Sonntag, 15. Juni 2025

Die Bücherkiste hat Geburtstag: 10 Jahre Rezensionen aus fast allen Genres 🥳📚

Vor genau zehn Jahren habe ich hier den ersten Blogbeitrag veröffentlicht und hätte damals nicht gedacht, dass ich so lange durchhalte. Als ich vor fast einem Jahr anlässlich des neunten Blog-Geburtstags diesen Text geschrieben habe, habe ich schon eine ausführliche Rückschau gehalten.

Seitdem hat sich in der Welt einiges getan: Die nationalen und internationalen Krisen scheinen sich zu stapeln und treiben vielen Experten die Sorgenfalten auf die Stirn. Außerdem ist in diesem Jahr Papst Franziskus gestorben. Diese Ereignisse schlagen sich auch in meinen Rezensionen seit Mitte Juni 2024 nieder: Von 44 vorgestellten Büchern waren sechzehn Sachbücher. Dabei ging es um China, den Klimawandel, Russland mit seinen Expansionsbestrebungen, die Ukraine, die Papstwahl im Wandel der Zeit und - fast schon unvermeidlich - Donald Trump und Project 2025. Diese Verlagerung zu mehr Sachbüchern habe ich nicht geplant, sie ist mir erst im Nachhinein aufgefallen.

Gibt es Vorurteile gegenüber Leserinnen und Lesern von Sachbüchern?

Da kann man sich natürlich fragen: Wie finden es die Leserinnen und Leser dieses Blogs, wenn ich weniger über Belletristik schreibe? Ich bekomme dazu keine konkreten Rückmeldungen, sehe aber in der Blog-Statistik, dass sich in den letzten zehn Jahren durchschnittlich mehr Menschen für Romane als für Sachbuchtitel interessiert haben. Dieser Trend hat sich seit Juni 2024 jedoch umgekehrt: Erstmals hatten Sachbücher die Nase vorn. Gerade als mir das aufgefallen war, las ich den Beitrag eines Buchbloggers bei Instagram. Er schrieb unter der Überschrift "Über die Schmähungen des Sachbuchs"¹ einen Artikel, in dem er kritisierte, dass Menschen, die nur oder überwiegend Sachbücher lesen, negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Er vermutete, dass die Kritiker mit dem Begriff 'Sachbuch' die Titel aus dem Bereich der Selbstoptimierungsliteratur gleichsetzen und außerdem überwiegend Männer zu Sachbüchern greifen und eine Verknüpfung zu negativen Männlichkeitsklischees hergestellt wird.

Ernsthaft: Das ist ganz schön spekulativ. Es gibt nirgends eine Statistik, die beweist, dass mehrheitlich Männer Sachbücher kaufen. Wer das schreibt, bezieht sich auf Beobachtungen, nicht auf Daten. 'Anekdotische Evidenz' heißt so etwas: Die Erfahrung, die ich selbst mache, betrachte ich als allgemeingültige Tatsache. Was der Buchblogger kann, kann ich schon lange: Ich habe von diesen Schmähungen noch nie etwas gehört und gelesen. Einer der besten Sachbuchblogs, die ich kenne, ist der einer Frau: Petra Wiemann stellt auf ihrem Blog Elementares Lesen seit über zwölf Jahren Sachbücher vor.

"Bitte keine schwierigen Wörter": Soll dem Wunsch nach Vereinfachung überall nachgegeben werden?

Kürzlich las ich eine Äußerung einer Krimiautorin², die im Hauptberuf Rechtsanwältin ist. Sie wurde aufgefordert, keine komplizierten Worte zu verwenden, sondern ihre Formulierungen zu vereinfachen. Ähnliches äußerte eine Autorin, die Dark Romance-Romane und Thriller schreibt³. Beide reagierten befremdet darauf, dass man ihnen vorschreiben wollte, wie sie sich ausdrücken sollen. 

Ich verstehe, dass sich Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leicht lesbare Inhalte wünschen. Daraus aber eine Forderung an Autorinnen und Autoren abzuleiten, befremdet mich und schränkt kreative Schreibende in ihren sprachlichen Möglichkeiten ein. Das kann keiner wirklich wollen.

Tote zum Leben erwecken: prima oder kann weg?

Quelle: BBC Maestro
Vor fünf Jahren habe ich auf meinem zweiten Blog
über bekannte und unbekannte Menschen geschrieben, die mithilfe von Virtual Reality quasi zum Leben erweckt wurden. Ich habe damals nicht gewusst, was ich davon halten soll.

Nun hält das auch bei der schreibenden Zunft Einzug. 
Die britische Krimi-Autorin Agatha Christie dürfte den meisten ein Begriff sein. Miss Marple und Hercule Poirot haben nicht nur Mörder das Fürchten gelehrt, sondern sind auch durch ihre schrullige Art im Gedächtnis der Leserschaft geblieben.

Agatha Christie lebt seit fast fünfzig Jahren nicht mehr. Aber nun wird sie von den Toten erweckt: Das Unternehmen BBC Maestro, ein Tochterunternehmen der BBC Studios, bietet seit einiger Zeit Internet-Schreibkurse an, die von prominenten Schriftstellerinnen und Schriftstellern geleitet werden. Dazu gehören z. B. Isabel Allende oder Ken Follett. Für 99 € kann man sich jeweils 22 Unterrichtseinheiten, die insgesamt viereinhalb Stunden dauern, ansehen. Allende und Follett wurden leibhaftig gefilmt und haben selbst gesprochen. 

Und dann ist da noch Agatha Christie. In einem Werbe-Video für einen von ihr moderierten Schreibkurs geht sie durch die Räume ihres Hauses oder tippt auf einer alten Schreibmaschine einen Roman. Dabei spricht sie ununterbrochen über das Schreiben und dass sie nie gedacht hätte, eine Autorin zu sein. Die Person im Video sieht aus wie Agatha Christie und spricht wie sie: Hier hatte KI das Sagen.
Da Dame Christie sich nicht mehr selbst um die Inhalte "ihres" Schreibkurses kümmern kann, hat das für sie ein Experten-Team übernommen. Dieser Teil stammt also nicht von einer KI.

Was hat BBC Maestro bewogen, die britische Autorin in den Mittelpunkt eines Video-Kurses zu stellen? Gibt es nicht noch andere Krimi-Autoren, die dazu bereit gewesen wären? Vermutlich schon, aber Agatha Christie gilt als die weltweit erfolgreichste Schriftstellerin, ihr Name hat also auch lange nach ihrem Tod Zugkraft. Oder anders gesagt: Mit ihr lässt sich immer noch viel Geld machen. Man darf annehmen, dass es nicht bei dieser einen KI-Produktion bleiben wird. Vielleicht lernen wir in einiger Zeit von einem KI-Mozart das Komponieren oder von Annette von Droste-Hülshoff die Kunst der Poesie. Wer weiß ... Es bleibt ein schaler Beigeschmack.

Ein Tod und eine verpasste Ehrung

Er gehörte zu denen, über die jedes Jahr anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises gesagt wurde: Jetzt ist es soweit, jetzt bekommt er ihn endlich. Der gebürtig aus Kenia stammende Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o ist vor etwas mehr als zwei Wochen im Alter von 87 Jahren gestorben. Seine Familiengeschichte war vom britischen Kolonialismus geprägt, mehrere Angehörige kamen im Kampf gegen die Kolonialmacht ums Leben. Das Thema Kolonialismus bestimmte seine Literatur, er litt unter Verhaftungen und Folter unter den ersten beiden postkolonialen Präsidenten Jomo Kenyatta und Daniel arap Moi und musste letztlich ins Exil in die USA gehen, wo er an mehreren renommierten Universitäten lehrte. Sein Roman Herr der Krähen gilt als der Afrika-Roman des 21. Jahrhunderts. Den Nobelpreis für Literatur hat er nicht mehr bekommen, nach eigener Aussage war ihm dieser allerdings auch nicht so wichtig.

Zehn Jahre - und nun?

Das, was ich für diesen Artikel zusammengestellt habe, zeigt, dass die Welt der Literatur immer in Bewegung ist. Wir reden schon lange nicht mehr nur über die gedruckten Papierwerke, wenn wir "Bücher" sagen. Der Anteil der E-Books am Gesamtwerk steigt langsam, aber stetig an, Bücher können von jedem Einfaltspinsel mithilfe von KI geschrieben werden, und kürzlich ist eine selbsternannte Autorin aufgeflogen, nachdem sie eine KI gebeten hatte, ein Buch im Stil einer bestimmten Schriftstellerin zu verfassen, sie aber vergessen hatte, diese Anweisung aus dem fertigen Machwerk zu entfernen. Anfängerfehler.

Worüber wird die Buchwelt in einem, fünf oder zehn Jahren sprechen? Ich bleibe am Ball und hoffe, ihr auch. Hier, in meiner Bücherkiste.


Quellen:

¹: Sachbuchseite📚 (@sachbuchseite) • Instagram-Fotos und -Videos

²: Sachbuchseite📚 (@sachbuchseite) • Instagram-Fotos und -Videos

³: Aktuelles | Autorin Ellen Connor Dystopie Horror Thriller


Montag, 9. Juni 2025

# 477 - Es hätte so schön sein können: der Weltfrieden in Reichweite

Wir sind im Jahr 1983. In Jakob Heins Roman Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste geht es um eine Geschichte, die es so zum Teil gegeben hat, wobei man zugeben muss, dass sowohl der erdachte als auch der wahre Inhalt live aus Absurdistan stammen könnten. 

Grischa Tannberg hat gerade sein Studium beendet. Er ist im seiner Meinung nach verschlafenen Gera aufgewachsenen und träumt von einer Stelle in Berlin. Das klappt, denn seine Eltern sind linientreu und einflussreich. Grischa wird in der Staatlichen Plankommission eingesetzt, die in der DDR für die Koordinierung, Erstellung und Überwachung der Fünfjahrespläne zuständig war.

Grischas Erwartungen, sein Wissen einbringen und etwas leisten zu können, werden von seinem Vorgesetzten Ralf Burg abgebremst. Die beiden sind für die Wirtschaftskontakte mit dem Bruderland Afghanistan zuständig. Doch Burg macht seinem neuen Kollegen klar, wo das Problem ist: Die Afghanen freuen sich über Waren aus der DDR, haben aber selbst nichts, was sie den Deutschen verkaufen könnten. Für die beiden Männer gibt es nichts zu tun als die Zeit totzuschlagen und Produktivität vorzutäuschen. "Kunstvolles Warten" nennt Burg das und bittet Grischa um Diskretion. Um seinen Vorgesetzten jedoch klarzumachen, dass er, Burg, vor Arbeit fast absäuft, wurde ihm auf seinen Antrag eine zusätzliche Stelle bewilligt, auf der nun Grischa sitzt. Ein bisschen Theater spielen ist eben alles.

Doch so leicht gibt sich Grischa nicht geschlagen. Nachdem er sich alles verfügbare Wissen über das ferne asiatische Land angeeignet hat, kommt er auf die zündende Idee, wie eine Handelsbeziehung zwischen der DDR und Afghanistan aussehen könnte: Dort, in 5.000 Kilometern Entfernung, gibt es Hanf-Felder so weit das Auge reicht. Mehr als genug, um von dort Medizinalhanf zu importieren und die "afghanischen Bauern in ihrem Freiheitskampf" zu unterstützen. Selbstverständlich hat er mit Burgs Ablehnung gerechnet und sich darauf vorbereitet: Dessen Einwand, nicht "mutwillig Rauschgift importieren" zu wollen, kontert Grischa mit der Bemerkung: "Aber das machen wir doch schon! Wir versorgen die Bevölkerung kontinuierlich mit Alkohol, Nikotin und Koffein, das haben Sie selbst gesagt. [...] Gegen Cannabis gibt es derzeit keine offizielle Parteilinie." 

Bei so viel sozialistischer Argumentation kann kein Chef "Nein" sagen. Und so kommt es, dass Grischa, Burg, eine Biologin und eine strenge Stasi-Offizierin nach Afghanistan fliegen und die erste Charge einkaufen. Kurz nach ihrer Rückkehr nach Berlin organisieren sie die Eröffnung eines deutsch-afghanischen Freundschaftsladens am Grenzübergang Invalidenstraße, in dem es offiziell landestypische Ware aus dem sozialistischen Bruderland gibt: Mützen, Schals und dergleichen. Das Cannabis ist als Bückware erhältlich. Selbstverständlich wird nicht in Mark der DDR, sondern in D-Mark bezahlt. 

Innerhalb weniger Tage spricht sich das ungewöhnliche Angebot herum und der Hanf findet reißenden Absatz, denn der Stoff ist sehr hochwertig und kann gegen eine Quittung legal gekauft werden. Das schlägt Wellen bis nach Bonn ins Ministerium für innerdeutsche Beziehungen. Auch dort herrschte bislang gepflegte Langeweile. Die Meldung vom schwunghaften Cannabis-Handel an der innerdeutschen Grenze reißt die Behörde jedoch aus ihrer Schläfrigkeit. Es kann und darf nicht sein, dass die bundesdeutsche Bevölkerung durch die Hintertür mit dem Rauschmittel versorgt wird. Eine Rechtsreferendarin wird beauftragt, einen Plan gegen diese perfide Aktion auszuarbeiten. Ihr Vorschlag: D-Mark gegen eine Beendigung des Cannabis-Verkaufs. Viel D-Mark.

Lesen?

Jakob Hein bastelt eine aberwitzige Geschichte um eine wahre Begebenheit. 1983 stand die DDR am finanziellen Abgrund, aus dem ihr auch die UdSSR nicht heraushelfen konnte. Damals fädelte der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit ein, der höchstwahrscheinlich die Existenz der DDR verlängerte. Im Gegenzug sagte die DDR-Regierung unter anderem zu, Familienzusammenführungen und Ausreisen zu erleichtern und Selbstschussanlagen abzubauen. Der Vorgang wurde wie in einem Agenten-Thriller abgewickelt und bezog die Mitarbeit eines bayrischen Großschlachters ein. 

Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste ist ein sehr witziges Buch, dass das damalige deutsch-deutsche Verhältnis, das lange Zeit sehr angespannt war, auf die Schippe nimmt und für Lacher sorgt. Egal, ob man dabei nach Ost oder West schaute: Auf dem Feld der Bürokratie waren beide Staaten spitze.

Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste ist 2005 bei Galiani Berlin, einem Inprint des Verlags Kiepenheuer & Witsch, erschienen und kostet gebunden 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro (befristet 4,99 Euro).

Nachtrag: Wer mehr über den Milliardenkredit der BRD an die DDR wissen möchte, wird hier gut informiert.




Samstag, 31. Mai 2025

# 476 - Project 2025: Nur ein Plan oder längst Realität?

Project 2025: Diesen Begriff haben die meisten schon
einmal gehört. Als er erstmals medial in den Fokus rückte, wurde er von vielen noch als eine neue Verschwörungserzählung abgetan, weil das, was in die Öffentlichkeit gelangte, nach rechter Radikalität und Kahlschlag auf mehreren Ebenen klang. Mittlerweile sind zwei Dinge klar: Project 2025 ist ein knallharter Regierungsfahrplan, der ein Demokratie-, Budget- und Behördenkahlschlag ist und auf der ultrarechten Vorstellung, wie das Land (und gern die Welt) zu sein hat, basiert.

David A. Graham ist ein Politikexperte, insbesondere für die Politik in den USA. Der seit vielen Jahren für die Zeitschrift The Atlantic schreibende Journalist wurde bereits für seine Berichterstattung über den Präsidentschaftswahlkampf 2020 ausgezeichnet. In Der Masterplan der Trump-Regierung erläutert er, was tatsächlich hinter Project 2025 steckt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Mandate for Leadership von Project 2025 - Conservative Promise. Mandate for Leadership ist eine Buchreihe, die seit 1981 von der konservativen Heritage Foundation herausgegeben wird und der künftigen Bundesregierung Hinweise gibt, wo und wie sich diese ihrer Meinung nach engagieren sollte.

Trumps erste Amtszeit begann im Chaos. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass er die Wahl gewinnen würde. Er selbst auch nicht. Damals war nichts vorbereitet: Es gab weder einen Plan noch Personal.
Das ist diesmal anders. Die Heritage Foundation hat den Ablauf der aktuellen Regierungszeit beinahe minutiös vorbereitet. Das Ziel ist, die USA zu einem christlich-konservativen und autoritär agierenden Land zu machen. Der Journalist Klaus Brinkbäumer bringt es in seinem Vorwort auf den Punkt: 
"David Graham hat kein Werk über Ideen und Ideologien geschrieben, sondern einen Bericht über konkrete, kondensierte Macht - und darüber, wie sie organisiert, kanalisiert, konzentriert, entfesselt und missbraucht wird." Es ist "ein staatsfeindliches Manifest in staatsrechtlichem Gewand. Es richtet sich gegen so ziemlich alles, was die amerikanische Demokratie über Jahrzehnte stabilisiert hat: die Gewaltenteilung, den professionellen Verwaltungsapparat, internationale Kooperation, einen Grundkonsens über gesellschaftlichen Pluralismus und demokratische Normen".

Wer Grahams Buch liest, findet vieles von dem wieder, was die Medien seit dem Amtsantritt von Donald Trump berichtet haben: das Handeln eines von Rache getriebenen Autokraten, das impulsiv und instinktgesteuert ist; das Regieren mit Dekreten ohne die Beteiligung des Kongresses; den massiven Um- oder Abbau von Bundesbehörden einschließlich massenhafter Entlassungen; das Ignorieren von Gerichtsurteilen; das Ignorieren von Freundschaften mit anderen Staaten, die bislang als unverbrüchlich angesehen wurden. Trumps erratisches Agieren soll durch Project 2025 eingehegt und im Sinne der Zielerreichung kanalisiert werden.  

Die Nachrichten, die uns aus den USA erreichen, decken sich im Wesentlichen mit den vier Zielen von Project 2025, die vom Präsidenten der Heritage Foundation, Kevin Roberts, formuliert wurden:

  • "Die Widerherstellung der Familie als Mittelpunkt des amerikanischen Lebens und den Schutz unserer Kinder;
  • den Abbau des Verwaltungsstaats und die Rückgabe der Selbstverwaltung an das amerikanische Volk;
  • die Verteidigung der Souveränität, der Grenzen und des Reichtums unserer Nation gegen globale Bedrohungen und
  • die Sicherung unserer von Gott gegebenen individuellen Rechte auf ein freies Leben - also das, was unsere Verfassung als die 'Segnungen der Freiheit' bezeichnet."

Lesen?

Der Masterplan der Trump-Regierung trägt den Untertitel Wie ein radikales Netzwerk in Amerika die Macht übernimmt. Das trifft es genau, denn Donald Trump hat im Wahlkampf gegen Kamala Harris bestritten, das Machwerk gelesen zu haben. Das dürfte zu den wenigen Dingen gehören, die man dem US-Präsidenten glauben darf, denn viele Menschen, die ihn näher kennengelernt haben, sagen übereinstimmend, dass er eine schlechte Konzentrationsfähigkeit hat und praktisch nie etwas liest. Harris hingegen hat mehrmals vor Project 2025 und seinen Folgen für das Leben der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner gewarnt und war damit nicht allein.

Wer mehr zu diesem Thema wissen möchte, sich aber nicht die 920 Seiten des Mandate für Leadership 2025 antun will, sollte Grahams Buch lesen. Manches davon ist bereits eingetreten, auf viele andere Veränderungen darf man sich noch "freuen".

Der Masterplan der Trump-Regierung ist 2025 unter dem Originaltitel The Project. How Project 2025 is Reshaping America erschienen und wurde vor wenigen Tagen im S. Fischer Verlag in der deutschen Fassung veröffentlicht. Es kostet als Paperback 18 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Dienstag, 20. Mai 2025

# 475 - Völlig losgelöst im All

Astronautinnen und Astronauten aus verschiedenen
Ländern sowie zwei russische Kosmonauten umkreisen in einer Raumstation die Erde - zwei Frauen und vier Männer. In ihrem Roman 
Umlaufbahnen sieht Samantha Harvey ihnen einen Tag lang zu - in sechzehn Umlaufbahnen à neunzig Minuten.

In etwa 400 Kilometern Höhe bewegt sich die Raumstation seit mehr als 25 Jahren mit einer Geschwindigkeit von rd. 29.000 km/h um den "blauen Planeten". Die sechs Menschen versuchen, sich weit weg von ihrer Heimat und denen, die sie lieben, einen Alltag aufzubauen. Sie schlafen in hängenden Schlafsäcken, machen Sport gegen den Muskelabbau, essen Standardkost aus Tüten und zwischendurch Lebensmittel, die ihnen ihre Angehörigen mit der Versorgungskapsel geschickt haben, und verbringen Zeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Ihre Arbeit besteht aus wissenschaftlichen Experimenten und der Erledigung von Aufträgen, die sie von der Bodenstation erhalten. 

Samantha Harvey hat jedoch kein nüchtern-technisches Buch geschrieben, sondern der Raumfahrt einen poetisch-emotionalen Anstrich gegeben. Sie schildert den Ausblick der Astronautinnen und Astronauten auf ihren Heimatplaneten in schillernden Worten, wirft einen Blick auf den persönlichen Lebenshintergrund jeder einzelnen Person und macht durch ihre Sprache deutlich, wie sehr in einer Raumstation das Leben im All und das auf der Erde auseinanderfallen. Das, was hunderte Kilometer unter ihnen passiert, hat aus dieser Perspektive einen fast schon surrealen Charakter:
Die Philippinen werden von einem riesigen Taifun heimgesucht, aber von der Raumstation aus sieht man kein Leid, das vom Sturm angerichtet wird, sondern die spektakulären Wolkenformationen, die auf das Land zuziehen. Eines der Crewmitglieder hat während eines Urlaubs eine philippinische Fischerfamilie kennengelernt; dieser persönliche Bezug verdeutlicht die katastrophalen Folgen des Wirbelsturms für die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes.
Gleichzeitig erfährt eine der Astronautinnen vom Tod ihrer Mutter. Der bedrückende Moment der Erkenntnis, nicht bei deren Beisetzung dabei sein zu können, schwappt auf die Leserinnen und Leser über.

Nebenbei vermittelt Samantha Harvey Details über die Raumstation, die in diesem Roman zwar keinen Namen hat, aber wahrscheinlich die ISS ist. So erfährt man beispielsweise, dass es zwei Toiletten gibt: eine für die beiden russischen Kosmonauten, eine US-amerikanische Toilette für alle anderen. Eindeutige Hinweisschilder an den Toilettentüren legen fest, wer auf welches stille Örtchen gehen muss. Das Schild vor dem US-WC wird durch einen Hinweis ergänzt: Bitte benutzen Sie aufgrund der andauernden politischen Auseinandersetzungen ihre eigene nationale Toilette.
Die Besatzung hält sich oft nicht an die Trennung, macht sich aber darüber lustig. Der Kosmonaut Roman wird mit dem Satz "Ich bin mal eben weg und leg ein Ei für Mütterchen Russland" zitiert. So sieht es aus, wenn Politik seltsame Blüten treibt. Das Bodenpersonal muss machtlos beobachten, wie die Besatzung auch die geographische Aufteilung der Ergometer oder des Essenslagers missachtet.

Die Crew weiß noch nicht, dass sich die Lebenszeit der Raumstation dem Ende zuneigt. An der Außenwand des Raumschiffs ist ein feiner Riss, der einen so geringen Druckabfall im russischen Modul bewirkt, dass kein Alarm ausgelöst wird. Aber der Riss wird breiter, ganz langsam ...

Lesen?

Umlaufbahnen ist nicht nur eine plastische Schilderung des Lebens in einer Raumkapsel, es ist auch eine Ode an die Schönheit der Erde. Einer Erde, die von den Menschen nach und nach zerstört wird: Harvey beschreibt den von roten oder neonfarbenen Algenblüten gefärbten Atlantik, der längst überfischt ist und sich stetig weiter erwärmt ebenso wie die Verdunstungsteiche, aus denen Lithium gewonnen wird oder die schrumpfenden Eisschilde der Gletscher. Die Crewmitglieder registrieren diese menschengemachten Schäden: 'Aus ihrer Perspektive ist der Einfluss der Politik so offensichtlich, manifestiert sich in jedem Detail des Anblicks, dass sie gar nicht verstehen, wie ihnen das zunächst entgehen konnte', resümiert Harvey. An dieser Stelle macht es sich die Autorin möglicherweise zu einfach. Das gilt auch für die ein oder andere technische Beschreibung. Aber hier genau zu sein, war sicher nicht ihre Absicht.

Samantha Harvey bekam für ihren Roman den Booker Prize 2024.

Umlaufbahnen ist 2024 bei dtv erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Nachtrag: Wer sich für Raumfahrt interessiert, kann sich mithilfe der kostenlosen App 'ISS Live Now' Aufzeichnungen aus dem Inneren der ISS ansehen oder live deren Erdumrundung verfolgen.


Montag, 12. Mai 2025

# 474 - Geschichte einer manipulativen Beziehung

Die serbische Schriftstellerin Milica Vučković hat bereits
einige literarische Auszeichnungen erhalten. Nun ist erstmals eines ihrer Bücher auf Deutsch erschienen: In ihrem Roman 
Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen geht es zwar nicht um Sport, aber um andere physische und psychische Verletzungen.

Eva ist knapp über dreißig und lebt nach einer gescheiterten Ehe mit ihrem zweijährigen Sohn bei ihren Eltern in einem Belgrader Vorort. Ihre Eltern sind ihr eine große Hilfe, weil sie sich um ihren Enkel kümmern, damit ihre Tochter arbeiten gehen kann. Doch Eva geht nur wegen des Geldes ins Büro, ansonsten ist sie sowohl von ihrer Tätigkeit als auch von den Kolleginnen und Kollegen angeödet. Ihr Leben läuft aus ihrer Sicht in einer Endlosschleife ab.

Bei einer Firmenfeier lernt Eva den gutaussehenden Viktor kennen. Er stellt sich ihr als Journalist und Schriftsteller vor, die beiden werden ein Paar. Dann folgt etwas, von dem man schon viele Male unter dem Stichwort "toxische Beziehung" gehört hat: Viktor umgarnt Eva mit Komplimenten und Liebesbeteuerungen, um kurz darauf wegen einer Nichtigkeit die Nerven zu verlieren, seine Freundin zu beschimpfen und irgendwann auch zu schlagen. Es folgen Entschuldigungen, Besserungsgelübde und neue Liebesschwüre, bis alles wieder von vorn beginnt. Es gelingt Viktor, Eva mit der Aussicht auf eine rosige gemeinsame Zukunft von Belgrad nach Stuttgart zu locken. Eva ist nun auf Viktor angewiesen, der mit Gemeinheiten, Lügen und Intrigen erreicht, dass seine Freundin in ihrer neuen Heimat keine stabilen sozialen Kontakte aufbauen kann.

Die Geschichte wird als Ich-Erzählung von Eva geschildert, was sie sehr eindringlich und nahbar macht. Was paradox erscheint, in Beziehungen nach diesem Muster jedoch typisch ist: Eva registriert, dass Viktor ein Soziopath und Choleriker ist, der dabei ist, sie zu brechen. Doch wenn es zwischen den beiden zum Streit kommt, ist sie zu oft bereit, die Schuld dafür bei sich zu suchen, um die Wogen zu glätten. Sie beginnt bald, körperlich zu spüren, wenn sich ein neuer Konflikt anbahnt: "[...], im Kopf hörte ich wieder dieses Geräusch, immer nur dieses eine Geräusch, ich stellte mir vor, dass man so ein Geräusch unter solchen Hochspannungstransformatoren, Signalverstärkern hörte, obwohl ich nie unter einem Signalverstärker gestanden hatte, aber das war bestimmt dieses Geräusch."  Auch Evas kleiner Sohn leidet unter der katastrophalen Situation: Er wird immer stiller und beginnt, sich wieder einzunässen. Das Kind wird je nach Situation zu Evas Eltern, zur Nachbarin oder zu serbischen Freunden von Evas Vater, die in Stuttgart in ihrer Nähe leben, gebracht, bis sich das Verhältnis zwischen seiner Mutter und Viktor wieder eingerenkt hat.

Eva wird erst spät klar, dass viele Menschen um sie herum längst wahrgenommen haben, was da zwischen ihr und Viktor passiert; eher, als sie es sich selbst eingestanden hatte. Dann kommt der Moment, an dem sie sich einredet, dass ein gemeinsames Kind die Beziehung zum Guten wenden könnte. Als ihre Periode aussetzt, hofft sie auf weitere Anzeichen für eine Schwangerschaft. Das ist einer von vielen Momenten, an denen man Eva am liebsten schütteln und ihr sagen will: "Lauf weg von diesem Mann, so weit und so schnell du kannst." Der Roman endet so, wie es in Beziehungen, die nach diesem Muster verlaufen, häufig vorkommt.

Lesen?

Trotz des bedrückenden Themas schlägt das Buch beim Lesen nicht auf die eigene Stimmung. Das liegt vor allem am schwarzen Humor, den Milica Vučković wohldosiert einstreut. Eva nutzt beispielsweise ihr Handy als ein Ventil. Wenn wieder mal eine Situation eskaliert ist, gibt sie manchmal in die Suchleiste des Browsers dazu passende Anfragen ein: Viktor packt wieder seine Sachen in eine Reisetasche, um Eva auf seine übliche theatralische Art zu verlassen. Eva hingegen ist genervt vom Geräusch der Reißverschlüsse und gibt in das Suchfeld "Tod wegen Reißverschluss" ein. Das Ergebnis ist allerdings nicht das, was sie erwartet hatte.

Milica Vučković bedankt sich zum Schluss bei einer Freundin, die ihr ihre eigene Geschichte über eine toxische Beziehung mit einem Mann erzählt hat. Da kommt es dann wieder zurück, das Gefühl der Bedrückung.

Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen ist 2025 im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet gebunden 23 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Montag, 5. Mai 2025

# 473 - Habemus Papam: Der Papst ist tot, es lebe der Papst

Am Ostermontag verstarb Papst Franziskus, am 7. Mai
2025 wird das Konklave für seinen Nachfolger beginnen. 133 von 135 wahlberechtigten Kardinälen werden im Vatikan abgeschirmt vor den Augen der Welt aus ihren Reihen einen neuen Papst wählen. Stimmberechtigt sind nur unter 80-jährige Kardinäle, die sich für die Wahl in der Sixtinischen Kapelle versammeln. Sobald der Zeremonienmeister die Aufforderung "Extra omnes" ("Alle hinaus") ausspricht, müssen alle Nicht-Wähler den Raum verlassen. 
Nach jedem Wahlgang werden die Stimmzettel verbrannt: Steigt schwarzer Rauch aus dem eigens zu diesem Anlass montierten Schornstein der Sixtinischen Kapelle auf, ist keine Entscheidung gefallen. Ist jedoch weißer Rauch zu sehen, haben sich zwei Drittel der Wähler für einen Kandidaten entschieden, der anschließend der neue Papst sein wird. Was während des Konklaves passiert, unterliegt strengster Geheimhaltung. Verstößt ein Kardinal gegen dieses Gebot, droht ihm die Exkommunikation.

Diese Regeln werden durch weitere ergänzt, die keineswegs immer gleich waren. Die Anfänge der Papstwahlen, deren Verläufe, die politischen Hintergründe sowie die sich verändernde Rolle der Päpste schildert der Vatikanexperte Stefan von Kempis in seinem neuesten Buch Weißer Rauch und falsche Mönche - Eine andere Geschichte der Papstwahl.

Bei der Papstwahl ging es oft wenig zimperlich zu. Ab dem 3. Jahrhundert kommt es immer wieder zur Wahl von Päpsten und Gegenpäpsten, eine 'Tradition', die sich bis ins 15. Jahrhundert fortsetzte.
Wer sich eine Papstwahl als ehrenwerte Veranstaltung vorstellt, aus der nur der geeignetste Kardinal als Papst hervorgeht, weiß nach der Lektüre dieses Buches mehr: Im 6. bis 8. Jahrhundert wird Papst, "wer politischen Rückhalt genießt, wer Milizen hinter sich hat, die ihm auf den Straßen Roms Respekt verschaffen, oder wer über genügend Geld verfügt, um sich Stimmen zusammenzukaufen". Damals war das Amt stark politisch geprägt. Kein Wunder, dass da viele Leute außerhalb der Kirche ihre Finger im Spiel hatten. Auch das wiederholt sich bis in das 14. Jahrhundert hinein.
Gustav Piffl war Erzbischof von Wien und nahm 1914 und 1922 an den Konklaven teil. Nach seinem Tod 1932 wurden seine Tagebücher gegen seinen ausdrücklichen Wunsch 1963 in einer belgischen Tageszeitung abgedruckt. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass hinter den Kulissen mit Methoden um das Papstamt gekämpft wurde, die sich mit dem christlichen Wertekanon eher nicht in Einklang bringen lassen.

Stefan von Kempis rollt das Papstamt von Beginn an vor seinen Leserinnen und Lesern aus. Er stellt zum Beispiel die berechtigte Frage, warum ausgerechnet der wankelmütige und unzuverlässige Apostel Petrus für die katholische Christenheit der Ausgangspunkt für das Papstamt ist, das seinetwegen auch als Petrusamt bezeichnet wird. Petrus gründete zwar die erste christliche Gemeinde in Jerusalem, aber er war nun mal auch derjenige, der Jesus drei Mal verleugnete.
Auch die Frage, warum ausgerechnet Rom der Mittelpunkt der katholischen Kirche wurde, wird von dem bei Vatican News tätigen Journalisten beantwortet.
Interessant ist auch, dass Wahlmodi, um die heute immer wieder kontrovers diskutiert wird, zu Zeiten der ersten Päpste selbstverständlich praktiziert wurden. Das trifft insbesondere auf die ersten Jahrhunderte der Papstwahlen zu, in denen Laien an der Wahl beteiligt waren. Am deutlichsten geht das aus der Kirchenordnung Traditio Apostolica aus dem beginnenden 3. Jahrhundert hervor, die vorschreibt, dass der Bischof von Rom vom ganzen Volk gewählt wird.
Stefan von Kempis hat bis ins 16. Jahrhundert hinein achtzehn unterschiedliche Arten der Papstwahl gezählt.

Lesen?

In Weißer Rauch und falsche Mönche - Eine andere Geschichte der Papstwahl erzählt Stefan von Kempis in einem unterhaltsamen Plauderton die Geschichte des Papsttums, sodass das Buch trotz der manchmal verwirrenden Namensvielfalt immer interessant ist. Er schreckt auch nicht vor der Schilderung von unappetitlichen Ereignissen wie beispielsweise der sog. Leichensynode von 897 zurück: Um die Entscheidungen von Papst Formosus rückgängig zu machen, wird dessen Leichnam exhumiert und zum Zentrum einer schaurigen Inszenierung gemacht. Römische Kleriker und Bischöfe erklären den Toten für von vornherein unwürdig, das Papstamt zu bekleiden, und untermalen dies mit symbolischen Handlungen. An dieser Stelle wird der Vorgang so unappetitlich, dass ich auf die Fortsetzung der Schilderung verzichte.

Und was hat es mit den falschen Mönchen auf sich, von denen im Untertitel des Buches die Rede ist? Sie streifen 1559 während des mit 113 Tagen längsten Konklaves des 16. Jahrhunderts durch Roms Straßen und stiften mit dem Predigen von protestantischen Inhalten Verwirrung und Unruhe. Sie gab es tatsächlich.
Papst Pius IX., dem der Kirchenstaat verloren gegangen war, sorgte sich um die Zukunft des Papsttums und erließ eine große Zahl von angstbesetzten Konklave-Verordnungen. Er hielt es für möglich, dass sich Anhänger des Revolutionärs Garibaldi als Mönche verkleidet ins Konklave schmuggeln und dort Unruhe verbreiten könnten. Sie sind die eingebildeten falschen Mönche.

Einige Kardinäle, die an der kommenden Papstwahl teilnehmen werden, geben der Presse bereits ihre Einschätzung zur wahrscheinlichen Dauer des Konklave. Wie die Geschichte zeigt, kann das jedoch eine sehr schnelle, aber auch zähe Angelegenheit werden: Zwischen drei Stunden (1503) und 1005 Tagen (ab November 1268) war bisher alles möglich.

Weißer Rauch und falsche Mönche - Eine andere Geschichte der Papstwahl ist 2025 im Herder Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Montag, 21. April 2025

# 472 - Ein "Lucky Loser" im Oval Office

Susanne Craig und Russ Buettner schreiben für die
New York Times und haben sich seit 2016 in ihrer Berichterstattung auf die persönliche finanzielle Situation von Donald J. Trump fokussiert. Für ihre Recherchen, für die sie sich mit Trumps Erbschaft, seinen geheim gehaltenen Steuererklärungen und seinen Fehlschlägen beschäftigten, erhielten sie u. a. den Pulitzer-Preis.
Im September 2024 veröffentlichten sie ihr Buch Lucky Loser, dessen Untertitel How Donald Trump squandered his father's fortune and created the illusion of success (dt.: Wie Donald Trump das Vermögen seines Vaters verprasste und die Illusion des Erfolgs schuf) in die Richtung wies, die die Leserinnen und Leser erwarten konnten und deutlich treffender war als die deutsche Version: Die Wahrheit über Donald Trump und sein Vermögen.

Craig und Buettner beließen es nicht bei der Dokumenten-Recherche, sondern befragten auch ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Geschäftspartner. Sie spürten der von Trump selbst seit Jahrzehnten erzählten Erfolgsgeschichte nach, wonach er ein begnadeter Unternehmer sei, der aus dem bescheidenen Vermögen seines Vaters ein Milliarden-Imperium geformt habe.

Man ahnt die Wahrheit, bevor man nur eine Seite dieses Buches kennt, das sich wie ein Wirtschaftskrimi liest. Man ahnt, dass hinter der Großmäuligkeit des amtierenden US-Präsidenten jede Menge heiße Luft ist. Man ahnt jedoch nicht, wie weit die eigene Vorstellung von der Realität entfernt ist.

Donald J. ist der Sohn von Fred Trump. Fred war der Sohn eines armen Pfälzer Winzers, der aus wirtschaftlichen Gründen 1885 zum ersten und 1905 zum zweiten Mal in die USA auswanderte. Donald war das vierte von fünf Kindern. 
Das Buch reist kurz zurück ins Jahr 1925: Trumps mittlerweile verwitwete Großmutter Elizabeth gründete das Unternehmen 'Elizabeth Trump & Son', mit 'Son' war Fred gemeint. Die Basis für die Firmengründung waren mehrere Baugrundstücke, die Elizabeth von ihrem Mann geerbt hatte. Mit deren Bebauung, dem Verkauf der Neubauten sowie der Vergabe von Darlehen an die Käufer legte sie das Fundament für den geschäftlichen Erfolg ihres Sohnes.

Fred verdiente hervorragend an einem Geschäftsmodell, das den Staat ins Boot holte: Als Präsident Roosevelt die Federal Housing Administration (FHA) ins Leben rief, war das für den Bauunternehmer ein Karriereschub. Ab 1934 förderte die Behörde den Bau von Eigenheimen, indem sie Hypothekendarlehen versicherte. Auf dieser Grundlage vergaben Banken zinsgünstige Eigenheimkredite mit Laufzeiten von bis zu dreißig Jahren. Für die Bauunternehmer begannen rosige Zeiten. Mit Steuertricks gelang es Fred Trump, seine wahren Einkünfte zu verschleiern und damit Steuern zu sparen. Während seine Bauprojekte architektonisch nichtssagend waren, wurde Fred Trump auf andere Weise kreativ: Er blähte die Baukosten auf dem Papier auf, um zinsgünstige Kredite zu bekommen, und vermietete dann die fertigen Häuser teuer auf der Grundlage der offiziellen überhöhten Kostenprognosen. Diese Vorgehensweise wurde ihm zwar Mitte der 1950-er Jahre von öffentlichen Stellen vorgeworfen, hatte aber keine ernsthaften Konsequenzen.

Fred plante seine Firmennachfolge Anfang der 1970-er Jahre. Seine Töchter kamen hierfür nicht infrage, weil sie nun mal Frauen waren. Donalds Bruder Fred schied wegen seines Alkoholismus' aus. Donald avancierte zum Lieblingssohn, der mit den Millionen seines Vaters wie mit Spielgeld umging. Donald Trump versuchte sich als Bauherr von Hochhäusern, Hotels und Casinos und entschied sich aus dem Bauch heraus für neue Projekte. Die Presse war dabei behilflich, das von ihm geschaffene Image eines erfolgreichen Immobilienentwicklers zu unterfüttern: Durch deren schlampige Recherchen und Leichtgläubigkeit wurde das Vermögen, das Vater Fred gehörte, aber von Donald mit vollen Händen eingesetzt wurde, um sich stapelnde Hypotheken zu bedienen, seinem Sohn zugeschrieben - der diesen Eindruck durch maßlose Übertreibungen und Lügen verstärkte: "Mein Vater hat mir 1975 einen sehr kleinen Kredit gegeben, und ich habe damit ein Unternehmen aufgebaut, das viele, viele Milliarden Dollard wert ist und einige der größten Vermögenswerte der Welt besitzt." Tatsache ist, dass Fred Trump seinem Sohn Donald über die Jahre mit einer halben Milliarde Dollar ausgeholfen hat. 

Nur wenige durchschauten das Finanzgeflecht, das Trump aufgebaut hatte und sich bestens dazu eignete, Geldströme zu verschleiern. In den 1990-er Jahren wuchsen Trumps Schulden durch schlecht durchgeführte Casino-Bauprojekte und -Betriebe dermaßen, dass ein Bankmanager gegenüber einem Journalisten des Wall Street Journal äußerte: "Donald Trump fährt mit 100 Meilen pro Stunde auf eine Mauer zu, und er hat keine Bremsen." Zu diesem Zeitpunkt hatte Trump 3,4 Milliarden Dollar Schulden angehäuft und sah sich fälligen Anleihezinsen in Höhe von einer Milliarde Dollar gegenüber. Die kreditgebenden Banken schreckten davor zurück, Trumps Kredite zu kündigen und so seinen Bankrott einzuleiten: Viele seiner Immobilien waren nicht wertvoll genug, um damit die Kredite zu decken. Außerdem stellten sie fest, dass Trump seine Kredite quer abgesichert hatte: Bei einer Pleite würden sich die Geldhäuser um dieselben Immobilien streiten. Erschwerend kam hinzu, dass Trump für 832,5 Millionen Dollar persönlich gebürgt hatte, sodass sich die Immobilien im Fall einer Insolvenz nur zu geringen Preisen verkaufen ließen.

Trump blieb jedoch der wirtschaftliche Super-GAU erspart, die Banken trafen mit ihm verschiedene bindende Absprachen für einen Zeitraum von fünf Jahren. Den schönen Schein konnte Trump aufrecht erhalten, weil ihm ein monatliches 'Haushaltsgeld' von 450.000 Dollar zugestanden wurde. 
Obwohl ihre geschäftliche Herangehensweise sehr unterschiedlich war, hatten Vater und Sohn aber eines gemeinsam: Beide waren immer auf der Suche nach Möglichkeiten, ihre Steuerlast zu senken. Bei der Auswahl der Winkelzüge waren sie nicht zimperlich und nahmen auch illegale Aktionen in Kauf, die den Staat schädigten.

Die Rettung kam mit der TV-Show "The Apprentice". Die Sendung wurde ein Erfolg, Trump war obenauf. Doch nicht die Gage war es, die ihm einen reichen Geldsegen bescherte, sondern die zahlreichen Werbe- und Lizenzverträge im Umfang von Hunderten Millionen Dollar, die ohne seine Fernsehbekanntheit nicht möglich gewesen wären. Dort sorgte seine Unberechenbarkeit für hohe Einschaltquoten: Wen er feuerte, war jenseits jeder Logik und nur einem momentanen Impuls geschuldet. Der damalige Redakteur sagte: "Er feuerte immer wieder die absolut falsche Person. [...] Das passierte, wenn er absolut keine Ahnung hatte, was lief, und er einfach etwas erfand. Er musste nur irgendeinen Namen nennen." Sobald die Gefahr bestand, dass Trumps Verhalten sein Image beschädigen könnte, wurden die Aufzeichnungen nachträglich manipuliert, um "ihn nicht wie einen kompletten Idioten dastehen zu lassen".

Über dem Erfolg von "The Apprentice" waren seine gescheiterten Ehen und die beruflichen Misserfolge in den Hintergrund getreten. Die Regisseure inszenierten einen erfolgreichen Geschäftsmann, und Trump füllte diese Rolle auf den Fernsehbildschirmen perfekt aus.

Lesen?

Lucky Loser liest sich durchgängig interessant. Craig und Buettner haben fast jedes Statement durch eine Quelle belegt, sodass ihnen niemand Unglaubwürdigkeit oder Ungenauigkeit vorwerfen kann. 

Es ist erschreckend, wie sehr es dem Blender Trump gelang, zahllosen Menschen einen Erfolg als Immobilienunternehmer vorzugaukeln, den es nicht gegeben hat. Seine Erzählungen, die man heute von ihm kennt, reichen fünfzig Jahre zurück und wurden seitdem von ihm gebetsmühlenartig wiederholt: Mit Superlativen beschreibt er damals wie heute seine Genialität, die allerdings getrost angezweifelt werden darf. Gelingt ihm etwas offenkundig nicht, sind entweder die Umstände oder andere Personen schuld. 

Als Trump Mitte der 1980-er Jahre ein Buchvertrag für 'The Art of the Deal' angeboten wurde, beauftragte der Unternehmer den Journalisten Tony Schwartz als seinen Ghostwriter. Dieser war schnell desillusioniert: Trump konnte sich höchstens eine Stunde konzentrieren und "bei ihm zählt nur der ständige Trommelwirbel - Anerkennung von außen, immer mehr, immer größer, aber ohne Ziel". Aus seinen privaten Notizen geht ein noch desaströseres Urteil hervor: Wenn er Trump so beschreiben würde, wie er sei, dann erschiene er als "hassenswert oder, schlimmer noch, als eindimensionaler Angeber".

Trumps schlechte Eigenschaften können wir in diesen Tagen in seiner Politik wiederfinden. Der Mann, der als Unternehmer seinem Land geschadet hat, wurde von einer Mehrheit zu dessen Präsident gewählt. Manche Dinge sind so absurd, dass man sie sich nicht ausdenken kann. 

Die New York Times schrieb im September 2024 sehr treffend: "Selbst als die Maske des kompetenten Geschäftsmanns fiel, erwiesen sich die gleichen Schuldzuweisungen und Wahrheitsverweigerungen, die ihn und den Rest seiner Familie vor den Konsequenzen geschützt hatten, weiterhin als nützlich. Washington war nach seiner Präsidentschaft ein Chaos, aber die Schuld trugen die Demokraten, oder vielleicht die Chinesen. Antifa. Einwanderer. Die Ukraine."

Fazit: auf jeden Fall lesen.

Lucky Loser ist 2024 im Gutkind Verlag erschienen und kostet als Hardcover 35 Euro sowie als E-Book 22,99 Euro.

Nachtrag: Der Begriff "Lucky Loser" stammt aus dem Sport. Mit ihm sind Athleten gemeint, die in der ersten Runde eines Wettbewerbs oder einer Qualifikation scheitern, aber trotzdem weiterkommen, weil sie zu den besten Verlierern gehören.




Dienstag, 1. April 2025

# 471 - Die Rolle der Frauen in der Mafia, erzählt von einem Mafia-Experten

Der italienische Journalist und Autor Roberto Saviano
wurde 2006 schlagartig auch außerhalb seines Heimatlandes bekannt, als sein erstes Buch erschien: Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra. Er deckte darin die mafiösen Strukturen in seiner Heimatstadt Neapel auf und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Seitdem ist Savianos vorheriges Leben beendet: Er braucht ständig Personenschutz und verlässt nur selten das Haus. Die Mafia vergisst nicht.

In diesem Monat ist Savianos neuestes Buch erschienen: Treue. Liebe, Begehren und Verrat - Die Frauen in der Mafia. Der Hanser Verlag, der das Buch herausgebracht hat, schreibt auf seiner Homepage, es sei "erstmals ein Buch über die Rolle der Frau in der Mafia". Dass das nicht den Tatsachen entspricht, zeigen Titel wie zum Beispiel die der österreichischen Journalistin Mathilde Schwabenender-Hain Die Stunde der Patinnen: Frauen an der Spitze der Mafia-Clans (erschienen 2014) oder Sie packen aus - Frauen im Kampf gegen die Mafia (erschienen 2020) sowie Ich war eine Mafia-Chefin: Mein Leben für die Cosa Nostra von Guiseppina Vitale (erschienen 2010). 
Der Klappentext ist da eindeutig: Es ist Savianos erstes Buch über die Frauen der Mafia. Er erzählt in zwölf Kapiteln von ebenso vielen Frauen, die in eine Mafia-Familie hineingeboren wurden oder einen Mafiosi geheiratet haben. Auf viele von ihnen trifft beides zu: Sie wurden als Töchter wie eine Handelsware von einer Mafia-Familie in die andere weitergereicht, um einen der Söhne zu heiraten. Viele waren mit dreizehn oder vierzehn Jahren noch sehr jung, als sie schwanger wurden und geheiratet haben. Ihre Hauptaufgabe: Kinder bekommen (selbstverständlich vom eigenen Mann) und sie großziehen - in der Regel die eigenen, aber in seltenen Fällen auch die, die der untreue Gatte mit seiner Geliebten gezeugt hat, die auf Anweisung der betrogenen Ehefrau jedoch ihr Leben lassen musste.

Jungen sind in diesem Umfeld wertvoller als Mädchen, weil sie später die Führungsrolle des Vaters übernehmen und/oder ihm die Konkurrenz vom Hals halten sollen. Das Muster erinnert stark an die Gebräuche des europäischen Adels im Mittelalter. Oberstes Gebot für die Ehefrauen: immer den Mund halten und tun, was von ihnen erwartet wird. Liebe ist in diesem Umfeld völlig unwichtig, ganz oben steht die Treue zum eigenen Clan und natürlich die Ehre. 

Doch es gibt auch für die Frauen Grenzen des Erträglichen. Da ist beispielsweise die Ehefrau eines spielsüchtigen rangniederen Mafioso. Als er beim Pokern knapp bei Kasse ist, wirft er anstelle von Geld ein Foto seiner Gattin auf den Tisch. Er verliert und seine Frau muss seinen Einsatz in seinem Beisein "bezahlen". Sie wendet sich an ihren Bruder, einen Polizisten. Der frischt seinen alten Kontakt zu einem Mafioso aus einer anderen Stadt auf, der die Dinge final "regelt" - im Sinne der missbrauchten Frau und ihrem Bruder, aber auch hinsichtlich der Ehrvorstellungen der Mafiosi. In deren Kodex steht nicht etwa die Misshandlung der Frau im Vordergrund, sondern die Unzuverlässigkeit ihres Mannes:
"Weil er zur Gefahr geworden ist. Weil er zum Verräter werden könnte. [...] Wie hätte er sich einem Polizisten gegenüber verhalten, der erdrückende Beweise gegen ihn gehabt hätte? Oder gegenüber dem Capo einer rivalisierenden Familie, der mit einem Handkoffer voller Geld, [...], vor ihm gestanden hätte?"

Saviano schildert nicht nur das Leben von Mafia-Frauen, die aus Angst um ihr Leben oder davor, dass sie bei einem Fehlverhalten ihre Kinder nie mehr wiedersehen würden, ihr Leben lang den Mund halten und sich geräuschlos in die Clanhierarchie einfügen. Er greift auch die Fälle heraus, in denen Frauen aktiv nach der Macht gegriffen haben, wenn sich ihnen die Gelegenheit bot. Sie waren dabei nicht weniger zimperlich als ihre männlichen Pendants.
Die einzelnen Mafia-Gruppierungen gehen mit Frauen allerdings nicht einheitlich um: Die Camorra schätzt es, wenn ihre Anführer promiskuitive Frauenhelden sind. Die Ehefrauen haben jedoch ihren Männern immer treu zu sein. Die Mitglieder der Cosa Nostra leben hingegen monogam, lassen sich nicht scheiden und sind homophob. Schon ein entfernter homosexueller Verwandter kann für sie ein Problem sein. Von einer Frau zurückgewiesen zu werden, wird von Mafiosi grundsätzlich als Ehrverletzung angesehen, die gerächt werden muss. 

Roberto Saviano schreibt über Ereignisse, die zwischen den 1980-er Jahren und zu Beginn dieses Jahrhunderts passiert sind. Anders, als es der Titel vermuten lassen könnte, kommt aber keine der von ihm genannten Frauen selbst zu Wort. Die Informationen hat der Autor aus zweiter Hand erhalten, was an seiner sehr zurückgezogenen Lebensweise liegen dürfte.

Lesen?

Roberto Saviano versteht es, seinen Lesern die Denk- und Handlungsweise der Mafiosi näherzubringen. Es geht um ein archaisches System, das keine Gnade kennt, sondern nur den Machterhalt in den Mittelpunkt stellt. Er verwendet einen romanhaften Stil, der durch hervorgehobene und sachlich formulierte Abschnitte unterbrochen wird. Die eingestreuten Metaphern stören allerdings den Lesefluss und wären inhaltlich nicht nötig gewesen.

Im Grunde handelt Savianos Buch doch wieder von Männern. Männer sind es, die über das Schicksal von Frauen den Daumen heben oder senken, und Männer sind es auch, die die Mafia-Frauen dazu bringen, sich selbst aktiv um die "Geschäfte" zu kümmern, weil der eigene Mann wegen des soundsovielten Mordes Jahre oder Jahrzehnte im Gefängnis sitzt.

Treue. Liebe, Begehren und Verrat - Die Frauen in der Mafia ist vor einem Jahr in der italienischen Originalausgabe erschienen. Dort heißt das Buch Noi due ci appartaniamo. Sesso, amore, violenza, tradimento nella vita dei boss. Auf Deutsch: Wir zwei gehören zusammen. Sex, Liebe, Gewalt, Verrat im Leben von Chefs. 
Der Originaltitel beschreibt besser, was Leserinnen und Leser erwartet.

Treue. Liebe, Begehren und Verrat - Die Frauen in der Mafia ist wie oben erwähnt 2025 im Hanser Verlag erschienen. Das Buch kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.

Nachtrag: Im letzten Jahr war Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Kurz zuvor hatte Roberto Saviano die Regierung von Giorgia Meloni kritisiert. Er gehörte danach nicht zur italienischen Delegation, die nach Frankfurt reiste. Saviano war jedoch trotzdem vor Ort, eine Einladung des Hanser Verlags hatte es möglich gemacht. In einem Interview mit dem SWR warnt er vor einem verharmlosenden Umgang mit der italienischen Regierungschefin: "Europa unterschätzt die Regierung Meloni. Sie halten sie für eine einfache konservative Regierung. Dabei ist es eine rechtsextreme Regierung, die die Institutionen manipuliert. Europa muss also aufpassen, dass das nicht zu anderen herüber schwappt." Saviano hatte zuvor in einem Prozess wegen Beleidigung gegen Meloni verloren und seine Sendung war aus dem staatlichen Fernsehsender RAI hinaus gedrängt worden. Man darf gespannt sein, wie sein weiteres Leben verlaufen wird.

Samstag, 22. März 2025

# 470 - Ein Szenario: Wenn Russland gewinnt

Was passiert, Wenn Russland gewinnt? Diese Frage
steht seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 im Raum. Der renommierte Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala hat in seinem neuesten Buch ein Szenario entworfen, wie sich die globale und europäische Sicherheitsarchitektur in diesem Fall in den nächsten Jahren entwickeln könnte. Als Sieg gilt für ihn auch, dass Russland das derzeit von ihm besetzte Gebiet nicht zurückgeben muss.

Fiktion auf der Grundlage von Wissenschaft und fortgeschriebenen Entwicklungen

Masalas Szenario setzt im März 2025 ein. Die Unterstützung, um die der ukrainische Präsident Selenskyj dringend gebeten hat, bleibt aus. Der US-Präsident lässt nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa sicherheitstechnisch fallen. Die europäischen Staaten sind nicht in der Lage, diesen Ausfall aufzufangen. Der Ukraine bleibt nur die Kapitulation und damit die Aufgabe von zwanzig Prozent ihres Staatsgebiets. Eine durch die Vereinten Nationen bereitgestellte Friedenstruppe soll den Waffenstillstand überwachen, jedoch nicht eventuelle Angriffe Russlands gegen die Ukraine abwehren.

Ende März 2028 dringen russische Brigaden in die estnische Stadt Narwa ein. Die dortige Bevölkerung ist zu 95 Prozent russischsprachig und hat seit Wochen gegen ihre sprachliche und kulturelle Benachteiligung durch die estnischen Behörden protestiert und den durch Desinformation gestreuten Gerüchten geglaubt, für die Regierung künftig nur noch Bürger zweiter Klasse zu sein. Die russischen Soldaten stoßen nicht auf Gegenwehr, die Stadt ist binnen weniger Stunden eingenommen. Dieser Erfolg war auch deshalb möglich, weil sich sowohl die estnische Regierung als auch die NATO von Truppenbewegungen fast 150 Kilometer entfernt haben ablenken lassen.

In derselben Nacht besetzen russische Soldaten, die zuvor per Fähre als Touristen getarnt angereist waren, die estnische Insel Hiiumaa. Die Gegenwehr der 12.000 dort lebenden Menschen ist gering.

Die Frage ist nun: Ist die russische Annexion einer Stadt mit etwa 56.000 Einwohnern sowie einer Insel in einem kleinen NATO-Mitgliedsland ein Anlass, um den Bündnisfall auszurufen? Von der Antwort hängt insbesondere die Zukunft Europas ab, und sie fällt innerhalb der EU sehr unterschiedlich aus.
In Masalas Szenario entscheidet sich binnen weniger Tage, welche Staaten die globale Vorherrschaft erringen werden.

Lesen?

Carlo Masala warnt eindringlich davor, Russland zu unterschätzen. Er hält militärische Aktionen, die die Reaktions- und Verteidigungsfähigkeit der NATO testen sollen, für realistisch und benennt deutlich die - nicht fiktionalen, sondern tatsächlichen - Fähigkeitslücken des Verteidigungsbündnisses. Seiner Einschätzung nach verfolgt Putin das Ziel, die europäische Sicherheitsarchitektur zu zerstören.

Donald Trump ist erst seit wenigen Wochen im Amt, als Masala noch an seinem Buch arbeitet. Er schreibt: "Mein Szenario beruht darauf, dass die USA der Ukraine die Unterstützung entziehen und sich in der Folge aus Europa weitgehend zurückziehen, um sich auf Asien zu konzentrieren." Es ist beklemmend, dass sich diese Einschätzung bereits bewahrheitet hat.

Hinter einem Szenario steht nicht nur die Frage "Was wäre, wenn?" Es dient auch dazu, Vorbereitungen zu treffen, um den Worst Case zu verhindern - denn genau das ist es, worum es in Wenn Russland gewinnt geht. Masala beschreibt Russlands militärische und zivile Zersetzungsstrategie und kritisiert den Umgang der Politik mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine. Dass, als ob das nicht schon reichen würde, den Politikern eine klare Strategie bislang fehlte und sich daran auch nach drei Jahren Kriegsdauer nichts geändert hat, verleitet nicht zu Optimismus. 

Masala empfiehlt die Priorisierung von Staatsaufgaben zugunsten von Verteidigungsausgaben sowie die klare Kommunikation der Regierungen mit ihren Wählerinnen und Wählern. Sein letzter Satz ist eine Mahnung: "Demokratische Gesellschaften sind durch hybride Kriegsführung bedroht und letzten Endes geht es um nicht weniger als um die Verteidigung der demokratischen Staatsform, oder pathetischer gesprochen, um die Art und Weise, wie wir leben und leben wollen."

Wenn Russland gewinnt ist im März 2025 im Verlag C. H. Beck erschienen und kostet als Broschurausgabe 15 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.



Dienstag, 18. März 2025

# 469 - Love-Scamming, der Heiratsschwindel des 21. Jahrhunderts

Früher kamen Heiratsschwindler nicht daran vorbei, sich mit den Frauen, an deren Vermögen sie sich bereichern wollten, tatsächlich zu treffen. Das ist heute nicht mehr nötig: Nicht mehr ganz junge Frauen mit einem Account auf einer Social -Media-Plattform finden plötzlich Nachrichten von gutaussehenden, beruflich erfolgreichen weißen Männern ihren Postfächern. Gehen sie auf die Anfragen ein, entwickelt sich oft ein Dialog, der sehr vertraulich und intim werden kann. Die Männer erzählen ihren "Herzdamen" nicht nur von der großen Liebe zu ihnen, sondern bald auch von ihrer plötzlichen finanziellen Notsituation, aus der sie eine Geldspritze der Angebeteten befreien kann. Man ahnt, wie die Sache ausgeht, wenn sich Frauen darauf einlassen. Mittlerweile ist bekannt, dass die Love-Scammer Profilbilder und - inhalte völlig ahnungsloser Männer stehlen, selbst aber in Afrika sind und eine Frau nach der anderen ausnehmen wie eine Weihnachtsgans.

Um so einen Love-Scammer geht es in Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? Die Performance-Tänzerin und Schauspielerin Juno lebt seit Jahrzehnten mit dem Schriftsteller Jupiter zusammen. Jupiter ist an Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium erkrankt und ohne Junos Unterstützung nicht in der Lage, seinen Alltag zu bewältigen. Die Beziehung der beiden ist pragmatisch-besorgt. Juno versucht, ihre Arbeit und das Kümmern um Jupiter unter einen Hut zu bekommen. Da sie unter Schlafstörungen leidet, surft sie nachts durch Instagram. Dort findet sie in ihrem Postfach Nachrichten von angeblich gutsituierten Männern, die ihr honigsüße Nettigkeiten schicken. Juno erkennt die Masche hinter den Komplimenten und macht sich einen Spaß daraus, den Männern absurde Lügen über ihr Leben aufzutischen. Normalerweise brechen die Scammer die Unterhaltung ab, sobald sie sich enttarnt fühlen. 

Doch mit dem Nigerianer Benu entwickelt sich ein längerer Kontakt, der trotz seiner Enttarnung mehrere Monate dauert und immer persönlicher wird. Auch ihm hatte Juno eine falsche Identität vorgegaukelt, in der sie eine erfolgreiche Tänzerin aus Chemnitz in den besten Jahren ist, die als Single ständig One-Night-Stands hat. Nichts davon stimmt: Juno ist über fünfzig und damit etwa zwanzig Jahre älter als Benu. Sie hält sich beruflich knapp über Wasser. Jupiter und sie sind auf das Pflegegeld angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und wohnen in Leipzig.

Benu erzählt hingegen wahrheitsgemäß von seinem Alltag: von der täglichen Stromsperre ab 23 Uhr, seiner Familie und seinem finanziellen Problem, weil das alte nigerianische Geld gegen neues eingetauscht werden muss, dieser Umtausch aber nicht reibungslos klappt. Junos Misstrauen zerbröselt allmählich, sodass die beiden auch per Videocall und WhatsApp-Nachrichten kommunizieren. Und dann kommt der Moment, in dem Benu Juno gesteht, was in ihm vorgeht.

Lesen?

In Hey guten Morgen, wie geht es dir? hat Martina Hefter vieles aus ihrem eigenen Leben hineingeschrieben: Sie kümmert sich um ihren an MS erkrankten Mann Jan Kuhlbrodt, der als Schriftsteller arbeitet, ist als freischaffende Performance-Künstlerin unterwegs und irgendwann aus dem Allgäu nach Leipzig gezogen.

Es geht Hefter nicht nur um die Beschreibung der ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung, bei der sie zwischen ihrem Mann und einem fremden, weit entfernt lebenden Mann, zu stehen scheint. Hefter reißt wie nebenbei auch andere Themen an: die Ausbeutung Afrikas durch den (Post-)Kolonialismus, ihre eigene Angst vor dem Altwerden inklusive der vermeintlichen Erwartungen der Gesellschaft an eine über fünfzig Jahre alte Frau oder die Schwierigkeiten eines behinderten Menschen, den Alltag möglichst komplikationsfrei zu gestalten. Auch Hefters Liebe zur Astronomie spielt eine große Rolle. Doch diese Themen, von denen jedes einzelne sich für ein eigenes Buch eignen würde, werden nicht vertieft. Es bleibt der Eindruck der Flüchtigkeit und die Schwierigkeit, einige der als Problem dargestellten Sachverhalte als solche nachzuvollziehen.

Martina Hefter hat 2024 für Hey guten Morgen, wie geht es dir? den Deutschen Buchpreis gewonnen.

Hey guten Morgen, wie geht es dir? ist 2024 im Verlag Klett-Cotta erschienen und kostet gebunden 22 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.

Sonntag, 9. März 2025

# 468 - Vermissen auf Japanisch

Die Japanerin Kyoko ist mit dem US-Amerikaner Levi verheiratet und lebt mit ihm und dem gemeinsamen zweijährigen Sohn Alex in San Francisco. Die Aufgaben sind klassisch verteilt: Levi kümmert sich um die Firma und die Finanzen, Kyoko um den Sohn und den Alltag. Doch dann verunglückt Levi tödlich und Kyoto muss ihr Leben und das ihres Sohnes neu ordnen. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich die Handlung des Romans Vermissen auf Japanisch von Yukiko Tominaga (übersetzt von Juliane Zaubitzer).

Trotz seiner Beteuerungen, sich um eine Lebensversicherung zu kümmern, hatte Levi es versäumt, tatsächlich eine abzuschließen. Statt wohlgeordneten Finanzen hinterlässt er seiner Familie Schulden.

Levis Familie sind ihre jüdischen Wertvorstellungen wichtig. Deshalb bietet dessen Bruder Ben Kyoko an, zu ihm und seiner Familie nach Boston zu ziehen. Dort lebt auch ihre Schwiegermutter, die ihrer Schwiegertochter trotz der eigenen Trauer Halt geben will.

Yukiko Tominaga schildert in Episoden nicht nur, wie es Kyoko und Alex über mehrere Jahre gelingt, ihre Leben in gute Bahnen zu lenken, sondern sie macht auch deutlich, welche Bedeutung es in den beiden unterschiedlichen Kulturen hat, einen Menschen zu vermissen: Während man im Englischen auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen kann, dass einem eine Person fehlt, gibt es dafür im Japanischen keinen speziellen Ausdruck, mit dem das deutlich gemacht werden könnte. Kyoko äußert, dass ihr Levi fehlt, bezweifelt aber, ob sie ihn tatsächlich geliebt hat. Der starke kulturelle Unterschied, wenn es darum geht, einander Liebe zu zeigen, offenbart sich in einem Dialog zwischen Kyoko und ihrer Schwiegermutter:

"Weißt du was", sagte ich, "in unserer Sprache gibt es auch keine >Umarmung<."
"Kein >Ich vermisse dich< und keine Umarmungen. Wie erkennt ihr die Liebe?"
"Wir lesen die Luft", sagte ich.

Lesen?

Vermissen auf Japanisch hat mir atmosphärisch gut gefallen. Yukiko Tominaga hat die Sorgen und Nöte ihrer Protagonistin sowie die kulturelle Kluft zwischen ihr und ihrer angeheirateten amerikanischen Familie gut vermittelt. Die Autorin hat allerdings mit Zeitsprüngen gearbeitet, was mir das Lesen erschwert hat. Um zu zeigen, wie sich das Leben von Kyoko und Alex nach Levis Tod entwickelt, wäre eine chronologische Entwicklung aus meiner Sicht besser gewesen.

Vermissen auf Japanisch ist 2025 im mare Verlag erschienen und kostet 24 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.



Mittwoch, 26. Februar 2025

# 467 - Wie Diktatoren sich an der Macht halten - und irgendwann stürzen

Die Demokratie ist weltweit auf dem
Vormarsch? Wer das glaubt, sollte rasch seine rosa Brille absetzen, denn das Gegenteil ist der Fall: Die Bertelsmann-Stiftung sieht sich die globale demokratische Entwicklung regelmäßig an und hat festgestellt, dass 2024 von 137 untersuchten Ländern 74 von Autokraten regiert wurden. Zwei Jahre zuvor waren es "nur" 70. Aber ist die Demokratie nicht die beste aller Staatsformen? Wenn man die Diktatoren fragen würde, über die der Politikwissenschaftler Marcel Dirsus in seinem Buch Wie Diktatoren stürzen schreibt, sähe ihre Antwort vermutlich anders aus: Sie vereinen zwar jede Menge Macht auf sich und können sich aufgrund der für sie praktischen politischen Konstellation ungebremst bereichern. In autokratisch regierten Staaten gehört die Korruption so selbstverständlich zum Alltag wie die Luft zum Atmen.

Doch so einfach ist das nicht. So ein Autokraten-Leben hat seine Tücken: "Alleinherrschaften haben Systemfehler - sie können nicht auf Dauer funktionieren", stellt Dirsus fest. Da könnte man natürlich einwenden, dass auch demokratisch gewählte Regierungen zeitlich an ein Ende kommen, oft sogar früher als Diktatoren. Aber Dirsus weist gleich auf den nächsten Pferdefuß hin: "Tyrannen haben immer mehr Feinde als Freunde - und das Ende ihrer Herrschaft ist oft dramatisch."

Unter "dramatisch" ist das erzwungene Exil oder der Tod zu verstehen. Hin und wieder landen entmachtete Diktatoren auch für eine lange Zeit im Gefängnis. Immerhin 69 Prozent der Tyrannen beenden ihre Regierungszeit mit einer dieser Varianten. Ein ruhiger Lebensabend im Luxus und in einer schönen Umgebung ist sehr unwahrscheinlich - weder im Aus- noch im Inland. Ein Ende einer Diktatur durch den natürlichen Tod des Diktators ist reines Wunschdenken - seitens des Diktators.

Das Leben eines Diktators ist aber auch während seiner Regierungszeit ziemlich ungemütlich. Das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Sicherheit muss ständig austariert werden, die engsten Vertrauten können von einem Moment auf den anderen zu den erbittertsten Feinden werden. Und dann sind da noch ausländische Mächte, die Einfluss auf die Geschicke des Landes ausüben, um eigene Interessen wie zum Beispiel den Zugang zu Bodenschätzen oder den Ausbau militärischer Stützpunkte zu verfolgen.

Dirsus stützt seine Betrachtungen auf zahlreiche Studien, Artikel und Gespräche. Er beschreibt genau, wie Diktaturen entstehen - auch dort, wo es zuvor eine Demokratie gegeben hat - und welche Chancen und Risiken mit Putschversuchen einhergehen. Er nennt beispielhaft zahlreiche Diktatoren und deren Schicksale und kommt zu interessanten Rückschlüssen: Nach einem Putsch wird nur selten aus einer Diktatur eine Demokratie. Vielmehr "ergibt sich Demokratie häufig aus Versehen", zitiert Dirsus eine Studie der University of California, die die Demokratisierungsgeschichte bis zum Jahr 1800 zurück verfolgt hat. Der Normalfall ist leider, dass auf einen Tyrannen der nächste folgt.
Marcel Dirsus bezieht sich auf einen Artikel der Politikwissenschaftlerinnen Erica Frantz und Andrea Kendall-Taylor, wonach "zwischen 1950 und 2012 [...] nur 20 Prozent der gestürzten autokratischen Herrscher von einer Demokratie abgelöst" wurden. 
Aber warum ist es schwer, nach dem Ende einer Diktatur zu einer Demokratie zu finden? Die Erklärung ist so einfach wie einleuchtend: Nicht nur der Diktator bereichert sich auf Kosten seines Volkes, sondern auch seine direkte Umgebung wie seine Familie oder zahlreiche Günstlinge, die durch die Zuwendungen des Autokraten wohlhabend werden. Niemand von ihnen will eine Demokratie und den damit verknüpften Verlust der Privilegien und sprudelnden Einnahmequellen. Also bleibt im Prinzip alles, wie es war.

Aber was ist, wenn ein Tyrann zu alt, zu krank oder einfach zu lustlos geworden ist, um dem dauerhaften Druck noch länger standzuhalten? Haben Diktatoren eine Exit-Strategie? Man kann beinahe Mitleid bekommen, wenn man liest, welche Fallstricke es bei der Vorbereitung des Ruhestands gibt. Kurz: Man(n) kann es nur falsch machen.

Diktatorisch agierende Frauen kommen in diesem Sachbuch übrigens nicht vor. Woran liegt das? Haben Frauen weniger Interesse daran, ihr Volk zu unterdrücken und auszubeuten, um sich zu bereichern? Es gab einige wenige Frauen, die ein Interesse daran hatten, ihren Einfluss in einem Maß zu vergrößern, wie es ihren Ländern nicht guttat. Dazu zählt beispielsweise die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi, die mithilfe eines ohne Not ausgerufenen zweijährigen Ausnahmezustands die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit radikal einschränkte. Isabel Perón, die nach dem Tod ihres Mannes Juan Perón dessen Amt übernahm und Präsidentin von Argentinien wurde, hielt sich nur zwei Jahre an der Macht, bevor sie vom Militär aus dem Amt geputscht wurde. Durch Glück und für sie günstige rechtliche Konstellationen ist ihr der seltene Fall eines beschaulichen Rentnerinnendaseins in Madrid beschieden.
Frauen spielen bei der Betrachtung von Diktaturen also eine absolute Nebenrolle, die so gering ist, dass sich die Wissenschaft nicht für sie zu interessieren scheint.

Lesen?

Marcel Dirsus' Buchtitel Wie Diktatoren stürzen hat einen für Demokraten beruhigenden zweiten Teil: und wie Demokraten siegen können. Das letzte Kapitel "Wie man Diktatoren stürzt" beginnt ausgerechnet mit einem Zitat von Wladimir Putin: "Die Geschichte beweist, dass alle Diktaturen und alle autoritären Regierungsformen vorübergehend sind. Nur demokratische Systeme sind nicht vorübergehend. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz hat die Menschheit nichts Besseres ersonnen."

Ehe einem vor Staunen der Mund offen steht, sei darauf hingewiesen, dass diese Äußerung aus dem Januar 2000 stammt: Zwei Monate später wurde Putin erstmals zum russischen Präsidenten gewählt. Er hatte zehn Gegenkandidaten, galt aber wegen der ausdrücklichen Wahlempfehlung durch seinen Vorgänger Boris Jelzin als aussichtsreichster Bewerber. Eine Verfassungsänderung macht es möglich, dass Putin bis 2036 im Amt bleiben kann. Man kann rückblickend davon ausgehen, dass seine Äußerung eher den Charakter einer Beruhigungspille haben sollte und nicht aufrichtig gemeint war.

Wie dem auch sei: Marcel Dirsus zeigt, dass der Sturz eines Diktators zwar handstreichartig gelingen kann, eine sehr gute Vorbereitung aber unbedingt nötig ist, um erfolgreich zu sein. Kurz: Es gibt Hoffnung.

Wie Diktatoren stürzen ist ein sehr interessantes Buch, das leicht verständlich die Mechanismen beschreibt, die dazu führen, dass Diktatoren an die Macht kommen, diese Macht behalten und irgendwann gestürzt werden. Parallelen zur aktuellen Weltpolitik sind nicht zu übersehen.

Wie Diktatoren stürzen ist im Februar 2025 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro sowie als E-Book 24,99 Euro.