Dienstag, 20. Dezember 2022

# 376 - Culture-Clash: Ein Alman feiert selten allein

Kurz vor Weihnachten muss es ein Buch sein, das sich mit dem Fest der Liebe beschäftigt, in diesem Fall ein Hörbuch. In diesem Herbst kam das Debüt der Autorin Aylin Atmaca heraus: In Ein Alman feiert selten allein begleitet ihre Hauptfigur Elif zum ersten Mal ihren Freund Jonas zu dessen Eltern. Aber die beiden machen sich nicht nur auf den Weg, damit sich Elif ihren Schwiegereltern in spe vorstellen kann, sondern auch, um mit etlichen weiteren Verwandten von Jonas gemeinsam Heiligabend zu feiern. 

Elif kennt deutsche Bräuche nur in dem Maße, in dem man sie daran teilhaben ließ. Sie weiß, dass ein Weihnachtsbaum, gutes Essen und Geschenke üblich sind, alles andere ist ihr fremd. Ihre eigene Familie hat den Brauch, einen Baum aufzustellen, groß aufzutafeln und sich gegenseitig zu beschenken, übernommen. Wenn alle beisammen waren, ging es dabei immer laut und fröhlich zu. Dass Heiligabend und Weihnachten in deutschen Familien völlig anders begangen werden, kam ihr nie in den Sinn.

Nun ist sie also bei den Neubauers eingeladen und muss feststellen, dass sie sich alles ganz anders vorgestellt hat. Mutter Neubauer beginnt schon im September mit dem Verschicken der Weihnachtskarten und ruft für die Planung des Heiligen Abends eine WhatsApp-Gruppe ins Leben. Elif lernt, dass nichts dem Zufall überlassen und das Fest nach einem fein ausgearbeiteten Ablaufplan vorbereitet wird.

Und dann kommt der große Tag. Elif ist bemüht, bei der Familie einen möglichst guten Eindruck zu machen und allen denkbaren Fettnäpfchen auszuweichen. Aber schon nach wenigen Stunden merkt sie, dass sie nicht nur vom detaillierten Zeitkorsett, sondern auch von scheinbar harmlosen Bemerkungen, die sich auf ihren Migrationshintergrund beziehen, überfordert ist. Dass sie sich nicht wie sie selbst verhält und obendrein ihr Freund als "Sohn des Hauses" in Verhaltensmuster zurückfällt, die sie bislang nicht an ihm kannte, gibt ihr den Rest.

Die Situation eskaliert derart, dass die Beziehung der jungen Leute auf der Kippe zu stehen scheint. Doch Elif wird in einem ruhigen Moment auch bewusst, dass sie das, was sie Jonas ankreidet, ihren eigenen Eltern gegenüber ebenfalls praktiziert: Auch sie hat vor ihnen Geheimnisse und gaukelt bei Familientreffen vor, eine brave Tochter ohne Laster zu sein. "Wir sind für immer die Kinder unserer Eltern - ob wir wollen oder nicht", resümiert sie zum Schluss.

Lesen?

In Ein Alman feiert selten allein nimmt sich Aylin Atmaca sehr überspitzt die deutschen Bräuche rund um Heiligabend und Weihnachten sowie die Vorurteile, die Menschen mit ihrem persönlichen Hintergrund immer noch entgegenschlagen - immerhin 67 Jahre nach dem Abschluss des ersten Anwerbeabkommens mit Italien und 61 Jahre nach dem Abkommen mit der Türkei -, vor. Was die Hauptfigur Elif erlebt, ist ein Hardcore-Heiligabend, wie ich ihn von niemandem kenne und auch niemandem wünsche.

Elif hat mit ihrer Schöpferin viel gemeinsam: Beide wurden als Kinder von aus der Türkei stammenden Eltern in Deutschland geboren und sind zwischen zwei Kulturen aufgewachsen. Beide haben wegen ihrer nicht-deutschen Herkunft Verletzungen erfahren. Auch das klingt im Buch immer wieder an.

Der Roman hat viel Humor und einen lockeren Schreibstil. Sollte er jedoch der Versuch gewesen sein, den Deutschen mit ihren Feiertagsbräuchen den Spiegel vorzuhalten, ist das nicht gelungen, weil die Überzeichnung zu stark ausgefallen ist. Atmacas Kritik an Stereotypen, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, kann ich hingegen gut nachvollziehen.

Ein Alman feiert selten allein ist 2022 bei Harper Collins erschienen und kostet als Taschenbuch 16 Euro, als E-Book 13,99 Euro sowie als Hörbuch (gelesen von Sandra Voss) 12,99 Euro.


Freitag, 16. Dezember 2022

# 375 - Eine Frau - ein besonderer Blick auf die verstorbene Mutter

Im April 1986 stirbt Annie Ernaux' Mutter im Alter von 80 Jahren in einem Altenheim in der Nähe von Paris. Zwei Jahre hat sie dort gelebt - dement und hilfsbedürftig.

Knapp zwei Wochen später schreibt Ernaux in Eine Frau auf, was das besondere Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter geprägt hat. Zehn Monate benötigt sie, um ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend zu Papier zu bringen, aber auch, um über das oft angespannte Mutter-Tochter-Verhältnis zu schreiben, das die beiden Frauen verband.

Die Eltern stammten aus sozial einfachen Verhältnissen und wollten, dass es ihr Kind einmal besser hat als sie. Dass Bildung der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, war insbesondere der Mutter klar. Damit das gelingt, sollte es bei einem Kind bleiben. Das erste Kind der Eltern stirbt 1938 an Diphtherie, 1940 wird Annie geboren. Obwohl das Geld knapp ist, ermöglichen die Eltern ihrer Tochter den Besuch guter Schulen. Das Kind Annie weiß genau, mit welchem Anliegen sie sich an den Vater oder die Mutter wenden muss: "Er ging mit mir auf den Jahrmarkt, in den Zirkus, in Filme mit Fernandel, er brachte mir Radfahren bei und welches Gemüse im Garten wuchs. Mit ihm hatte ich Spaß, mit ihr 'unterhielt ich mich'. Sie war die dominante Figur, das Gesetz."

Annie Ernaux beschreibt sehr genau und prägnant, wie sich das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter verändert, als die Tochter vom Kind zur Jugendlichen wird. Durch deren Unterstellung, die Tochter würde mit dem Erstbesten ins Bett gehen und sich schwängern lassen, erzeugt die Mutter ungewollt eine Distanz. Ernaux empfindet bei dem Gedanken an ihre Mutter in dieser Zeit eine so deutliche Mutlosigkeit, dass sie eine Parallele zieht zu "afrikanischen Müttern, die ihren Töchtern die Arme auf dem Rücken festhalten, während eine Beschneiderin ihnen die Klitoris entfernt".

Spätestens mit dem Beginn des Studiums wird spürbar, dass sich Ernaux und ihre Eltern in verschiedenen Welten bewegen und einander kaum noch etwas zu sagen haben. An der Uni lernt die junge Frau ihren späteren Ehemann kennen, der aus einem Elternhaus stammt, in dem Bildung etwas Selbstverständliches ist. Ihr wird der soziale Unterschied zwischen ihren Eltern und Schwiegereltern sowie insbesondere den beiden Müttern immer deutlicher.
Einige Zeit nach dem Tod des Vaters zieht die Mutter in das Haus ihrer Tochter ein, in dem diese mit ihrem Mann und den zwei Söhnen lebt. Es ist keine Überraschung, dass sich dabei Konflikte ergeben: Die Erwartungen von Mutter und Tochter an das gemeinsame Zusammenleben sind nur schwer in Einklang zu bringen. Nach wenigen Jahren zieht die Mutter zurück in ihre Heimatstadt Yvetot.

Dann stellt Ernaux fest, dass sich ihre Mutter verändert. Sie wird immer verwirrter, und nach einiger Zeit wird bei ihr die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert. Ernaux holt die alte Frau zu sich, muss aber feststellen, dass sie mit deren Pflege auf Dauer überfordert ist. Es bleibt nur die Unterbringung in einem Pflegeheim.

Lesen?

Wer schon ein Elternteil verloren hat, kann sehr viel von dem nachempfinden, worüber Ernaux geschrieben hat. Das Verhältnis zu den Eltern - nicht nur zur Mutter - ändert sich im Laufe des Lebens. Dazu gehört auch, dass sich die Beziehungen oft umkehren, wenn die alten Eltern mit ihren Kräften am Ende sind oder eine Demenz beginnt, das Leben zu beherrschen: Während früher die Eltern (meistens) als Menschen erlebt wurden, die so schnell nichts umhaut, nehmen sie im Alter oft de facto die Rolle von Kindern ein, die von ihren eigenen Kindern Unterstützung erhoffen.

Annie Ernaux hat nicht nur diesen Rollenwechsel sehr genau beschrieben, sondern auch das wechselhafte Verhältnis zu ihrer Mutter, die durch von unterschiedlichen sozialen Status geprägten Leben und Konflikte der beiden Frauen sowie ihren eigenen  Trauerprozess, der mit der letzten Zeile des Buches nicht zu Ende war. Das alles in einer schnörkellosen Sprache, die die Leserschaft direkt anspricht.

Eine Frau wurde in der Originalfassung Une femme 1987 veröffentlicht. 1993 und 2007 wurden die deutschen Titel Das Leben einer Frau bzw. Gesichter einer Frau herausgebracht. 
Die aktuelle Übersetzung aus dem Jahr 2019 erschien im Suhrkamp Verlag. Die gebundene Ausgabe kostet 20 Euro, das E-Book 11,99 Euro und das Taschenbuch 12 Euro.

Annie Ernaux erhielt 2022 den Nobelpreis für Literatur.


Freitag, 9. Dezember 2022

# 374 - Kaputte Wörter - kann da noch etwas repariert werden?

In Matthias Heines Buch Kaputte Wörter? kreist alles um die Frage, ab wann ein Wort so "kaputt" ist, dass man es auf keinen Fall weiterhin verwenden darf. Doch woran kann man erkennen, ob ein Wort noch gebrauchsfähig ist?

Heine erläutert das anschaulich an 78 Begriffen von "Abtreibung" bis "Zwerg". Ihnen ist gemeinsam, dass ihre Benutzung durch einen Sprecher oft dazu führt, dass sein Gesprächspartner sich nicht über den gesagten Inhalt, sondern über die Verwendung des "kaputten" Wortes erregt. Die eigentliche Botschaft des Sprechers gerät dabei völlig in den Hintergrund.

Diskussionen um den richtigen Gebrauch der Sprache sind in Deutschland nichts Neues. Schon im 17. Jahrhundert wandten sich die deutsche Aristokratie und das Bildungsbürgertum gegen das Einsickern von französischen Begriffen und die Entstehung der sog. Alamodesprache.
Während des Ersten Weltkriegs tat sich mit dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein eine Art Tugendwächter hervor, der die seiner Meinung nach falsche Verwendung von Begriffen wie z. B. Billett anstelle von Fahrkarte mit Vaterlandsverrat gleichsetzte.

Die Sprachdiskussionen, die heute geführt werden, haben allerdings einen anderen Hintergrund. Heute verschaffen sich gesellschaftliche Gruppen Gehör, die bislang ignoriert oder marginalisiert wurden und für sich die Art und Weise beanspruchen, wie man über sie spricht.
Hinzu kommt, dass durch die Veränderung der Medienlandschaft in den letzten zwanzig Jahren ein falsches und/oder unbedachtes Wort deutlich mehr Reichweite hat: Wer früher z. B. das N-Wort am Kneipentresen aussprach, löste nur ein Augenrollen aus. Heute haben Äußerungen durch die sozialen Medien ein Mehrfaches an Publikum - und führen schnell zu einem verbalen Flächenbrand.
Und dann ist da noch ein Phänomen, das Heine als German linguistic angst bezeichnet. Nach seiner Beobachtung haben speziell Deutsche eine große Angst vor falscher Sprache. Ein Indiz dafür sind die Begriffe Sprachkritik und Unwort. Sie gibt es in der Bedeutung, wie wir sie kennen, nur in der deutschen Sprache; ähnliche Begriffe wie z. B. language criticism bzw. non word treffen nicht den Kern der Sache.

Lesen?

Kaputte Wörter? bietet eine Fülle von Einsichten. Matthias Heine beleuchtet jedes einzelne Wort sehr genau, indem er nicht nur seinen Ursprung und Gebrauch erläutert, sondern auch die Gründe, die zu der Kritik an ihm geführt haben. Jedes Kapitel schließt mit einer persönlichen Einschätzung des Autors ab.

Viele der von Heine gewählten Wörter waren mir als "kaputt" bekannt. Neu war mir jedoch die Diskussion um beispielsweise "Altes Testament", "Schamlippen" oder "bester Freund". 
Matthias Heine bezieht zwar immer Stellung, betont aber, dass sein Buch ein Beitrag zur Sprachdiskussion sein soll, er aber niemandem seine Sichtweise aufzwingen will. Das ist ihm gelungen.

Kaputte Wörter? ist 2022 im Dudenverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.

Sonntag, 4. Dezember 2022

# 373 - Meine Mutter sagt... Ach, wenn sie doch mal schweigen würde

Meine Mutter sagt ist das zweite Buch von Stine
Pilgaard, das hier in der Bücherkiste vorgestellt wird. Es ist jedoch das Debüt der dänischen Autorin, das übersetzt wurde, nachdem ihr zweiter Roman Meter pro Sekunde in Deutschland ein großer Erfolg war.

Die namenlose Ich-Erzählerin wird von ihrer Freundin verlassen, mit der sie dreieinhalb Jahre zusammengelebt hatte. Es bricht ihr das Herz, denn sie hatte sich so sehr gewünscht, dass diese Beziehung für immer halten würde. Man durchlebt mit der Erzählerin sämtliche verzweifelten und hoffnungsvollen Momente und fühlt, wie schwer es ihr fällt, mit der Situation zurechtzukommen. Doch das Buch ist keineswegs trübsinnig: Pilgaard hat ihre leidende Protagonistin mit einem trockenen Humor ausgestattet, der immer wieder für Lacher sorgt.

Die Verlassene kommt übergangsweise bei ihrem Vater unter, einem Pastor, der mit seiner zweiten Frau zusammenlebt. Man erfährt von der länger zurückliegenden Scheidung der Eltern und der unterschiedlichen Art und Weise, wie diese damit umgehen. Warum sich die Erzählerin entschieden hat, bei ihrem Vater einzuziehen, wird schnell klar: Im Gegensatz zu seiner Ex-Frau ist er ruhig und verständnisvoll. Die Mutter hingegen haut ihrer Tochter wie nebenbei ihre Kritik um die Ohren, obwohl diese in ihrer Situation Zuspruch und Trost gebrauchen könnte. Pilgaard schildert sie als egozentrisch und wenig empathisch. Kurz: anstrengend.

Zum Glück ist da die beste Freundin Mulle, die von der Erzählerin als ihre Spindoktorin bezeichnet wird. Sie ist bodenständig und praktisch und damit eine gute Stütze für die trauernde junge Frau.
Auch der Arzt, der in der Trauerphase ständig von der Erzählerin aufgesucht wird, erweist sich als guter und einfühlsamer Zuhörer. Er geht nicht nur auf die körperlichen Beschwerden, sondern auch auf den seelischen Zustand seiner Patientin ein. Ein Traum.

Eine Besonderheit des Romans sind die eingestreuten Seepferdchenmonologe. Sie spielen auf die Hirnregion Hippocampus an, die für das Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen notwendig ist. Mit einer spielerischen Sprache gelingt es Pilgaard, zu zeigen, wie nahe der Erzählerin der Verlust der geliebten Freundin geht.

Lesen?

Stine Pilgaard ist mit Meine Mutter sagt ein Roman gelungen, der bei aller Verzweiflung zeigt, dass es nach einem tiefen Tal auch wieder aufwärts geht und sich die Beziehung zu einem (immer noch) geliebten Menschen neu gestalten lässt, nachdem man diesen losgelassen hat.

Meine Mutter sagt ist als deutsche Übersetzung 2022 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

Stine Pilgaard erhielt für das Original Min mor siger 2012 den Bodil und Jørgen Munch-Christensen-Debütantenpreis (Bodil og Jørgen Munch-Christensens debutantpris).

Samstag, 26. November 2022

# 372 - Atmosphärisch dichter Krimi in den Weiten Nebraskas

Die amerikanische Autorin Chris Harding Thornton hat
ihren Debütroman in eine Kleinstadt inmitten der Sandhills von Nebraska verlegt und in den Sommer des Jahres 1978: Pickard County ist eine Gegend, in dem jeder jeden kennt und in dem zahllose Geschichten und Gerüchte die Runde machen. 

Eine der Hauptfiguren ist Deputy Sheriff Harley Jensen. Er ist geschieden, hat kein nennenswertes Sozialleben und darum kein Problem damit, die Nachtschichten zu übernehmen. Sein Leben ist unaufgeregt: Manchmal kommt ein Notruf, auf den er reagieren muss, aber einen großen Teil seines Dienstes verbringt er mit der Kontrolle der vielen leerstehenden Farmhäuser. Jedes von ihnen hat eine Geschichte, auch das, in dem Harley aufgewachsen ist. Wegen eines traumatischen Erlebnisses in seiner Kindheit versucht er das Gebäude zu meiden.

Doch da ist diese Brandserie. Immer wieder treiben sich gelangweilte Jugendliche in den verlassenen Farmhäusern herum und zünden Teile davon an. Harley ist allerdings davon überzeugt, dass dahinter der jüngste Sohn der Reddick-Familie steckt, den er schon eine Weile beobachtet. Paul gehört zu den Leuten, die ihren Mitmenschen gehörig auf die Nerven gehen, die aber schlecht zu fassen sind. Er ist der örtlich bekannte Kleinkriminelle, der aus einer Familie stammt, die nach einem tragischen Ereignis achtzehn Jahre zuvor zerrüttet ist. Der älteste Sohn wurde im Alter von sieben Jahren erschlagen, der Mörder konnte jedoch nicht mehr sagen, wo er die Leiche abgelegt hatte: Bevor es zur Verhaftung kam, erschoss er sich. Breit angelegte Suchaktionen waren erfolglos, das tote Kind blieb verschwunden. Auch Harley Jensen war an der erfolglosen Suche beteiligt gewesen.

Die Mutter Viginia Reddick zog sich danach völlig zurück und versank in Alkohol und Zigarettenqualm. Ihre Söhne Rick und Paul wuchsen in einer durch das Familientrauma geschwängerten Atmosphäre auf.
Als junge Erwachsene arbeiten sie nun für ihren despotischen Vater, der alte und beschädigte Trailer aufkauft, sie von seinen Söhnen aufarbeiten lässt und weiterverkauft. 

Während Paul halt- und emotionslos durch sein Leben schlingert, versucht Rick, seine kleine Familie über Wasser zu halten. Er lebt mit seiner Frau Pam und seiner kleinen Tochter Anna in einem Trailerpark, in dem sich Pam immer unwohler fühlt. Sie spürt genau, dass die Entscheidung, Mutter zu werden, für sie grundfalsch war und sie sich auch nicht als Ehe- und Hausfrau eignet. Ihr wird klar, dass sie das, was sie sich unter einem normalen Leben vorstellt, an Ricks Seite nie erreichen wird. Pam wird die einzige Person in diesem Krimi sein, die versucht, ihre Situation zu ändern. 

Die Handlung nähert sich nur langsam ihrem Höhepunkt, was dem Buch aber nichts von seiner Spannung nimmt. Der Schluss wird von einem Showdown bestimmt, der nur darum entsteht, weil zu viele Personen die falschen Schlüsse gezogen haben und sich an den Falschen rächen wollen.

Lesen?

Chris Harding Thornton ist in siebter Generation in Nebraska ansässig. Das merkt man ihrem Buch deutlich an: Der Kriminalroman atmet gewissermaßen die besondere Atmosphäre, die eintönige und karge Landschaft, die verlassenen und verfallenden Farmen mit ihren teils dramatischen Geschichten sowie die Art und Weise, wie die Menschen dort miteinander umgehen. 

Pickard County ist allerdings kein typischer Krimi, wie man ihn sonst gewohnt ist. Dem Buch liegt kein Mord zugrunde, der von einem cleveren Polizisten gelöst wird. Es geht vielmehr um die Abgründe im menschlichen Miteinander, um Hoffnungen, Träume, Enttäuschungen und Traumata. Alles zusammen ergibt eine so gute Mischung, dass das Buch von der ersten bis zur letzten Seite nicht langweilig wird.
Da Chris Harding Thornton mehrere Fragen unbeantwortet gelassen hat, kann man vermuten, dass es eine Fortsetzung von Pickard County geben wird.

Pickard County wurde 2022 auf Deutsch im Polar Verlag veröffentlicht und kostet als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.


Montag, 21. November 2022

# 371 - Mehr als nur Schlange und Walfisch: Die Biester der Bibel

Um die 130 Tiere gibt es in der Bibel, und es sind
nicht nur die, die in der Erzählung von der Arche Noah vorkommen. Die Philosophin Claudia Paganini und der Theologe Simone Paganini setzen mit Die Biester der Bibel die Reihe ihrer Bücher fort, in denen sie ihren Leserinnen und Lesern die Besonderheiten der Bibel mit viel Freude und Humor näherbringen.

Das gelingt ihnen auch diesmal. Sie erläutern, warum die Schlange aus dem Paradies nur einmal spricht, was es mit Einhörnern und Drachen im Alten Testament auf sich hat und wie nach biblischer Rechtsprechung mit Tieren umgegangen wurde, die einen Menschen verletzt oder gar getötet hatten.

An etlichen Stellen fragt man sich beim Lesen, warum einem bei einem Blick ins Alte Testament solch abenteuerliche Tiere, auf die man doch sofort aufmerksam würde, nicht aufgefallen sind. Beim Einhorn beispielsweise, das wir heute als mystisches Wesen kennen, lässt sich das mittlerweile gut nachvollziehen. Beim Übersetzen des Alten Testaments ins Griechische galt die Redewendung: Viele Köche verderben den Brei. Immerhin 72 Übersetzer waren mit der Übertragung des Textes beschäftigt. Sie stießen im Original auf das hebräische Wort "Re'em", das ein starkes und wildes Tier beschreiben sollte, und entschieden sich für den griechischen Begriff "Monókeros": Das Einhorn war geboren, zumindest sprachlich. 
Sogar die Heilige Hildegard von Bingen glaubte an die Existenz des Tieres und schilderte in einer ihrer Schriften, wie man es am besten fangen könne: Mithilfe blonder Jungfrauen sollte die Jagd auf Einhörner zum Erfolg werden.
Martin Luther ließ das edle Tier in seiner Bibelübersetzung am Leben und nannte es immerhin neun Mal. Erst als sich Sprachkundige 1984 an die Modernisierung der Luther-Bibel machten, starb das Einhorn einen unspektakulären Tod.

Mit dem Untertitel Warum es in der Heiligen Schrift keine Katzen, aber eine Killer-Kuh gibt locken Claudia und Simone Paganini ihre Leserschaft etwas in die Irre. Hier geht es nicht um durchdrehende Rinder, die mit Schaum vorm Maul alles um sich herum niederwalzen, sondern um einen  Vergleich zwischen dem biblischen und unserem heutigen Tier-Recht. Der wesentliche Unterschied: Tiere wurden strafrechtlich fast wie Menschen behandelt. Wurde eine Kuh damals gewalttätig und verletzte einen Menschen tödlich, wurde sie genauso wie ein Mensch bestraft: Die übliche Sanktion war Tod durch Steinigung.

Interessant ist der Abschnitt, der sich mit dem Vegetarismus zu Jesus' Lebzeiten beschäftigt. Jesus aß hin und wieder Fisch und Fleisch, sein älterer Bruder Jakobus allerdings nicht. Was waren die Gründe dafür? Und wie wichtig waren Tiere für die Ernährung der Menschen?

Lesen?

Die Biester der Bibel ist kein trockenes theologisches Sachbuch, sondern will auf unterhaltsame Weise ein bisschen Wissen weitergeben. Das ist dem Ehepaar Paganini sehr gut gelungen. Doch es handelt sich nicht (nur) um eine Sammlung tierischer Anekdoten, sondern gibt einen sehr guten Überblick über geschichtliche Hintergründe, die hinter dem Auftauchen und Verschwinden von Tieren aus dem Alten Testament stehen.

In ihrem Schlusswort macht das Autorenpaar einen Exkurs zum Thema "Tier-Ethik im Neuen Testament" und plädiert dafür, "die selbstverständliche Machtausübung des Menschen über die Tiere fundamental in Frage zu stellen. Je früher auch die Kirche damit beginnt, desto besser".

Die Biester der Bibel ist 2022 im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet als Klappenbroschur 16 Euro,





Dienstag, 15. November 2022

# 370 - Von Schuld und Vergebung

 Absolvo te heißt das zweite Buch des bulgarischen
Schriftstellers Georgi Bardarov, das die Jury des Europäischen Literaturpreises 2021 so sehr überzeugte, dass sie den Preis an den Autor vergab.

Bardarov ist Professor für ethno-religiöse Konflikte und Demographie an der Universität Sofia. Da scheint das Thema seines Romans nahezuliegen: Ein Araber, ein Jude und ein Nazi-Offizier stehen im Mittelpunkt der Handlung. Aber es gibt nicht "die" Handlung im klassischen Sinn, sondern Bardarov schildert in mehreren Handlungssträngen geschichtliche Ereignisse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: die Diktatur der Nationalsozialisten mit ihrer brutalen Tötungsmaschinerie und der israelisch-palästinensische Konflikt, dessen Beginn etwa auf das Ende des 19. Jahrhunderts datiert werden kann und der bis heute andauert. Die Romanhandlung betrachtet diesen Konflikt im Zeitrahmen der 1970-er und 1980-er Jahre.

Wie ein roter Faden zieht sich die Figur des Max Schewtschenko durch den Roman. Das Kuriose daran: Man bemerkt diesen Kniff beim Lesen erst mit Verzögerung. Max, ein begabter Student und Sportler, ist ein aus der Ukraine stammender Jude, der Mitte November 1944 mit einem Güterzug zusammen mit vielen anderen Menschen in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht wird. Unter dem Eindruck von Hunger und unmenschlicher Grausamkeit lernt er nicht nur seine seelischen und körperlichen, sondern auch seine moralischen Grenzen kennen. Zu überleben ist das einzige Ziel. Bardarov weist Max Schewtschenko die Funktion einer Brücke zwischen dem Holocaust und der tief sitzenden Feindschaft zwischen Juden und Palästinensern zu. Kann das gelingen?

Lesen?

Absolvo te bedeutet etwa "Ich spreche dich frei" oder "Ich entlaste dich". Das ist die Botschaft, die Georgi Bardarov seinen Leserinnen und Lesern vermittelt: Bevor es Frieden und Versöhnung geben kann, muss man einander vergeben. Angesichts dessen, dass das Buch auf zwei wahren Begebenheiten beruht, die von Brutalität und Gnadenlosigkeit geprägt sind, kann man sich gut vorstellen, dass die Vergebung für die Menschen, die sowohl Opfer als auch Täter sind, ein Kraftakt ist. Noch schwerer ist es aber, sich selbst zu vergeben.

Absolvo te ist in der deutschen Übersetzung 2022 im Anthea Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22,90 Euro.

Freitag, 4. November 2022

# 369 - Von der Qualle ins Innere des Menschen

Wie es zu dem Buchtitel von Marie Gamillschegs Roman Aufruhr der Meerestiere kam, bleibt ungeklärt, denn um einen Aufruhr geht es in diesem Buch nicht.

Um Meerestiere allerdings schon. Genauer: um die Meerwalnuss, die nicht etwa eine Nuss, sondern eine Rippenqualle ist. Obwohl sie zu 99 Prozent aus Wasser besteht, bereitet sie nicht nur Meeresbiologen, sondern auch Fischern und Tourismusmanagern Sorgen: Als sog. "invasive Art" hält sie sich nicht nur im heimischen subtropischen Atlantik, sondern auch verstärkt in der immer wärmer werdenden Ostsee auf. Vermutlich ist sie vor einiger Zeit an der Spundwand eines Containerschiffs in unsere Breiten gereist. Die Meerwalnuss vereint einige Extreme auf sich: Sie vermehrt sich rasant, wenn sie sich wohl fühlt. Einige Tausend Eier pro Tag zu produzieren fällt dieser Quallenart leicht. Und wenn so viel Nachwuchs da ist, wird auch der Futterbedarf groß: Meerwalnüsse fressen kleine Krebschen, die die Grundnahrung für Heringe, Sprotten und Fischlarven sind. Das Problem für den Fischfang liegt auf der Hand.
Aber damit ist die Meerwalnuss noch nicht fertig, den Menschen auf die Nerven zu gehen: Wo sehr viele von ihnen sind, fühlt sich das Ostseewasser an wie Gelee. Das ist zwar nicht gesundheitsschädlich, wird von badenden Touristen aber als ekelhaft empfunden. 
Der Klimawandel lässt grüßen.

Das und noch ein bisschen mehr erfährt man über das hirnlose Glibberwesen, wenn man sich durch diesen Roman liest. Aber die Meerwalnuss bildet nur den Rahmen für die eigentliche Handlung, in deren Mittelpunkt die Meeresbiologin Luise steht. Luise forscht schon lange an der Meerwalnuss und sieht in ihr nicht ein Wesen, gegen das man angehen muss, sondern einen sensiblen Organismus, der eine faszinierende Eigenschaft hat: Durch Biolumineszenz können Meerwalnüsse leuchten.

Die 32-jährige Luise arbeitet am Helmholtz-Zentrum in Kiel und ist eine gefragte Expertin. Sie ist beruflich viel unterwegs, ein geregelter Tagesablauf ist ihr fremd. Trotz der fachlichen Anerkennung ist sie nicht glücklich und weit davon entfernt, mit sich im Reinen zu sein. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater ist von Sprachlosigkeit geprägt, das zu ihrem Bruder eher angespannt. Die Gründe dafür lassen sich nur erahnen. 

Als ein renommierter Tierpark in Graz ein neues Forschungsprojekt beginnen will, fährt Luise in ihre Heimatstadt. Es wird eine Reise in die eigene Vergangenheit. Man erfährt von Luises Essstörungen in ihrer Jugendzeit und dass sie diese immer noch nicht überwunden hat. Man liest auch über ihre Unfähigkeit, Liebesbeziehungen aufzubauen: Bevor es zu einer gewissen Tiefe kommt, entfernt sich Luise von dem jeweiligen Mann. Sie ist so schlecht zu fassen wie die Meerwalnuss, über die die Wissenschaftlerin fast alles weiß. So sehr sie eine exzellente Forscherin ist, so wenig versteht sie es, mit ihrem eigenen Leben zurechtzukommen. 

Luise lebt während ihrer Zeit in Graz in der Wohnung ihres Vaters, der sich bei ihrem Bruder von einem Herzinfarkt erholt. Dort versucht sie, dem Vater näherzukommen und die Erinnerungen an ihre Kindheit wieder aufleben zu lassen - sowohl die an die Zeit mit beiden Eltern als auch nach deren Scheidung. Ihr Vorhaben mit dem Tierpark gerät darüber oft in Vergessenheit, Luise lebt in den Tag hinein. Umso überraschender ist, wie der Aufenthalt dort für sie endet.

Lesen?

Aufruhr der Meerestiere ist kein Roman, der chronologisch und geordnet eine Geschichte erzählt. Hier ist vieles im Fluss, einige Dinge bleiben unklar oder undeutlich und oft hat man beim Lesen den Eindruck, dass sich Marie Gamillscheg atmosphärisch von der Meerwalnuss hat inspirieren lassen, die sich schon mal in nichts auflösen kann. Der Versuch, Luises Persönlichkeit zu beschreiben, den Leserinnen und Lesern die Besonderheiten der Meerwalnuss nahezubringen und beides mit dem großen Problem unserer Zeit, dem Klimawandel, zu verknüpfen, ist der Autorin gelungen. Dieser Roman hebt sich vor allem durch seine besondere Sprache von der Masse ab und sorgt so für ein ungewöhnliches Literaturerlebnis.

Aufruhr der Meerestiere ist 2022 im Luchterhand Verlag und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro. Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022. 

Nachtrag: Die leuchtende Meerwalnuss ist sehr faszinierend. Hier kann man einen Blick auf sie werfen.

Freitag, 28. Oktober 2022

Frankfurter Buchmesse 2022 - ein Rückblick auf spannende Tage

Anstelle einer Rezension erzähle ich heute von
meinem Besuch auf der Frankfurter Buchmesse 2022. Mit meiner Begleiterin bin ich vom 19. bis zum 21. Oktober durch die Messehallen gestreift. Hat es sich gelohnt?

Eines vorweg: An die Zahlen "vor Corona", also aus dem Jahr 2019, kam die Buchmesse nicht heran. Weniger Aussteller, freie Flächen in den Hallen und weniger Besucher sind für die Einnahmen der Frankfurter Buchmesse GmbH nicht günstig, für die Besucherinnen und Besucher ist der Aufenthalt aber wesentlich entspannter. Wer auf der Buchmesse 2019 gewesen ist (Stichwort: Messesamstag, Halle 3.0), weiß, was ich meine.

Auf der Agora sah man sofort, welches Land in diesem Jahr der Ehrengast war: Spanien. Das weltbekannte Museo del Prado aus Madrid hatte dort seine Wanderausstellung La Prado en las calles (Der Prado in den Straßen) aufgebaut, die schon in zahlreichen Städten wie z. B. Havanna, Guatemala-Stadt oder Manila sowie mehreren spanischen Städten zu sehen war. Dabei wurden die wichtigsten Meisterwerke des Museums als Reproduktionen in Originalgröße gezeigt. Das hat natürlich nichts mit Büchern zu tun, ist aber ein schöner Einstieg, um das Land kulturell besser kennenzulernen.

In Halle 3.0 zogen vor allem die Stände der größeren Verlagshäuser die Interessenten an. Uns auch. Aber ich will hier nicht auf einzelne Bücher verweisen, die mir ins Auge gefallen sind, dann würde der Text zu lang werden. Es soll hier mehr um die Besonderheiten gehen, die mir besonders gefallen haben. 

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich vor dieser Messe noch nie von der Stiftung Illustration mit dem Bilderbuchmuseum Troisdorf gehört hatte. Die Stiftung wurde 2005 von den Städten Troisburg und Siegburg gegründet und will die Illustrationskunst fördern. Das Bilderbuchmuseum ist europaweit das einzige dieser Art. Es verfügt über Sammlungen mehrerer Illustratorinnen und Illustratoren und veranstaltet Ausstellungen. Am Stand wurden einige Illustrationen gezeigt, und den anwesenden Mitarbeiterinnen war die Freude an ihrer Tätigkeit anzumerken.

Ebenfalls in Halle 3.0 wurden wir fast überfallartig von einer Frau angesprochen, die um Aufmerksamkeit für die mittlerweile zehn Bücher ihres Mannes aus dem Spica-Verlag warb. Sie trug uns die Inhalte aller Mystery Thriller vor, die ihr Mann bislang veröffentlicht hatte. Schon das war beeindruckend, aber ihr Engagement war es noch mehr. Mit diesem starken Rückhalt kann nichts mehr schiefgehen, oder? Danke Frau Roth für das sehr nette Gespräch.

In Halle 3.1 haben wir bei der Bundeszentrale für politische Bildung einen Stopp eingelegt. Dort waren alle aktuellen Publikationen zur Ansicht ausgelegt. Wer sich für Politik und Geschichte interessiert, ist dort genau richtig. Wer nicht, sollte sich beim nächsten Mal trotzdem dort umschauen und bei den spannenden Titeln "Feuer fangen".

Ein paar Meter weiter war der Stand des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Ich glaube, dass die wenigsten Menschen, die dort schauten, dies taten, um sich zu informieren. Dazu hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielleicht etwas offensiver sein und auf die Menschen aktiv zugehen müssen. Viele, die dort stoppten, griffen nach einem der Give-Aways und zogen weiter. Wie vielen Leuten ist die tolle Außenwand des Standtresens aufgefallen? Ich habe die Bepflanzung erst wahrgenommen, als ich unmittelbar davor stand und mir der Geruch von Basilikum in die Nase stieg. Die ganze Seite ist mit Kräutertöpfen bestückt gewesen, die jeden Abend gegossen wurden. Der Herr links äußerte die Hoffnung, dass die Kräuter nach der Messe nicht vernichtet, sondern genutzt werden.

Im selben Gang hatte der Diogenes Verlag seinen Stand. Dort habe ich mir ein Buch angesehen, von dem ich schon begeisterte Rezensionen gelesen hatte: Papyrus von der spanischen Autorin Irene Vallejo. Es geht um die Geschichte der Bücher und darum, wann der Mensch mit dem Lesen begann und welche Entwicklung dadurch ausgelöst wurde. Der Titel liest sich nicht wie ein trockenes Geschichtsbuch, sondern wie ein spannender Roman. Ich musste mich förmlich von diesem Buch losreißen.
Dort waren auch zwei Promis anwesend: Die Krimiautorin Donna Leon und der Literaturkritiker Denis Scheck. Besonders spannend war daran aber eher nichts.

Der Besuch beim Polar Verlag durfte auf keinen Fall fehlen. Völlig zu Recht bezeichnet er sich als "DER Verlag für anspruchsvolle Kriminalromane". Den Kontakt zwischen uns gibt es bereits seit einigen Jahren und ich freue mich sehr, dass der Verlag die letzten schwierigen Jahre gut überstanden hat und sich seine Fans auf viele weitere spannende Pageturner freuen können. Die Rezensionsexemplare, die mir von Frau Kuhlmann überreicht wurden, sind Pickard County von Chris Harding Thornton und Pleasantville von Attica Locke, das am 15. November 2022 auf den Markt kommt. In meinem Bücherregal stehen bereits etliche Polar-Krimis, und ich könnte jeden empfehlen.

Die Austeller in Halle 4.0 kamen mehrheitlich aus Nord- oder Osteuropa sowie aus arabischen Ländern. Die meisten hatten Literatur in ihren Heimatsprachen ausgelegt, was für uns eher uninteressant war.

Sehr interessant hingegen war das Gespräch mit Margarita Stein, der Geschäftsführerin der Anthea Verlagsgruppe aus Berlin. Der Verlag veröffentlicht Titel aus den Bereichen Lyrik, Belletristik und Zeitgeschichte und kann von sich sagen, das Werk eines Literaturpreisträgers in seinem Programm zu haben: 2021 gewann der bulgarische Autor Georgi Bărdarov mit seinem Roman Absolvo Te den Literaturpreis der Europäischen Union. Ich habe mich sehr gefreut, als er zufällig zum Anthea-Stand kam und mir ein Rezensionsexemplar signiert hat. Das Buch werde ich demnächst hier vorstellen.

Frau Stein empfahl noch ein weiteres Buch aus ihrem Programm: In ihrem biografischen Roman Glut im Eis hat Inge Ruth Marcus sich dem bewegten Leben ihrer Großeltern gewidmet, das von Flucht geprägt war. Die Lebenslinien von vier Generationen wurden davon beeinflusst, dass sich immer wieder politische Verhältnisse änderten und die Familie nur deshalb ihr Leben retten konnte, weil sie in einem (weiteren) fremden Land eine neue Heimat suchte. 

Wer sich im Bildungsbereich umsehen wollte, war in Halle 4.2 richtig. Wissenschaftsverlage und Universitäten zeigten dort ihr Repertoire. Das war interessant, aber hier reichte ein grober Überblick.


Völlig klar, dass ein Besuch im Forum, wo der Ehrengast Spanien seine Sonderausstellung zeigte, nicht fehlen durfte. Das Motto lautete "Creatividad Desbordante", was mit "Sprühende Kreativität" übersetzt werden kann. Diese sprühende Kreativität hat sich vor allem in technischen Dingen gezeigt: Aus in Mikrofone gesprochenen Wörtern wurden bunte Farbbilder, die auf Standbildschirmen zu sehen waren; ein Drucker stellte Geschriebenes in Brailleschrift dar; ein mechanischer Arm schrieb
 live ein Universal Poem, ein von der Menschheit geschriebenes Gedicht; auf einer Installation aus Glasscheiben und Licht stand ein Gedicht, das einer Paula Romero gewidmet war.
In einem Teil des Raums waren weiße, mit spanischen Wörtern bedruckte Stoffbahnen aufgehängt worden, die sich bei jedem Luftzug leicht bewegten. Nicht zuletzt hatte der Ehrengast an einer der Wände eine hohe geschwungene Bücherwand aufgestellt, wo überwiegend spanischsprachige Titel, aber auch Übersetzungen gezeigt wurden. Davor war eine Landschaft aus Sitzschläuchen aufgebaut worden. Vieles war zwar schön anzusehen, aber mir hat der besondere Bezug zu Spanien und die Vermittlung des dortigen Lebensgefühls gefehlt. Die Exponate hätten nach einem Sprachenaustausch von jedem beliebigen anderen Land stammen können. In der Vergangenheit hat es Ausstellungen von Ehrengästen gegeben, denen es besser gelungen war, eine Brücke zu ihrer Heimat zu schlagen.




Zum guten Schluss stand ein Besuch in Halle 6 an.
Ausschnitt Stand der chin. Regierung

Hier waren internationale Verlage vertreten. China war mit großen Ständen sehr präsent. Ein Stand wurde von der chinesischen Regierung betrieben, zwei weitere von chinesischen (unabhängigen?) Verlagen. Was nicht fehlen durfte, war der 4-teilige Bestseller des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping China regieren. Er wurde auf dem Regierungsstand von weiteren hilfreichen Büchern Xis sowie Titeln, die die Großartigkeit des Reichs der Mitte verdeutlichten, eingerahmt. Xis Buch gibt es selbstverständlich in etlichen weiteren Sprachen.
Auffällig war das völlige Fehlen von Belletristik oder Lyrik. Das Buchangebot beschränkte sich auf Titel, die - sagen wir mal - "hilfreich" waren. 

Interessant war auch, dass die asiatischen Verlage (abzüglich China) einen Schwerpunkt auf Kinderbücher gelegt hatten. Im Gegensatz zu deutschen Exemplaren hatten diese Bücher kreischbunte Cover, die in Deutschland vermutlich viele Eltern eher davon abhalten würden, solch ein Buch zu kaufen.
Ich zeige hier einige allgemeine Impressionen aus der Halle, um einen Eindruck zu vermitteln:






Dem Aufruf, der am Eingang zum Forum angebracht war, schließe ich mich an und beende damit meinen Bericht von der Frankfurter Buchmesse 2022. Wenn es geht, werde ich im nächsten Jahr wieder dort sein. Aber wer weiß schon, was in einem Jahr ist.


Nachtrag: Viele werden wissen, dass ich mein Leben auf "drei Beinen" verbringe. In einigen Tagen werde ich in meinem anderen Blog Das tägliche Gruseln darüber schreiben, wie mir die Frankfurter Buchmesse aus meiner Perspektive als behinderte Besucherin gefallen hat. Wenn es soweit ist, werde ich das bei Twitter und Instagram veröffentlichen.
Nachtrag 2: Eben habe ich den Blogtext auf Das tägliche Gruseln veröffentlicht. Schaut vorbei!

Sonntag, 23. Oktober 2022

# 368 - Ein simpler Eingriff - mit Folgen

Meret ist Mitte 20, arbeitet seit acht Jahren als Krankenschwester in einer namenlosen Klinik und wohnt in einem Schwesternwohnheim, in dem Privatsphäre ein Fremdwort ist. Man teilt sich das Zimmer mit einer anderen Krankenschwester, es gibt einen Gemeinschaftswaschraum, die Mahlzeiten außerhalb des Dienstes werden zusammen im Speisesaal eingenommen. Yael Inokai zeichnet in ihrem Roman Ein simpler Eingriff das Bild eines durchstrukturierten und gleichförmigen Lebens, dessen Erschwernisse zwar erkannt, aber kritiklos hingenommen werden.

Auch Meret nimmt sie hin. Was sie motiviert, ist die besondere Aufgabe, für die sie eingeteilt wird: In der Klinik werden experimentelle Gehirnoperationen an Menschen durchgeführt, die psychisch auffällig geworden sind. Während des Eingriffs bleiben die Patientinnen und Patienten wach. Merets Auftrag ist, ihnen die Angst zu nehmen und sie während der OP zu beschäftigen. Sie glaubt den Aussagen des Chefarztes, dass es sich hierbei um einen simplen Eingriff handele, der anschließend vorübergehende Schmerzen auslösen könne. Danach sei alles wieder gut und der Mensch von seinem auffälligen Verhalten geheilt.

Dann jedoch passieren zwei Dinge, die das Leben der jungen Krankenschwester und ihre bisherigen Einstellungen grundlegend verändern: Meret bekommt mit Sarah eine neue Zimmernachbarin. Die beiden Frauen verlieben sich ineinander und versuchen, ihre Gefühle vor allen anderen geheim zu halten. Es ist völlig klar, dass weder ihr Arbeitgeber noch ihre Familien oder gar die Gesellschaft ein lesbisches Paar akzeptieren würden.
Die Aufnahme einer jungen Frau aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie in das Krankenhaus verändert Merets bisherige kritiklose Haltung zu den Gehirnoperationen ihres Chefarztes. Marianne Ellerbach hat immer wieder Wutanfälle, die mit dem chirurgischen Eingriff behoben werden sollen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die OP vor allem den auf den guten Ruf der Familie bedachten Eltern wichtig ist, die nicht mehr erleben wollen, dass ihre erwachsene Tochter in der Öffentlichkeit aus der Rolle fällt. Doch die Operation misslingt. Marianne fällt ins Koma und wird als Pflegefall in eine spezielle Einrichtung abgeschoben.

Lesen?

Ein simpler Eingriff hat mir aus mehreren Gründen gut gefallen. Yael Inokai gelingt es, ihre Kritik an patriarchalischen Strukturen und Denkmustern, Homophobie sowie den Trend zur Optimierung in ihrem Roman miteinander zu verweben. Obwohl Ort und Zeit der Handlung nicht benannt werden, liegt die Vermutung nah, dass Inokais Roman in der Vergangenheit spielt. Das, was die Autorin beschreibt, erinnert stark an die Lobotomie, die von dem portugiesischen Neurologen António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz in den 1930-er Jahren entwickelt und vom US-Psychiater Walter Freeman fast schon exzessiv betrieben wurde. Die Idee dahinter war, dass man Menschen von psychischen Leiden heilen kann, wenn man einige Nervenbahnen in ihren Gehirnen durchtrennt. Die Methode, die zahllose Menschen in tiefes Leid gestürzt hat und für die Moniz 1949 sogar den Nobelpreis erhielt, ist längst verboten. 

Bei der Schilderung des Leids von Marianne hatte Yael Inokai möglicherweise das tragische Schicksal von Rosemary Kennedy, einer Schwester von John F. Kennedy, vor Augen. 1941 wurde an ihr eine Lobotomie vollzogen, vermutlich, weil sie Legasthenikerin und leicht geistig zurückgeblieben war. Die Familie fürchtete, dass das Verhalten ihrer "ungebärdigen" Tochter dem Ruf der Familie schaden würde.  Der von Freeman vollzogene Eingriff schlug fehl, Rosemary Kennedy verbrachte den Rest ihres 86-jährigen Lebens in einer Heilanstalt, wo sie 2005 starb. Ihr Vater Joseph Kennedy, auf dessen Betreiben die Lobotomie an seiner Tochter durchgeführt worden war, besuchte sie nie.

Ein simpler Eingriff hat mich sehr berührt und stand auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Schade, dass es der Roman nicht in die Shortlist geschafft hat.

Ein simpler Eingriff ist 2022 im Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Donnerstag, 13. Oktober 2022

# 367 - Nimm den Raum ein: So lernen Frauen das freie Sprechen

Die Britin Viv Groskop ist Journalistin, Stand-Up-Comedian und mit ihrem Buch How to own the room Bestsellerautorin. Im September 2022 ist der Erfolgstitel nun auch auf Deutsch erschienen und es stellt sich die Frage: Was ist der Grund für die Begeisterung der Leserinnen - und vielleicht auch Leser?

Von Frauen und der Magie brillanter Reden lautet der Untertitel, und tatsächlich haben es Frauen schwerer, vor Publikum gehört zu werden. Das hat verschiedene Gründe, denen Groskop hier auf den Grund geht und Hilfestellungen gibt. Ohnehin sind die meisten Bücher, die sich mit Rhetorik beschäftigen, auf Männer ausgerichtet. Kein Wunder, denn fast alle wurden von Männern geschrieben.

Doch was meint Groskop, wenn sie von "to own the room", also davon, "den Raum zu besitzen", schreibt? Wer vor Publikum spricht, weiß, dass es oft nicht so einfach ist, es für sich zu gewinnen und zum wirklichen Zuhören zu bringen. Auch traditionelles Verhalten führt dazu, dass zum Beispiel sprechende Frauen häufiger von Männern unterbrochen werden oder ihnen ein wenig wertschätzender Ton entgegengebracht wird. Gar nicht so einfach, das nicht nur auszuhalten, sondern trotzdem eine gute Präsentation zu liefern, die bei den Zuhörenden Respekt und Aufmerksamkeit erzeugt.

Viv Goskop empfiehlt jedoch kein festes Muster, an das sich Frauen halten sollen, um erfolgreiche Redenrinnen zu sein. Das wird auch daran deutlich, dass sie unterschiedliche Frauen beschreibt, die ihr Publikum auf ihre individuelle Art und Weise "mitnehmen": Angela Merkel, Michelle Obama und Oprah Winfrey sind nur einige Beispiele. Aber was zeichnet sie aus? Waren sie gewissermaßen "von Natur aus" begnadete Rednerinnen? Sind ihre Reden immer perfekt? Und was hat es mit dem "Happy High Status" auf sich, von dem immer häufiger die Rede ist?

Lesen?

In zwölf Kapiteln schreibt Viv Groskop nicht nur über Rednerinnen, die ihren eigenen Stil entwickelt haben und ihre Zuhörerinnen und Zuhörer fesseln können, sondern gibt auch praktische Tipps, die die eigenen Nerven beruhigen und den Fokus auf das Wesentliche richten sollen. Wo hat man sonst schon mal gelesen, dass es hilft, durch die Füße zu "atmen"? 

Die Pandemie hat den Trend zu Videokonferenzen vorangetrieben. Ihnen widmet die Autorin ein eigenes Kapitel, in dem es nicht nur um das richtige Sprechen, sondern auch um praktische Hinweise geht: Wohin schaut man? Wann spricht man? Wie professionell muss ein Video-Meeting sein?

Frauen, die ihre Angst vor dem freien Sprechen verlieren wollen, sind mit diesem Buch gut beraten.

How to own the room ist 2022 im Haufe Verlag erschienen und kostet als broschierte Ausgabe 19,95 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.



Freitag, 7. Oktober 2022

# 366 - Skurrilität gepaart mit autobiographischen Inhalten

Jan Faktor wurde in Prag geboren und siedelte 1978
wegen der Liebe nach Ost-Berlin über. Zehn Jahre zuvor hatte er in Prag Annette Simon, die Tochter der Schriftstellerin Christa Wolf, kennengelernt. Sein Sohn Benjamin nahm sich vor zehn Jahren im Alter von 33 Jahren das Leben.

Die Biographie eines Autors vorzustellen gehört normalerweise nicht an den Anfang einer Rezension. Ich mache hier eine Ausnahme, weil es genau das ist, worum es in Jan Faktors aktuellem Roman Trottel geht.

Der Suizid seines psychisch kranken Sohnes ist das größte Trauma in Faktors Leben. Immer wenn es in seinem Buch um ihn geht, verändert sich die Sprache: Beschreibt Faktor sein eigenes Leben oder vergleicht er Prag mit Ost-Berlin, driftet er ab, erfindet neue Wortschöpfungen oder lässt Personen auftauchen, die schon kurz nach ihrer Benennung wieder so gründlich verschwinden, als hätte es sie gar nicht gegeben. 

Wendet er sich hingegen seinem Sohn zu, sind seine Formulierungen klar und beinahe sachlich, die Liebe ist jedoch immer spürbar. Das gilt auch dann, wenn Faktor über Zeiten schreibt, in denen er und seine Frau vom Leben ihres Sohnes nicht viel mitbekommen haben und manches erst nach seinem Tod erfuhren.

Ich habe Trottel dennoch nach dem ersten Drittel abgebrochen. Die Abschnitte, in denen Jan Faktor inhaltlich hin und her gesprungen ist wie ein Känguru auf der Flucht, wurden mir zu viel. Seitenlang ging es um zum Teil aus meiner Sicht redundante Inhalte, die von mindestens ebenso redundanten Fußnoten gespickt waren, die weder die Handlung weiterbrachten noch eine Erkenntnis lieferten.

Lesen?

Im Kapitel "Siebzehnmal darfst du raten" findet sich ein Satz, zu dem ich zustimmend genickt habe:

"Erzähle ich zu viel Überflüssiges - oder sogar den reinen, unsauber randomisierten Unsinn?"

Trottel ist 2022 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundenes Buch 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Jan Faktor wurde für diesen Roman mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Trottel steht außerdem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Nachtrag: Auf ihrem Blog Mikka liest das Leben hat Mikka, eine der offiziellen Buchpreisblogger*innen für den Deutschen Buchpreis, ebenfalls den Roman rezensiert. Lest hier, wie er ihr gefallen hat.

Montag, 3. Oktober 2022

# 365 - Ein Buch über das Trinken und das Aufhören

Dry ist ein Buch über das Trinken, über ein Leben mit dem Alkohol und schließlich auch über das Aufhören. Die Literaturagentin und Autorin Christine Koschmieder hat ihr neuestes Buch zwar als Roman bezeichnet, aber es enthält keine fiktionalen Elemente. Vielmehr wurden Dinge ausgelassen, um andere Personen zu schützen. Mit sich selbst als Hauptperson geht sie dabei weniger zurückhaltend um.

Wer geschützt werden soll, wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Koschmieder schreibt nicht chronologisch, sondern beginnt ihr Buch mit ihrem neunten Tag als Patientin in einer Suchtklinik in Brandenburg, in einem kleinen Ort mit viel Grün und etlichen Seen in der Nachbarschaft. Sie teilt sich das Zimmer mit einer anderen Patientin und soll auf Bitten eines Therapeuten nun graphisch darstellen, wie groß ihr Alkoholkonsum bei Ereignissen war, die für ihr Leben eine Bedeutung hatten.

Beim Lesen stellt sich sofort die Frage: Kann man das überhaupt? Ist es möglich, sich viele Jahre nach einem dieser Ereignisse daran zu erinnern, ob man viel oder wenig Alkohol getrunken hat? Koschmieder kann es und zeichnet ein Diagramm mit vielen Ausbuchtungen. Sie, die heute keinen Alkohol mehr trinkt, sich als sturzbesoffene Frau vorzustellen, die ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bekommt, ist falsch. Richtig ist, dass der Alkohol für sie Mittel war, um das Unangenehme im Leben zu überdecken und weiter zu funktionieren. Der Alkohol an sich ist also zunächst nicht die eigentliche Schwierigkeit, sondern der Ausdruck eines anderen Problems. 

Christine Koschmieder geht schonungslos offen mit ihrer Geschichte um. Sie erzählt von ihren Eltern, die als Lehrkräfte an Gymnasien arbeiteten, und für die der Alkohol ein täglicher Alltagsbegleiter war. Er wurde ganz selbstverständlich konsumiert. Ein bisschen hat mich das an die US-Fernsehserien "Dallas" und "Denver-Clan" erinnert, die in den 1980-er Jahren sehr erfolgreich waren: "Ich genehmige mir erstmal einen Drink" oder "Willst du auch einen Drink?" waren Sätze, die in jeder Folge alle paar Minuten gesagt wurden. Das Trinken, so macht es nach Koschmieders Beschreibung den Eindruck, geschah bei ihren Eltern ebenso nebenbei wie an der Hausbar der Carringtons. Allerdings mit dem Unterschied, dass im Hause Koschmieder eher keine hochprozentigen Spirituosen getrunken wurden. Das bevorzugte Getränk war Wein, was sich auch bei Christine Koschmieder fortsetzte.

Sie erzählt von ihrer Mutter, der es an allem Mütterlichen fehlte, und die ihrer Tochter das Gefühl gab, alles an ihr sei falsch. Die Eltern trennen sich, und Koschmieder und ihre Schwester leben beim Vater in der Nähe von Heidelberg, der nun schon so früh am Tag trinkt, dass er angetrunken im Unterricht erscheint.

In den frühen 1990-ern zieht Koschmieder nach Leipzig. Das Leben dort ist etwas völlig anderes, als das, was sie bislang gewohnt ist: Sie wohnt "im Land der Kohleöfen", wie sie das Kapitel überschrieben hat. Doch obwohl so vieles anders ist, fühlt sie sich dort wohl. Das Leben nimmt seinen Lauf: Studium, Partnerschaften, eine Hochzeit, die Kinder... 

Doch dann erkrankt Christine Koschmieders Mann an Krebs. Wo erst noch Hoffnung war, gibt es einige Zeit später Ernüchterung: Die Krankheit ist unheilbar, der Tod nur eine Frage der Zeit. Koschmieder funktioniert: Sie kümmert sich um die Kinder, begleitet ihren Mann bis zum Schluss und arbeitet. Ihre "Helfer" sind zahllose Weinflaschen. Ab wann man bei ihr von Alkoholismus sprechen konnte, bleibt unklar. Aber es kommt der Zeitpunkt, an dem Koschmieder klar wird, dass es mit dem Trinken so nicht weitergehen kann.

Lesen?

Dry ist bei aller Tragik, die der Roman enthält, kein trauriges Buch. Viele Szenen oder Ereignisse machen sprachlos, andere lassen mitleiden. Was beeindruckt, ist Koschmieders Stärke: Sie gesteht sich ihre Alkoholsucht ein und entschließt sich zu einer Suchttherapie. In der Klinik begreift sie, dass sie in der Lage ist, sich selbst zu helfen - und sei es, dass sie sich Unterstützung sucht. So wird der Roman zu einem Buch, das vor allem Hoffnung und Zuversicht vermittelt.

Dry ist 2022 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro, als E-Book 19,99 Euro sowie als von der Autorin gelesenes Hörbuch 15,99 Euro.



Samstag, 24. September 2022

Corona-Pause in der Bücherkiste

Das war so nicht geplant, aber man kann nicht alles
vorhersehen. Seit Kurzem hat sich hier ein Gast breit gemacht, den niemand eingeladen hat: das 
SARS-CoV-2-Virus, umgangssprachlich "Corona". Das Ding braucht kein Mensch. Der Gast löst einiges aus, unter anderem, dass ich mich im Augenblick nicht lange auf einen Text konzentrieren kann - egal, ob ich ihn lese oder schreibe.

Darum kann ich Euch an diesem Wochenende leider kein neues Buch empfehlen. Wahrscheinlich lest ihr von mir wieder in einer Woche.

Passt bis dahin auf Euch auf.

Donnerstag, 15. September 2022

# 364 - Ein rätselhaftes Verbrechen in den Wirren des ukrainischen Umbruchs

Beim Titel von Andrej Kurkows Roman Samson und
Nadjeschda
 könnte man auf die Idee kommen, es handele sich hier um einen Liebesroman. Doch die Liebe spielt in diesem Buch nur eine Rolle unter mehreren.

Der 11. Mai 1919 wird für Samson zu einem Schicksalstag: Als er mit seinem Vater zu Fuß in Kiew unterwegs ist, werden die beiden von einer Gruppe berittener Kosaken überfallen. Mit einem Säbelhieb spaltet einer von ihnen Samsons Vater den Schädel, mit einem weiteren schlägt er Samson ein Ohr ab. Die Brutalität und Sinnlosigkeit der Tat passen zu dieser Zeit: Nach der russischen Revolution setzte sich die Krise in einem Bürgerkrieg fort. Auf dem Gebiet der Ukraine entbrannte der sowjetisch-ukrainische Krieg, in den sich in dessen letzten Jahren weitere europäische Staaten - auch Deutschland - einschalteten. Die Bolschewiken versuchten 1919, die Macht in der Ukraine zu übernehmen und ihre Gesellschaftsordnung zu implementieren. Die Bevölkerung lebte in einer anarchischen Umgebung von Gewalt, Willkür, Gesetzlosigkeit und ständiger Warenknappheit.

Samson ist nach dem Tod seines Vaters allein. Er hofft, dass ein ihm bekannter Augenarzt die Ohrmuschel wieder annähen kann, aber der verpackt das Körperteil in einer Puderdose, die er Samson überreicht. All das geschieht in einer fast schon sachlichen Atmosphäre ohne Pathos. Der junge Mann wird zunächst von den Ereignissen mitgetragen: Die Hausmeisterwitwe in seinem Mietshaus, die dort so etwas wie eine graue Eminenz ist, möchte, dass Samson nicht mehr allein ist und fädelt die Bekanntschaft mit Nadjeschda (dt.: Hoffnung), einer glühenden Bolschewikin, ein, die dann tatsächlich nach und nach zu einer Liebesbeziehung wird.

Als sich zwei Rotarmisten in Samsons Wohnung einquartieren, ändert sich sein Leben ein weiteres Mal. Nicht nur, dass sie das Arbeitszimmer des verstorbenen Vaters besetzen, sie tragen auch Kisten mit Gegenständen herein, die sie angeblich requiriert haben. Als Samson beim Nachhausekommen sieht, dass auch der Schreibtisch des Vaters samt Inhalt beschlagnahmt wird, um in einem Milizrevier aufgestellt zu werden, ist das Maß voll. Er beschwert sich vor Ort, wird aufgefordert, einen Rapport zu schreiben, und am nächsten Tag als Milizionär eingestellt, weil er so gut schreiben kann. Samson ist ab sofort dafür zuständig, Diebstähle zu bekämpfen und für Ordnung zu sorgen. Dass sein Ohr in der Puderdose ihm das Leben retten würde, ahnt er noch nicht. Und dass die beiden Rotarmisten in seiner Wohnung in einen rätselhaften Fall, in dem wertvoller Stoff und ein Oberschenkelknochen aus Silber eine Rolle spielen, verwickelt sein würden, ebenfalls nicht. Aber Samson geht der Sache mit sehr speziellen Ermittlungsmethoden auf den Grund, die seinem Vorgesetzten nicht immer gefallen.

Lesen?

Andrej Kurkows Samson und Nadjeschda ist der Auftakt einer Reihe, wenn man dem letzten Satz glauben darf: "Ende. Aber Fortsetzung folgt." Im Epilog belauscht Samson nachts, wie Männer in seinem Schreibtisch in der Milizwache herumwühlen und allem, was sie finden, eine falsche Bedeutung zumessen. Sie entscheiden sich, nicht gegen Samson zu ermitteln, sondern ihn nur zu beobachten. Das sieht doch sehr nach einem zweiten Teil aus, oder?

In der mir vorliegenden E-Book-Ausgabe lautet der Untertitel "Kriminalroman", aber das ist irreführend. Wer hier ein spannungsgeladenes Whodunit erwartet, ist auf der falschen Fährte. Die kriminalistische Arbeit des völlig unerfahrenen Nachwuchsmilizionärs Samson ist lediglich ein Gerüst, um den sich Kurkows Schilderung der desolaten Zustände in der Ukraine in dieser Zeit rankt. Trotz der unwürdigen Bedingungen, unter denen die Menschen leben, verlieren sie jedoch nie die Hoffnung, sondern versuchen, aus ihrer Situation das Beste zu machen - mit oder ohne Gewalt.

Samson und Nadjeschda ist 2022 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 24 Euro. Die Originalfassung wurde bereits 2020 in Kiew veröffentlicht.