Armut und Gewalt. Ihr Vater ist Weltkriegsveteran, und was er im Krieg erlebt hat, hat ihn zu einem trunksüchtigen Schläger gemacht. Die Kriegsversehrtenrente verspielt und versäuft er fast vollständig in einer heruntergekommenen Kneipe. Die Mutter versucht, ihren Kindern Liebe zu geben und die Familie zusammenzuhalten. Doch nach vielen quälenden Jahren ist sie mit ihren Kräften am Ende und verlässt Mann und Kinder kurz vor Kyas siebtem Geburtstag.

Ihr Weggang lässt die Familie förmlich erodieren: Innerhalb weniger Tage verlassen  die drei ältesten Geschwister ebenfalls ihr Zuhause – wie die Mutter ohne ein Wort. Zum Schluss geht auch Jodie, der Bruder, der Kya immer am nächsten stand. Er bittet seine Schwester um Verständnis, aber sie fragt sich, warum sie von allen alleingelassen wird und sie niemand mitnimmt. Sie fühlt sich zum ersten Mal völlig verlassen.

Allein mit ihrem Vater versucht Kya, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Oft kommt er tagelang nicht nach Hause, und wenn er da ist, ist er unberechenbar. Trotzdem wird ihre Beziehung nach einer Weile etwas besser. Doch dann – Kya ist jetzt acht Jahre alt - ist ein Brief von ihrer Mutter im Briefkasten. Das Mädchen erkennt die Handschrift auf dem Umschlag, lesen kann sie ihn nicht: Sie war nur einen Tag in der Schule, will aber nie mehr dorthin, weil sie von den anderen Kindern verspottet und ausgelacht wurde. Der Inhalt des Briefs führt zu einem Wutanfall ihres Vaters.

Als Kya zehn Jahre alt ist, kommt ihr Vater immer seltener nach Hause und dann gar nicht mehr. Von da an schlägt sie sich allein durchs Leben. Sie bleibt in der windschiefen Hütte und ernährt sich von dem, was sie findet und anbaut. In Barkley Cove nennt man sie nur „das Marschmädchen“. In der sozialen Hierarchie steht Kya ganz unten – nach den Schwarzen und den anderen Marschbewohnern. Ihre schlechten Erfahrungen mit Menschen machen sie scheu und misstrauisch, sie vermeidet es, in die Stadt zu fahren. Sie beschäftigt sich lieber mit den Tieren und Pflanzen um sie herum. Lange ist Jumpin‘, der einen kleinen Laden und eine Bootstankstelle betreibt, ihr einziger Kontakt. Er und seine Frau Mabel versuchen, Kya zu unterstützen und respektieren ihre spezielle Art zu leben.

Später lernt sie den freundlichen und geduldigen Tate kennen, der sich wie sie oft mit seinem Boot in der Marsch aufhält, um zu angeln oder Tiere zu beobachten. Er ist Kya zwar sympathisch, aber ihre Menschenscheu hält sie auf Abstand zu ihm. Er bringt ihr Lesen bei und öffnet ihr damit das Tor zu einer neuen Welt.

Einige Jahre später verliebt sie sich in den Kleinstadtcasanova Chase, einen jungen Mann mit reichen Eltern und überbordendem Ego. Aber Chase hält nichts von dem, was er Kya verspricht und heiratet eine andere Frau. In Barkley Cove wird über das Verhältnis getuschelt, wovon Kya nichts ahnt. 1969 wird Chases Leiche unter dem alten, maroden Feuerwachturm gefunden. Er ist an den Folgen eines Sturzes gestorben und die Einwohner und die Polizei von Barkley Cove haben sofort Kya in Verdacht, den jungen Mann getötet zu haben. Alles, was sie entlastet, wird in der Beweisführung so verdreht, dass es sie belastet. Sie wird angeklagt und muss mit der Todesstrafe rechnen.

Lesen?

Der Gesang der Flusskrebse ist ein ungewöhnlich anrührender Roman, der seine Leser das ganze emotionale Spektrum nachfühlen lässt, dass Kya durchlebt: die enge Verbundenheit zu der Natur um sie herum, das tiefe Gefühl des schuldlosen Verlassenwerdens, die große Bindungsangst aufgrund der vielen enttäuschenden Erfahrungen und trotzdem immer die Hoffnung, eines Tages zu jemandem zu gehören und eine Familie zu haben. Delia Owens schafft es, diese ganze Bandbreite zu vermitteln, ohne ins Kitschige abzugleiten. Das Buch gehört zu denen, die man nach dem letzten Wort nicht einfach zuklappen kann. Das Gelesene hallt noch eine Weile nach.

Der Gesang der Flusskrebse ist 2019 bei hanserblau erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro, als Taschenbuch 11,99 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

Freitag, 27. November 2020

# 267 - Was geschah wirklich in der Heiligen Nacht?

Das Ehepaar Claudia und Simone Paganini hat sich in seinem Buch Von wegen Heilige Nacht! der Weihnachtsgeschichte angenommen und untersucht Schritt für Schritt in 17 Kapiteln, wie viel Wahrheit  eigentlich in ihr steckt. Das tut es unter Heranziehung zahlreicher religiöser Quellen und historischer Zusammenhänge sowie mit einer profunden Sachkenntnis. Kein Wunder: Beide sind promovierte Theologen; Simone Paganini ist Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen, Claudia Paganini ist am Institut für christliche Philosophie an der Universität Innsbruck tätig. 

Die zentrale Erkenntnis: Fast alles, was uns die Bibel in der Weihnachtsgeschichte, ist falsch oder zumindest sehr wahrscheinlich falsch. Dahinter steckt nicht unbedingt die Absicht, der Nachwelt ein für die Christen identitätsstiftendes Märchen aufzutischen, sondern oft ein Effekt, der sich bis in unsere Zeit erhalten hat: Versteht man einen Sachverhalt nicht zu 100 Prozent, wird er mit inhaltlicher Füllmasse ein bisschen aufgehübscht. Aber auch eine politische Absicht dürfte hin und wieder der Grund dafür gewesen sein, dass man sich die biblischen Geschehnisse etwas zurechtgebogen hat. Oft dürften auch Übersetzungsfehler eine Rolle gespielt haben. Und ein bisschen zusätzliches Drama kann ohnehin nicht schaden.

Ist der 24. Dezember tatsächlich der Tag, an dem Jesus geboren wurde? War es tatsächlich bitter kalt? Ist es plausibel, dass die heilige Familie auf der Suche nach einer Unterkunft überall abgewiesen wurde und deshalb das Jesuskind in eine Krippe gelegt werden musste, kritisch beäugt von Ochs und Esel? Waren Maria und Josef arm? Wurde Jesus wirklich in Bethlehem geboren? Es reiht sich Frage an Frage, und jede wird ausführlich und gut nachvollziehbar beantwortet.

Claudia und Simone Paganini haben mit ihrem Buch nicht vor, jemandem mit ihren Erläuterungen in religiöser Hinsicht zu nahe zu treten. Sie degradieren die Weihnachtsgeschichte auch nicht zu einem Märchen, in dem die gesamte Handlung der Phantasie entspringt: Das Lukasevangelium bedient sich bei Jesus' Biographie schriftlicher Quellen sowie Berichten von Augenzeugen, außerdem wird auf einen chronologischen Aufbau Wert gelegt. Die Geschichte von Jesus' Geburt wurde allerdings bis zum Beginn des 2. Jahrhunderts mündlich weitergegeben und erst dann schriftlich niedergelegt. Wenn man die Weihnachtsgeschichte und ihren eigentlichen Zweck verstehen will, geht das nicht ohne den Blick auf die Zeit vor etwa 2.000 Jahren: Die Menschen erwarteten eine religiöse Unterstützung und die Bestätigung, dass sich ihr Gott für sie interessiert und es sich bei Jesus' Geburt um ein wichtiges Ereignis gehandelt hat. Es ging damals um Hoffnung und Zuversicht, nicht aber unbedingt um Rationalität. Denn: Die Adressaten der Weihnachtsgeschichte waren nicht wir Menschen des 21. Jahrhunderts.

Lesen?

Von wegen Heilige Nacht! ist ein unverkrampfter Blick auf die Weihnachtsgeschichte und ihren wissenschaftlich begründeten Wahrheitsgehalt. Das Buch ist eine gute Lektüre für alle, die sich für religiöse Zusammenhänge interessieren. Geschichtskenntnisse sind nicht nötig, um den Erläuterungen von Claudia und Simone Paganini folgen zu können. 
 
Von wegen Heilige Nacht! ist 2020 im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet als Klappenbroschur 14 Euro. 
 
Nachtrag: Simone Paganini ist in mehreren Videos zu sehen, die von der RWTH Aachen produziert wurden. In diesem geht es um die Frage: Waren tatsächlich ein Ochse und ein Esel an Jesus' Krippe?
 
Auch Claudia Paganini ist in zahlreichen Videos zu sehen. Hier ist eines, in dem sie sich beim Science Slam Innsbruck 2018 über "Warum christliche Philosophie?" Gedanken macht:
 


Freitag, 20. November 2020

# 266 - Eine Reise durch die Antike - aus pharmazeutischer Sicht

Monika Niehaus und Michael Wink sind promovierte Naturwissenschaftler und haben sich in ihrem Buch Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solch üblen Tricks schützt der klassischen Antike aus einer ganz neuen Perspektive genähert. 

Man muss die "Ilias" und die "Odyssee" des griechischen Dichters Homer nicht gelesen haben, um einige Figuren daraus zu kennen. Die Abenteuer von Odysseus, dem König von Ithaka, und seine Begegnungen sowie die weiterer griechischer Sagenhelden mit Zauberinnen, Ungeheuern und anderen mythischen Gestalten sind weltbekannt. Immer wieder ist dort von Zaubertränken oder -salben die Rede und von Menschen, die sich nach dem Kontakt mit ihnen euphorisch, phlegmatisch oder erratisch wütend verhielten. 

Homers "Odyssee" ist keine Tatsachenbeschreibung, sondern schildert epische Geschehnisse. Die beiden Wissenschaftler haben jedoch aufgrund der Beschreibungen versucht nachzuvollziehen, welche naturwissenschaftlichen Indizien hinter diesen dort und in der "Ilias" beschriebenen Phänomenen stecken. 

Doch es geht Niehaus und Wink nicht nur um die dunklen Seiten der frühen Pharmakologie, sondern auch um Liebeselixiere und Heilmittel. Dabei richten sie ihren Blick immer wieder auf die Frage, inwieweit diese schon früh verwendeten Substanzen auch in unserer Zeit noch eine Rolle spielen. Nicht zuletzt geht es auch um Sagengestalten wie zum Beispiel Zyklopen, deren Aussehen sich ebenfalls auf pflanzliche Wirkstoffe, die sich in der Ziegenmilch befunden haben, zurückführen lässt.

Bei allem gilt: Die Dosis macht das Gift. Wirkstoffe, die in geringer Konzentration heilend und wohltuend wirken, töten einen Erwachsenen in wenigen Minuten. Niehaus und Wink belassen es jedoch nicht bei der Erläuterung dessen, was da wohl vor 3.000 Jahren Pflanzenkundige getan haben mögen. Sie erklären anhand von Tafeln die wichtigsten Rauschpflanzen und Gifte.

Das Buch ist humorvoll geschrieben, Fachbegriffe werden unmittelbar erklärt. Für Laien ist es darum kein Problem, den Erläuterungen zu folgen. Auch Dinge, die man schon zu wissen glaubt, werden aufgegriffen: Woher kommt das Wort "Droge" und was bedeutet es ursprünglich? Welcher getrocknete Waldpilz sorgt nach dem Verzehr für ekstatische Halluzinationen und hat die Besonderheit, dass der Urin derjenigen, die ihn konsumiert haben, noch stärker berauschend wirkt? Und woher kommt das Bild von den auf Besen reitenden Hexen?

Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solchen üblen Tricks schützt endet mit einem Hinweis auf das sog. 'Odysseus-Phänomen'. Mit dem Begriff ist die existenzielle Unsicherheit von Migranten, die in psychische Belastungsstörungen mündet, gemeint. Das soll auch Odysseus so empfunden haben, wie es Homer in der "Odyssee" (5. Gesang, Vers 82-85) beschreibt:

Weinend saß er am Ufer des Meeres. Dort saß er gewöhnlich,
und zerquälte sein Herz mit Weinen, Seufzen und Jammern,
und durchsuchte mit Tränen die große Wüste des Meeres.

Für Niehaus und Wink schließt sich damit in der Gegenwart ein Kreis, der in der Antike seinen Anfang genommen hat.

 

Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solchen üblen Tricks schützt ist 2020 im S. Hirzel Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro. 

 

Freitag, 13. November 2020

# 265 - Ein heißes Eisen: Impfgegner, Alternativmedizin und Gesundheitspolitik

Die Journalistin Beate Frenkel, die als Redakteurin für das politische ZDF-Fernsehmagazin Frontal21 arbeitet, hat mit Pillen, Heiler, Globuli ein Buch herausgegeben, in dem sie sich intensiv mit der sog. Alternativmedizin sowie deren Verbreitung und Vermarktung beschäftigt.

Anhand zahlreicher Beispiele schildert sie, wie sehr selbsternannte Heiler die Verzweiflung von Menschen ausnutzen, die für sich oder Angehörige eine Möglichkeit suchen, eine Krankheit zu überwinden. 

Frenkel schreibt auch über Impfgegner, die Impfungen generell ablehnen und dabei nicht nur gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren, sondern auch das Risiko in Kauf nehmen, dass sich Menschen, die (noch) nicht geimpft werden können, anstecken und im schlechten Fall lebenslang unter den Krankheitsfolgen leiden oder sogar an ihnen versterben. Es kommen zahlreiche Fachleute zu Wort, darunter zum Beispiel auch die Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Cornelia Betsch. Sie hat Diskussionen mit Impfverweigerern mittlerweile aufgegeben, weil diese "Cherry-Picking" betreiben: Studien, die die eigene These stützen, werden als glaubwürdig eingestuft; Studien, die der eigenen Anschauung widersprechen, werden entweder als gefälscht oder gekauft abgetan oder nicht zur Kenntnis genommen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema findet jedoch nicht statt.

Frenkel schreibt über Ärzte, die auf Wunsch ihrer Patienten Impfungen bescheinigen, die nie stattgefunden haben. Ein Kinderarzt bietet sogar die Ausstellung von Impfunfähigkeitsbescheinigungen an, nachdem ihm ein frankierter Rückumschlag und in Silberpapier einegschlagene zehn Euro gesendet wurden. Es ist für ihn nicht nötig, das jeweilige Kind zu kennen. Nach Ansicht desselben Arztes werden auch die Folgen einer Masernerkrankung völlig überschätzt, die man gut mit Einläufen, einer guten mental-physichen Führung und Homöopathie heilen könne.

Wenn es überhaupt Aktivitäten der Ärztekammern gegen solche Mediziner gibt, werden sie halbherzig angegangen und verlaufen häufig im Sande. Den Medizinlobbyisten ist das Thema zu heikel, als dass sie sich daran die Finger verbrennen wollen. Auch die Krankenkassen ziehen keine Konsequenzen, wenn auch aus anderen Gründen.

Frenkel geht auch auf die Wirksamkeit des "Wundermittels" Chlorbleiche ein, das spätestens seit Donald Trumps Auslassungen hierzu im Zusammenhang mit der Covid 19-Pandemie eine größere Bekanntheit erlangte. Im alternativmedizinischen Bereich wird die ätzende Flüssigkeit u. a. für Einläufe bei autistischen Kindern empfohlen. Einen positiven Effekt hat sie definitiv nicht, dennoch wird mit ihrem und dem Verkauf von Büchern, in dem die Anwendung beschrieben wird, Kasse gemacht.

Die Grenzen zwischen alternativer und Schulmedizin sind häufig nicht klar auszumachen. Frenkel berichtet, welche Menschen sich typischerweise in besonders starkem Maß gegen das Impfen und für alternative Methoden aussprechen und was ihrer Meinung nach passieren muss, damit Schaden von Patienten abgewendet wird, die den Versprechen der Heiler glauben. Auch zu der Wirkung der Covid 19-Pandemie auf diese Entwicklung nimmt sie Stellung.

Lesen?

Wer sich umfassend über die Kluft zwischen der Schul- und der Alternativmedizin informieren möchte, ist mit diesem Buch gut beraten. Lesern, die sich ohnehin schon mit dieser Thematik befasst haben, wird das eine oder andere bekannt vorkommen. Frenkel stellt jedoch in ihrem Buch ihre große Sachkenntnis unter Beweis, für die sie bereits 2019 für ihre Frontal21-Dokumentation "Pillen, Pulver, Wunderheiler – Das Geschäft mit der Alternativmedizin" den expopharm-Medienpreis erhalten hatte.

Pillen, Heiler, Globuli ist 2020 im Hirzel-Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 18 Euro. 

Freitag, 6. November 2020

# 264 - Zwei Seelen bei Nacht

Mit Unsere Seelen bei Nacht hat Kent Haruf einen sehr sensiblen und im besten Sinne zu Herzen gehenden Roman geschrieben. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, die den Mut finden, ihrem eingefahrenen Leben eine neue Wendung zu geben.

Die 70-jährige Addie lebt allein in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, dem Schauplatz aller Romane des US-Autors. Sie ist schon lange verwitwet und fühlt sich einsam. Eines Tages entschließt sie sich dazu, einen Häuserblock weiter bei Louis zu klingeln. Louis ist im selben Alter, ebenfalls verwitwet und alleinlebend. Zu seinem Erstaunen macht ihm Addie einen ungewöhnlichen Vorschlag: Sie wünscht sich, dass er ab und zu bei ihr übernachtet. Es geht ihr nicht um Sex, sondern um seine Gesellschaft und gute Gespräche, die sich am besten im Dunkel der Nacht führen lassen.

Louis willigt ein und kommt beim ersten Mal über die Hintertür in Addies Haus. Doch die Seniorin protestiert: Es passiert schließlich nichts Unrechtes, das verheimlicht werden müsste, also solle Louis doch die Vordertür benutzen. Schon an dieser Stelle möchte man applaudieren und die beiden unterstützen: Genießt den Rest eures Lebens und lasst euch das, was euch guttut, nicht von "den Leuten" madig machen.

Diesem Credo folgen die beiden dann tatsächlich, was Louis etwas schwerer fällt als Addie. Sie zeigen sich gemeinsam in der Öffentlichkeit und verbringen irgendwann nicht nur die Nächte, sondern auch immer mehr von den Tagen miteinander. Ihre zunächst platonische Beziehung wird immer romantischer, und da sie einander absolute Ehrlichkeit versprochen haben, erzählen sie sich im Schutz der Dunkelheit auch die unschönen Dinge, die ihnen im Leben widerfahren sind. Die emotionale Nähe nimmt zu, das Vertrauen zwischen ihnen wächst. 

Doch natürlich bleibt ihre Zweisamkeit in Holt nicht unbemerkt: Bekannte machen mal mehr, mal weniger deutliche Bemerkungen, die meisten haben für die beiden kein Verständnis. Doch Addie und Louis gelingt es, mit diesen Vorbehalten gelassen umzugehen.

Einige Monate später scheint die Ehe von Addies Sohn Gene am Ende zu sein. Um weiter seinen Beruf ausüben zu können, bringt er seinen sechsjährigen Sohn Jamie zu seiner Oma. Louis wird bald zu dessen väterlichem Freund und die Drei bilden den Sommer über eine harmonische Gemeinschaft, in der dann auch noch ein Hund aus dem Tierheim ein Zuhause findet.

Aber Gene ist das "Treiben" des verliebten Paares ein Dorn im Auge, ebenso wie Louis' Tochter Holly, die die Beziehung als 'peinlich' bezeichnet. Das Recht, das sie selbstverständlich für sich fordert - ihr eigenes Leben ohne Bevormundungen zu leben -, spricht sie ihrem Vater ab. Mit ihren Vorhaltungen hat sie allerdings keinen Erfolg.

Gene dagegen setzt seine Mutter mit einer emotionalen Erpressung unter Druck, um die Situation in seinem Sinn zu verändern. Addie und Louis, die bis dahin autark und selbstbestimmt gelebt haben, werden auf das Niveau von fremdbestimmten Kindern zurückgeworfen.

Lesen?

Auf jeden Fall! Kent Haruf ist es gelungen, einfühlsam zu schildern, wie sich Addie und Louis langsam aneinander herantasten und ihre Partnerschaft an Tiefe gewinnt. Er macht seinen Lesern unaufdringlich deutlich, dass jeder Mensch eine einzigartige Persönlichkeit mit all ihren Stärken und Schwächen ist. 

Das würde schon genügen, um ein wirklich gutes Buch zu schreiben. Doch dann ist da noch der feine Humor des Schriftstellers, der sich in kleinen Momenten wie diesem zeigt: Nach dem plötzlichen Tod von Addies betagter Nachbarin Ruth, zu der das Paar einen guten Kontakt hatte, verkauft deren Nichte als Alleinerbin das Haus. Die Nichte hatte sich nie um Ruth gekümmert und legt keinen Wert darauf, die Urne mit der Asche ihrer Tante zu bekommen. Addie nimmt die Urne an sich und verstreut Ruth' Asche gemeinsam mit Louis nachts um zwei im Garten hinter dem Haus der Verstorbenen - in dem bereits die neuen Eigentümer wohnen.

An einer Stelle nimmt Haruf in einem Dialog zwischen Addie und Louis seine eigenen Bücher auf die Schippe: Die beiden finden die Handlungen darin ziemlich weit hergeholt, besonders in dem Buch, in dem zwei alte Viehzüchter ein schwangeres Mädchen bei sich aufnehmen. Großartig!

Unsere Seelen bei Nacht ist 2017 im Diogenes Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro sowie als Taschenbuch 13 Euro.

Samstag, 31. Oktober 2020

# 263 - Eine öffentliche Familie

Anna-Louisa ist mit ihrer Jugendliebe Arthur verheiratet
und hat mit ihm eine zweieinhalbjährige Tochter. Gerade hat sie ihren Job als Lektorin in einem Berliner Buchverlag gekündigt, um als Influencerin mit ihrem Mama-Blog voll durchzustarten. Ständig postet sie Fotos von sich und ihrer Familie bei Instagram. Die Zukunft liegt rosarot vor ihr. Was in Martin Krists Psychothriller Niemand wird vergeben so harmlos und harmonisch beginnt, wird schnell zu einer existenzbedrohenden Situation eskalieren.

Auf dem Weg zu einer wichtigen Party läuft ihr Ziggy, ein alter Kumpel, den sie seit 15 Jahren nicht gesehen hat, über den Weg. Er ist kaum wiederzuerkennen: Früher machte er sich über Leute lustig, die ihren Wohlstand zeigten, jetzt steht er vor Anna-Louisa wie aus dem Ei gepellt. Über seinen aktuellen Beruf gibt er allerdings nur zögernd Auskunft. 

Kurz nach diesem Zusammentreffen schickt jemand der jungen Frau eine Botschaft auf ihr Smartphone: Diese Nachricht ist dein Tod. Wenig später wird Ziggy nur ein paar Meter weiter ermordet. In der Hand hält er eine von Annas Visitenkarten. Sein Tod ist der Wendepunkt für Annas kleine Familie, ihr gutes Leben scheint in seine Einzelteile zu zerfallen. Anna weiß immer weniger, wem sie noch trauen kann. Sie wird durch die Presse in den Mord hineingezogen, verliert einen lukrativen Blogger-Vertrag und wird Opfer eines Internet-Shitstorms. Jetzt rächt sich, dass sie ihr Leben öffentlich gemacht hat. Was Anna nicht ahnt: Der Schlüssel zu Ziggys Ermordung und allem, was ihr noch widerfahren soll, liegt in ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Und sie wird lernen, dass die, die sie glaubte gut zu kennen, gefährliche Geheimnisse hatten.

Lesen?

Wer spannende Thriller mag, ist bei Martin Krist auf jeden Fall gut aufgehoben. Er hat einen mitreißenden Schreibstil und erzeugt in diesem Thriller auch dadurch eine authentische Stimmung, indem er einzelne bekannte Songtexte einflicht oder ganz in Social-Media-Manier mit Hashtags arbeitet. 

Niemand wird vergeben ist 2020 über neopubli erschienen und kostet als Taschenbuch 9,99 Euro sowie als E-Book 3,99 Euro.

Mittwoch, 21. Oktober 2020

# 262 - Das Haus, das immer leerer wird

Mit Das Haus hat Olivia Monti einen Krimi veröffentlicht, der in seiner Grundstruktur an Agatha Christies Titel And Then There Were None erinnert, in dem nach und nach Menschen ermordet werden. Die Handlung wird von einer Bewohnerin eines Mietshauses, einer Parapsychologin, die gerade an einem Buch über das Gedächtnis von Orten und Gegenständen arbeitet, erzählt.

In dem Haus leben sehr unterschiedliche Personen, die sich zum Teil nur vom Sehen kennen und in der Mehrheit Singles sind. Man kommt nicht besser oder schlechter miteinander aus als in jedem anderen x-beliebigen Mehrparteienhaus. Das, was die Gemeinschaft lose zusammenhält, sind die monatlichen Zusammenkünfte auf der Dachterrasse von Leonardo Zimmermannn, der zu diesen Anlässen Champagner und Häppchen spendiert. Es kommen immer alle bis auf den syrischen Medizinstudenten, der erst vor Kurzem in die Wohnung gegenüber von Zimmermann eingezogen ist. Dessen Zurückhaltung stachelt die übrigen Bewohner zu wilden Spekulationen über seinen wahren Hintergrund an und die Spekulationen reichen von "Der lebt auf unsere Kosten" bis zu "Er wird bestimmt vom IS bezahlt".

Kurz nach seinem Einzug liegt der junge Mann tot vor der Haustür. Seine Verletzungen weisen auf einen Sturz aus großer Höhe hin. Ist er von seiner Dachterrasse gesprungen oder hat ihn jemand heruntergestoßen? Im Haus mischt sich die Erschütterung einiger Bewohner mit der Gleichgültigkeit der anderen. Wer jedoch glaubt, dass mit dem Abtransport der Leiche und dem Ausräumen der Wohnung durch die Eltern des Studenten wieder die gewohnte Ruhe einkehren würde, irrt: In kurzen Abständen werden weitere Nachbarn tot aufgefunden, die meisten von ihnen starben, nachdem jemand nachgeholfen hatte. Sogar ein kleiner Hund muss dran glauben. Die Hausbewohner diskutieren untereinander, wer von ihnen die Nachbarn auf dem Gewissen haben könnte: Jeder verdächtigt jeden, und bei genauem Hinsehen haben alle merkwürdige Eigenschaften oder Gewohnheiten, die vielleicht ein Hinweis auf das Böse sein können.

Dann wird Zimmermann in einen Unfall verwickelt, der tödlich hätte ausgehen können: Jemand hatte sich an den Bremsleitungen seines Autos zu schaffen gemacht. Muss er weiterhin um sein Leben fürchten? Und schließlich wird tatsächlich eine Nachbarin verhaftet, die im Haus bislang anderer Taten verdächtigt wurde, aber hinsichtlich der Mordfälle nicht unbedingt zu den Top-Favoriten gehörte. Doch letztlich führt ein Stromausfall zum Täter.

Lesen?

Olivia Monti hat in ihr Buch sehr gut Themen eingeflochten, die uns alle immer wieder beschäftigen: Vorurteile, Rassismus, Altersarmut und die Erkenntnis, dass man sich mehr umeinander kümmern sollte. Im Unterschied zu klassischen Krimis nimmt die Polizei jedoch nur eine Nebenrolle ein: Die Beamten kommen nur dann, wenn sie von den Bewohnern gerufen werden. Von ihrer eigentlichen Ermittlungsarbeit erfährt man nichts; die Ursachen, die zum Tod der Nachbarn geführt haben, werden nur auf Nachfrage mitgeteilt. Erst als die Lage eskaliert, zieht ein Polizist in eine der Wohnungen ein, um die Situation besser im Blick zu haben. 

Die Lösung des Falls ist überraschend, greift aber ein anderes gesellschaftliches Thema auf, das immer wieder diskutiert wird. Welches, sei an dieser Stelle nicht verraten. Was allerdings stört, sind die parapsychologischen Exkurse der Erzählfigur, die immer wieder eingestreut werden, jedoch nichts mit der Aufklärung der Todesfälle zu tun haben. Es hilft, ein persönliches Interesse daran zu haben; wer es nicht hat, kann diese Passagen einfach überspringen, ohne etwas von der Handlung zu verpassen.

Das Haus wurde 2020 über neobooks veröffentlicht und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 Euro sowie als Taschenbuch 7,99 Euro.

Montag, 19. Oktober 2020

# 261 - Ein Leben im Paradies...?

Zoë Beck wirft mit ihrem neuesten Buch Paradise City einen Blick in eine Zukunft, in der der optimierte Mensch das höchste Ziel der Regierung ist. 

Im Mittelpunkt steht die freie Journalistin Liina, die für eine Nachrichtenagentur arbeitet, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Presse- und Meinungsfreiheit sind in dieser Zukunft keine Selbstverständlichkeit mehr, sodass die Mitarbeiter immer vorsichtig sein müssen.

Für Liina gilt das umso mehr, weil sie als Trägerin eines transplantierten Herzens ständig durch eine Gesundheits-App überwacht wird, die ihr sagt, wann es Zeit ist zu schlafen, zu essen, bestimmte Medikamente zu nehmen oder ins Krankenhaus zu kommen. Ihre journalistischen Recherchen führt sie undercover durch und versucht dabei, keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Liina kennt nichts anderes als dieses Leben in der modernen Gesellschaft: Die Hauptstadt Deutschlands ist jetzt Frankfurt, das mit den umliegenden Städten zu einer Metropole mit zehn Millionen Einwohnern angeschwollen ist. Berlin ist nur noch ein Ausflugsziel für historisch Interessierte, und der Klimawandel hat dazu geführt, dass die Meeresspiegel angestiegen sind und die Küsten an Nord- und Ostsee überschwemmt wurden. Im sogenannten Hinterland wurde die Natur sich selbst überlassen. Das gilt ebenso für die dort lebenden Menschen, die so etwas wie die Outlaws der durchorganisierten und überwachten Gesellschaft und der Regierung ein Dorn im Auge sind.

Zu reisen gilt als nicht erstrebenswert: Es ist zu teuer und wegen der Visabeschaffung zu aufwendig. Wer fremde Länder kennenlernen will, sieht sich deshalb zu Hause eine Computersimulation an.

Einige Dinge, die Zoë Beck in ihrem Zukunftsentwurf nennt, wirken gar nicht mehr so weit entfernt. Da ist beispielsweise das Smartcase, ohne das der moderne Bürger nicht mehr auskommt: Mit ihm weist man sich aus, bezahlt, verwaltet seine Zugangsberechtigungen und gibt Ärzten und Kliniken den Zugriff auf seine Gesundheitsdaten. Auch Nachrichten werden über das Gerät ausgetauscht. Schon bald soll es Modelle geben, die unter die Haut implantiert werden können.

Liina wird von ihrem Chef Yassin mit einem belanglos erscheinenden Auftrag in die Uckermark, eine Gegend fern der gewohnten Zivilisation, geschickt. Sie soll über einen Todesfall recherchieren: Eine Frau wurde von Schakalen angegriffen und tödlich verletzt. Es ist nicht der erste mysteriöse Todesfall in dieser Gegend.

Während sie dort ist, stürzt Yassin vor einen in den Bahnhof einfahrenden Zug und fällt ins Koma. War es ein Unfall oder hat ihn jemand auf die Gleise gestoßen? Fast zeitgleich wird die hin und wieder für die Agentur arbeitende Kaya tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Hat sie sich tatsächlich umgebracht oder wurde sie ermordet, weil sie zu unbequem gewesen ist? Haben sie und Yassin an einem Projekt gearbeitet, über das sie mit niemandem gesprochen haben?

Je mehr Liina herausfindet, umso deutlicher wird, wie sehr die Gesundheits-App, die Todesfälle in der Uckermark, die Tode von Yassin und Kaya und nicht zuletzt Liinas Erkrankung zusammenhängen. Und dann ist da auch noch Liinas frühere Freundin Simona, die für die Entstehung der Gesundheits-App verantwortlich ist und offenbar mit einem Programmierungsfehler hadert: Die App funktioniert auf der Annahme, dass die Nutzer gesund und produktiv sind und hat mit der Zeit gelernt, dass weniger gesunde Menschen entsorgt werden müssen. Liina weiß immer weniger, wem sie noch trauen kann und befindet sich am Ende in einer lebensgefährlichen Situation.

Lesen?

Zoë Beck hat mit Paradise City einen spannenden Thriller geschrieben, der nur auf den ersten Blick in einer entfernten Zukunft spielt. Tatsächlich ist die Technik weit genug entwickelt, dass die - überwiegend freiwillig hergegebenen - Daten der Menschen sich zur Überwachung der Bevölkerung eignen. Der Schritt zu einem Überwachungsstaat ist dann nicht mehr so weit.
Das Buch zeigt auch, wie groß die Bereitschaft der Menschen ist, sich in Krisenzeiten von einem "starken Staat" leiten zu lassen und dafür viel von der eigenen Privatsphäre aufzugeben. Leseempfehlung!

Paradise City ist 2020 erschienen und kostet als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.



Samstag, 10. Oktober 2020

# 260 - Darüber spricht der Bundestag

Dieses Buch ist aus einem Projekt mehrerer Redakteure von ZEIT ONLINE hervorgegangen, mit dem herausgefunden werden sollte, zu welchem Zeitpunkt und wie oft die Abgeordneten bestimmte Begriffe verwendet haben und wie sich die Wortwahl im Laufe der Zeit verändert hat. Maßgeblich ist hier nicht die absolute, sondern die relative Wortzahl pro 100.000 Wörter. 

Vorweg ein paar Zahlen, die die Dimension verdeutlichen: Es geht hier um mehr als 200 Millionen Wörter, die im Laufe von 4.216 Budestagssitzungen zwischen 1949 (erste Bundestagssitzung) und 2019 (letzte Sitzung vor der Sommerpause) protokolliert wurden. Es geht auch darum, herauszufinden, ob sich der Eindruck, das Parlament beschäftige sich nur mit wenigen Themen intensiver und mit anderen gar nicht, stimmt. Und letztendlich geht es außerdem darum, inwieweit die Bundestagsdebatten ein Spiegel ihrer Zeit waren und sind. 

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt, die jeweils mit Betrachtungen über häufig in den Parlamentsdebatten verwendeten Wörtern gefüllt sind. Die Benennungen der Kapitel soll(t)en den Leserinnen und Lesern Orientierung bieten, schrammen jedoch knapp an diesem Ziel vorbei, weil es ihnen an Trennschärfe fehlt. So beschäftigt sich das erste Kapitel Politische Herausforderungen beispielsweise mit der Atomkraft, dem Kalten Krieg oder dem Antisemitismus; im zweiten Kapitel Gesellschaftlicher Wandel geht es dann u. a. um die Rolle und Stellung der Frauen in der Gesellschaft oder die Ausgestaltung der Heimarbeit, die im Bundestag später unter dem Schlagwort "Telearbeit" und danach unter dem Begriff "Homeoffice" diskutiert wurde. Es erschließt sich nicht unbedingt, warum Themen dem einen oder anderen Kapitel zugeordnet wurden.

Abseits solcher Überlegungen hält das Buch eine Menge interessante Fakten bereit. Da geht es zum Beispiel um die Häufung des Begriffes "Angst" in Zusammenhang mit dem Begriff "Atomwaffen". Wie bei allen untersuchten Wörtern wurde auch hier ein Kurvendiagramm erstellt, aus dem die Entwicklung der Häufigkeit der Nennungen sowie der Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen hervorgeht. Dazu gehört immer auch eine ausführliche Erläuterung des entsprechenden historischen Hintergrunds. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Die Grafik zeigt die mit Abstand meisten Nennungen des Begriffs "Atomwaffen" in den Bundestagsprotokollen im Jahr 1958. Damals wurde bekannt, dass Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß - getreu ihrer Vorstellung, dass Abschreckung den Frieden sichert - die Anschaffung von Atomwaffen planten und dies mit der Begründung, es handele sich um "eine Weiterentwicklung der Artillerie", verharmlosten.

Wie sich die Bedeutung von Szenarien und Problemen in der Wortwahl niederschlägt, ist immer wieder zu beobachten. Ein gutes Beispiel sind die Debatten über das Klima: Mitte der 1980-er Jahre begann die parlamentarische Debatte mit dem Wort "Klimakatastrophe", versiegte in den folgenden Jahren jedoch nach und nach. Die Weltklimakonferenz, die 1999 in Bonn ausgerichtet wurde, gab dem Thema neuen Schub, nun aber war es - in Anlehnung an den weltweit verwendeten Begriff "climate change" - der "Klimawandel", über den im Bundestag gesprochen wurde. 2007 hat dessen Verwendung unter den Parlamentariern ihren Höchststand erreicht, nachdem der Weltklimarat IPCC seinen vierten Sachstandsbericht veröffentlicht hatte, in dem es um den von Menschen gemachten Klimawandel und seine Folgen ging.

Zum Schmunzeln ist das vierte Kapitel Der parlamentarische Sprachgebrauch: Hier geht es darum, wie die Abgeordneten verbal miteinander umgingen oder ob sich in ihren Zitaten, mit denen sie ihre Reden schmücken, ein bestimmtes Bildungsniveau widerspiegelt. Seit 1986 wurde immerhin 32 Mal über "Arschlöcher" und "Ärsche" gesprochen, in den seltensten Fällen war damit jedoch eine Beleidigung verbunden, sondern ein Zitat oder eine gängige Redewendung. Wenn man sein Missfallen über andere Abgeordnete in die passenden Worte fassen will, sind "Trottel" und "Idiot" beliebter, weil Nettigkeiten auf diesem Niveau nach der Geschäftsordnung noch nicht als zu ahndende Beleidigungen gelten, "Arschloch" hingegen schon.

Der Buchtitel ist die gekürzte Fassung einer Beschimpfung, die der Abgeordnete Joschka Fischer 1984 dem Bundestagspräsidenten Richard Stücklen entgegengeschleudert hat: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!" Diese Attacke hatte kein formales Nachspiel: Stücklen hatte Fischer kurz zuvor des Saals verwiesen, das Mikrofon war bereits abgeschaltet und die Sitzung unterbrochen. Deshalb findet sich dieser Satz in keinem Parlamentsprotokoll.

Lesen?

Das Buch eignet sich für alle, die sich für Politik und politische Entwicklungen interessieren. Aber auch, wenn man auf diesem Gebiet bislang eher desinteressiert war, bietet Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind..." eine gute Möglichkeit, hinsichtlich politischer Diskussionen einen roten Faden zu finden und so besser zu verstehen, wie und vor welchem Hintergrund Bundestagsentscheidungen zustande gekommen sind. Das Buch ist ein interessanter Blick nicht nur in die Vergangenheit des Bundestags, sondern auch in die deutsche Gesellschaft.
 
Es schließt mit einem Ausspruch des CDU-Abgeordneten Hans Hermann Dichgans vom 25. Oktober 1967: "Nun, ich möchte hier leidenschaftlich für das Recht der Abgeordneten eintreten, Unsinn zu reden. (Heiterkeit und Beifall.) Es ist eines der Grundrechte des Parlaments."  Diesen Eindruck kann man als Bürger immer wieder bekommen.

Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind..." ist im September 2020 im DUDEN-Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 16 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.
 
Nachtrag: Hier hat ZEIT ONLINE den Zugriff auf die Datenbank bereitgestellt. Und hier wurden die Bundestagsprotokolle der 18. Legislaturperiode (2013-2017) durchsuchbar aufbereitet und zur Verfügung gestellt (Projekt der Open Knowledge Foundation Deutschland).

Freitag, 2. Oktober 2020

# 259 - Ein unorthodoxes Leben

Diese beiden Bücher von Deborah Feldman sollten nicht getrennt voneinander beurteilt werden, weil sie inhaltlich zu dicht beieinander sind: Unorthodox (erschienen 2016) und Überbitten (erschienen 2017). In beiden schreibt Feldman über den Menschen, den sie am besten kennt und den sie neu kennenlernen musste: sich selbst. 

Deborah Feldman wächst in der ultraorthodoxen chassidischen Satmarer-Sekte auf. Weil ihr Vater kaum imstande ist, sich selbst zu versorgen, und ihre Mutter mit Sack und Pack verschwunden ist, als die Tochter noch ein kleines Kind war, wird sie von den Großeltern aufgenommen. Die Satmarer leben in Williamsburg, einem Stadtteil des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn. Sie sind ganz unter sich und folgen den von ihrem Rabbi gemachten Regeln. Diese Regeln sind äußerst streng und engen vor allem die Frauen ein.

Schon als Achtjähriger fällt Feldman auf, dass den Mädchen und Frauen Wissen vorenthalten wird: Sie beteiligen sich nicht an Gesprächen mit den Männern und gehen auf Mädchenschulen, in denen nur das vermittelt wird, was die künftigen Ehefrauen und Mütter wissen müssen, um ihre Aufgabe zu erledigen. Die Isolation mitten in der Millionenstadt New York wird durch eine Reihe von Verboten zementiert: Die Sprache der Gemeinde ist Jiddisch, Englisch gilt als unrein. Bücher zu lesen ist ebenfalls verboten, wenn es sich nicht um die Tora handelt. Die Ernährung unterliegt der Überwachung des Rabbis, die Milch für Milchprodukte darf nur unter der Aufsicht eines religiös sehr bewanderten Juden gemolken werden. Das Singen ist ab dem zwölften Geburtstag nicht mehr erlaubt. Es reiht sich Verbot an Verbot, Feldman lebt in ihrer Kindheit und Jugend wie in einem Käfig, an dessen Gitterstäbe sie ununterbrochen stößt. Gefühle zu zeigen ist verpönt, stattdessen wird jedes Familienmitglied danach bewertet, wie strikt es die zahllosen Regeln einhält.

Deborah Feldman lebt von Beginn an mit einer Schuld, die sie sich nicht selbst aufgeladen hat. Ihre aus Ungarn stammende Großmutter hat als Einzige in ihrer Familie den Holocaust überlebt, in der Gemeinde finden sich viele Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Um sich posthum an Hitler zu rächen, zeugen die Satmarer so viele Kinder wie möglich. Die Großmutter versäumt nicht, ihre Enkelin darauf hinzuweisen, dass diese nur deshalb lebt, weil die alte Frau überlebt hat. Eine perfide Strategie, einem schuldlosen Menschen Schuldgefühle einzupflanzen.

Feldman wird mit 17 Jahren mit dem sechs Jahre älteren Eli verkuppelt, dem sie bis zum Tag ihrer Hochzeit nur drei Mal begegnet ist. Ihre Ehe gerät in jeder Hinsicht zum Desaster: menschlich, sexuell, religiös. Die Hoffnung, dass eine Ehe gleichbedeutend mit mehr Freiheiten sein könnte, zerschlägt sich: Gebärfähige Ehefrauen haben religiöse Pflichten einzuhalten, was insbesondere Elis Familie wichtig ist. Die junge Frau baut psychisch und physisch ab, und der unreife Eli beginnt fremdzugehen. 

Als sie 19 ist, wird Feldman Mutter eines Sohnes. Fast gleichzeitig schreibt sie sich heimlich bei einem College für ein Literaturstudium ein und trägt außerhalb von Williamsburg moderne Kleidung. Der Abnabelungsprozess von ihrem Mann und der Sekte mündet schließlich darin, dass Feldman ihren Mann nach fünf Jahren Ehe verlässt - rechtzeitig genug, um ihrem Sohn die streng religiöse Erziehung, die im Alter von drei Jahren beginnt, zu ersparen. Sie tut dies in dem Wissen, dass sie für den normalen Arbeitsmarkt ohne einen gültigen Schulabschluss und ohne einen Beruf uninteressant ist. Eine weitere Hürde ist die ihr fremde Welt, in der sie nun leben wird: mit unbekannten Verhaltenscodes und Werten. Mit der Hilfe einer Freundin schafft sie es, mit 23 ihren ersten Verlagsvertrag abzuschließen - für Unorthodox, ein Buch, das sich in den USA zu einem Bestseller entwickeln wird.

Lesen?

Unorthodox vermittelt nicht nur das schwierige Sektenleben, von dem sich Deborah Feldman eingepfercht gefühlt hat. Es geht in ihrer chronologischen Autobiographie auch um weitere Aspekte: Da ist die prüde Erziehung durch die Großeltern, die dazu führte, dass ihre Enkelin nichts über die Sexualität ihres Körpers wusste, aber auch Feldmans Beobachtungen, wie sich das arme Williamsburg nach und nach durch Gentrifizierung veränderte. Sie berichtet auch, wie herzlos und emotional grausam mit Familienangehörigen umgegangen wird, die dem dauernden Druck nicht standhalten und einen Nervenzusammenbruch erleiden.

Deborah Feldman gibt den Leserinnen und Lesern ihres Buches zum Schluss eine Botschaft mit auf den Weg: Wenn irgendwer versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.
Sie hatte diesen Mut und hat ihn mit dem Ausschluss aus ihrer Familie bezahlt.
 
 
Mit Überbitten hat Deborah Feldman ihr erstes Buch
fortgesetzt. Sie beschließt, sich gemeinsam mit ihrem Sohn auf die Spuren ihrer Großmutter zu begeben, weil diese der einzige Mensch war, der sich ihr positiv zugewandt hatte. Feldman fühlt sich von Europa angezogen und weiß, dass ihr ihre Zukunft einiges abverlangen wird: Sie hört von Menschen, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen und sich verzweifelt das Leben genommen haben. 

Bevor sie sich auf ihre Reise begibt, blickt sie auf ihr zurückgelassenes Leben zurück und stellt fest, wie sehr sich die Mitglieder ihrer Sekte abgeschottet haben. So sehr, dass die Häufung von schweren Erkrankungen auf Inzest zurückzuführen sein könnte. Die Gemeinde reagierte darauf mit einem Programm, mit dem die Erbgesundheit ihrer Mitglieder im heiratsfähigen Alter festgestellt wurde.

Als in der Schule allen die Aufgabe gestellt, einen Familienstammbaum zu erstellen, erfährt Feldman bei ihren Recherchen erstmals, welche Rolle Europa in der Familiengeschichte spielt und dass ihre Mutter aus Deutschland stammte. Die gewonnenen Informationen sollen die Grundlage für ihre Reise durch Europa werden, auf der sie vor allem auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist.

Die junge Frau beginnt ihre Selbst-Suche mit einem Roadtrip durch die USA und lernt viele verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenskonzepten kennen. Sie reist mit ihrem Sohn immer wieder in europäische Länder und beschäftigt sich intensiv mit europäischer Literatur. Das Gefühl des langsamen Ankommens wird stärker und sie merkt, dass ihre wahren Wurzeln in Europa sind. Feldman setzt ihre Nachforschungen über ihre Vorfahren, die sie als 14-jährige Schülerin begonnen hatte, fort und stößt auf erstaunliche Erkenntnisse. Ihre Reise endet in Berlin, wo sie sich mit ihrem Kind niederlässt und spürt, dass sich für sie ein Kreis geschlossen hat: Das Jiddische hat große Ähnlichkeit mit der deutschen Sprache und ein Teil ihres Stammbaums besteht aus einer deutschen Verwandtschaft.

Aber das Ankommen in Berlin verläuft nicht ohne Rückschläge: Mit den Stolpersteinen kann sie nichts anfangen und auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof ist heute ein Kinderspielplatz. Das schockierendste Erlebnis hat Feldman jedoch bei einem Schwimmbadbesuch: Sie sieht einen Neonazi, dessen Körper mit eindeutigen Tattoos einschließlich einer Skizze des KZ Auschwitz und der Aufschrift "Jedem das Seine" bedeckt ist und der sich unbehelligt dort aufhält. Der Mann ist Kreistagsabgeordneter der NPD und wird wegen seines "Auftritts" angeklagt. Doch Feldman empfindet den Prozess als Show, das Urteil fällt mild aus.

In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung erläutert Deborah Feldman den Titel ihres Buches. "Überbitten" geht auf das jüdische Wort "iberbeten" zurück. Damit ist ein Ritual gemeint, mit dem man sich prophylaktisch auch für die Verfehlungen und Verletzungen entschuldigt, von denen man nichts weiß, die man aber begangen haben könnte. Es dient dazu, Gott gnädig zu stimmen und ist eine Versöhnung, bei der nichts besprochen wird. Mit jedem "Iberbeten" wird ein Teil der Schuld gelöscht.
 

Lesen?

Überbitten ist gleichzeitig Fortsetzung und Ergänzung von Unorthodox. Schon das ist eine Empfehlung. Das Buch bietet jedoch einen noch größeren Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt Feldmans, weshalb beide Titel gelesen werden sollten.

Unorthodox ist als gebundenes Buch beim Secession Verlag erschienen, jedoch nur noch antiquarisch erhältlich. Das beim btb Verlag erschienene Taschenbuch kostet 10 Euro.
Die gebundene Ausgabe von Überbitten ist ebenfalls im Secession Verlag erschienen und kostet 28 Euro. Das im btb Verlag veröffentlichte Taschenbuch ist für 12 Euro erhältlich.


Freitag, 25. September 2020

# 258 - Abgebrochen: Das Restaurant hat für mich nicht geöffnet

Auf dieses Buch bin ich zufällig gestoßen. Das Thema
sprach mich an, und als ich las, dass es 2016 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist, habe ich zugegriffen.


Im Restaurant - Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne von Christoph Ribbat betrachtet das Phänomen Restaurant aus allen erdenklichen Perspektiven, die mit ihm zusammenhängen und unternimmt eine Zeit- und Stilreise durch die Welt der Speisegaststätten und Nobel-Gourmettempel. Er hat sein Buch in vier Kapitel unterteilt und streut immer wieder Anekdoten aus Küchen und Gasträumen in seine Betrachtungen ein. Doch was Ribbat mit 'Eine Geschichte' im Buchtitel andeutet, ist dieses Werk gerade nicht: Es wird keine Geschichte erzählt, die ihren roten Faden in der Chronologie der Ereignisse hätte; Ribbat springt in der Zeitgeschichte vor und zurück, oft wird sogar innerhalb eines Abschnitts nicht klar, auf wen oder was sich das eben Geschriebene gerade bezieht: Dass es sich beispielsweise bei Julius Behlendorff nicht um den Inhaber eines Nobelrestaurants gehandelt hat, erschließt sich mir erst im Nachhinein. Das ist auch mein eigener Fehler, weil der Autor mit der Nummerierung seiner Quellen indirekt einen Hinweis darauf gegeben hat. Aber das Quellenverzeichnis nimmt mit 25 Seiten etwa zehn Prozent des gesamten Buches ein und ich gebe zu, dass mir das ständige Blättern zu lästig ist.


Vermutlich sollte es das Interesse steigern, wenn manche Episoden zunächst abrupt enden und dann an anderer Stelle fortgesetzt werden. Mit dieser Methode fällt es jedoch nicht leicht, die losen Enden später wieder aufzunehmen, sodass der erwähnte rote Faden noch mürber wird. Da dies nicht nur mit einer, sondern zeitgleich mit mehreren Handlungssträngen passiert, ist das Lesen manchmal anstrengend.


Doch Ribbat zeigt auch, was das Restaurant ebenfalls ausmacht: Da geht es dann zum Beispiel um die aufopferungsvolle Selbststudie einer Studentin in Chicago im Jahr 1917, die in verschiedenen Lokalen jobbt und ihre deprimierenden Erkenntnisse über das Arbeitsleben des Restaurantpersonals zusammenfasst; auch auf Prominente in der Küche und an den gedeckten Tischen wird verwiesen, die Bandbreite reicht hier von Wolfgang Siebeck und Eckart Witzigmann bis zu James Baldwin und auch Joseph Goebbels. Durch das Buch weht so auch immer wieder eine Kritik an den Verhältnissen in der Gastronomie und dem teilweise unangenehmen Umgang der Gäste mit dem Restaurantpersonal. An einer Stelle wird ein kurzer Blick auf einen der durch die NSU verübten Morde geworfen: Ein Freund der Familie bringt den Leichnam des Getöteten in sein Heimatdorf in der Osttürkei. Der Bezug zum Thema Restaurant: Dieser Freund betreibt in Rostock einen Kebap-Grill, außerdem hält es der Bruder des Mordopfers im Dorf nicht mehr aus und kellnert in Antalya. Mehr erfährt der Leser hierzu nicht, sodass der Eindruck haften bleibt, dass der kurze Exkurs auf jeden Fall in das Buch hinein sollte.


Lesen?

Die Art, sich der Geschichte des Restaurants und aller weiterer Facetten der Gastronomie zu widmen, hat mich nicht angesprochen. Die oft sehr kurzen Schlaglichter und das ständige Wechseln von Zeit und Ort machen das Lesen ermüdend. Auf Seite 161 habe ich das Buch zugeklappt.


Im Restaurant - Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne ist 2016 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe beim Verlag 19,95 Euro, im Buchversand jedoch nur noch 4,99 Euro. Das Taschenbuch wird für 12 Euro angeboten.