Sonntag, 19. Dezember 2021

# 320 - Fröhliche Weihnacht' überall...

In fünf Tagen ist Heiligabend. Passend zu den Weihnachtstagen zeige ich euch zwei Bücher, die weniger bekannt sind als beispielsweise Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens oder Der Grinch von Dr. Seuss.

Keine Sorge, es geht nicht ums Plätzchenbacken oder die ultimative Anleitung zum Baumschmücken. Diese Weihnachtsbücher entsprechen nicht dem Klischee von klingelnden Glöckchen oder jubilierenden Schalmeien. Kurz: Es wird ein bisschen schräg. Ein kleines bisschen.

2016 hat Daniel Glattauer die Welt mit der Gebrauchsanleitung für Weihnachten beglückt. Ist es nicht das, wonach wir ein Leben lang gesucht haben: Orientierung in der Welt der Nordmanntannen und Christbaumkugeln? Glattauer hat sich gewissermaßen den Kernthemen des Weihnachtsfestes gewidmet und sie humorvoll analysiert. Er schreibt über die Typologie der Christbaumkäufer (immerhin neun "Unterarten") ebenso fachkundig wie über die der Vanillekipferl-Esser. Fazit: Weder das eine noch das andere ist so einfach oder eindeutig, wie man das vor dem Lesen dieses Buches möglicherweise geglaubt haben mag. 

Enorm hilfreich ist die 'Gebrauchsanleitung für das familienfreundliche Absingen der wichtigsten Weihnachtslieder'. Hat uns das nicht seit jeher gefehlt, wenn wir im Lichterglanz vor dem Tannenbaum saßen und die erste Strophe von 'O du fröhliche' anstimmten? Glattauer erläutert mit ganz offensichtlichem Expertenwissen immerhin neun der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder - von 'Es ist ein Ros' entsprungen' bis 'Stille Nacht, heilige Nacht'. Er erklärt kurz den Inhalt eines Liedes, gibt wertvolle Hinweise auf besonders knifflige Textzeilen, weist auf die in der Melodie lauernden Hürden hin und vermittelt dem Laien-Weihnachtschor die Schlüsselpassagen. Besser als nach dieser Lektüre hat man sicher nie ein Weihnachtslied intoniert.

Bei aller Harmonie soll nicht verschwiegen werden, was die ersehnten Weihnachtstage leider oft mit dem nicht weniger ersehnten Sommerurlaub gemeinsam haben: Man sitzt sich im Familienkreis ziemlich dicht auf der Pelle, verschiedene Vorstellungen und Meinungen prallen alkoholgeschwängert aufeinander und - voilà! - fertig ist der erste Streit. Glattauer widmet den 'beliebtesten Weihnachtskrisen und besten Anlässen für Streit' ein eigenes Kapitel. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, so viel wie möglich über dieses heikle Thema zu wissen. Da gibt es nicht nur die Vorweihnachts-, Weihnachts- und Nachweihnachtskrise, sondern sage und schreibe weitere sieben Krisenvarianten, die in irgendeiner Beziehung zu Weihnachten stehen und die es zu umschiffen gilt. Selbstverständlich ist das mit diesem Buch kein Problem.

Gebrauchsanleitung für Weihnachten ist ein kleines Buch, das beim Lesen ein Lächeln aufs Gesicht zaubert und typische Weihnachtsszenen, die die meisten von uns kennen, ein bisschen auf die Schippe nimmt. Es ist im Deuticke Verlag erschienen und nur als E-Book zum Preis von 3,99 erhältlich.


Joachim Ringelnatz geht eigentlich fast immer. 2015 wurde das kleine Buch Weihnachten mit Joachim Ringelnatz herausgegeben und vereint mehr als vierzig der für ihn typischen Gedichte. Und weil der nächste Anlass zum Feiern quasi gleich um die Ecke liegt, hat sich Ringelnatz auch reimend um Silvester und Neujahr gekümmert. Die Verse sind mal heiter, mal ironisch, mal besinnlich oder auch kritisch. Ringelnatz schreibt über die besondere Weihnachtsstimmung, die durch die menschliche Nähe, alte Weihnachtslieder und den Kerzenschein entsteht ('Weihnachten'). Er erinnert seine Leserinnen und Leser in seinem Gedicht 'Schenken' aber auch daran, was ein Geschenk ausmacht: 

"Schenke mit Geist ohne List,  
Sei eingedenk,
Daß dein Geschenk
Du selber bist."

Weihnachten mit Joachim Ringelnatz macht fröhlich, nachdenklich oder melancholisch. Das kann sich von einer Seite auf die andere ändern. Wer sich an Ringelnatz' Sprache stört, der sollte wissen, dass der Schriftsteller bereits 1934 verstorben ist.
Das Buch ist im Insel Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 7,-- Euro.

Die Bücherkiste macht nun Weihnachtsferien. Die, die hier immer schreibt, schlägt sich in ein paar Tagen gemeinsam mit lieben Menschen den Bauch voll und schaut verzückt in wechselnde Tannenbäume. Danach rutscht die Bücherkiste gemütlich ins Jahr 2022 und ist am 7. Januar wieder mit einem neuen Buch zur Stelle. Es wird ein gutes sein, soviel kann ich hier schon mal verraten. 😉

Euch allen wünsche ich frohe Weihnachtstage und einen guten Start ins neue Jahr.

Samstag, 11. Dezember 2021

# 319 - Über Sprachen aus der ganzen Welt

Die Literaturwissenschaftlerin Rita Mielke hat in ihrem
neuen Buch Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen 42 Geschichten gesammelt, in denen es um die Verständigung in fremden Sprachen geht.

Mielke nimmt ihre Leserinnen und Leser nicht nur auf eine Sprachreise mit, die rund um den Globus führt; sie macht deutlich, dass die Geschichte der Menschheit nicht zuletzt auch eine der Sprachbegegnungen ist - beeinflusst von den Menschen, die mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen aufeinander getroffen sind. Da geht es zum Beispiel um baskische Walfänger, die es nach Island verschlägt, oder einen Deutschen, der auf mongolische Nomaden trifft. Diese Art, auf die Entwicklung der menschlichen Sprache zu schauen, ist bislang einzigartig.

Die am längsten zurückliegende Geschichte stammt aus der Zeit Karls des Großen (768 bis 814), die aktuellste von Autoren wie zum Beispiel Galsan Tschinag (geb. 1944). Jede ist für sich sehr besonders und zeigt, wie sich der Umgang mit Sprache verändert hat. Mielke schildert die Ignoranz, die insbesondere europäische Kolonialmächte den Sprachen der Bewohnerinnen und Bewohnern der von ihnen okkupierten Länder entgegenbrachten: Die europäischen Sprachen wurden zwar von den Besetzern als die höherwertigeren angesehen, dennoch war es für sie ärgerlich, sich damit nicht vor Ort verständigen zu können. So kam es zur Bildung von zahlreichen Mischsprachen, die Elemente aus beiden Ursprungssprachen übernahmen. 

Diese sprachliche "Einwanderung" kennen wir aus unserem eigenem Alltag, die Herkunft vieler Begriffe ist uns allerdings oft nicht bewusst. So stammt beispielsweise das arabische Wort biira vom deutschen Bier und das deutsche Wort Beduine vom arabischen badawī. Mielke macht deutlich, dass in der Vielzahl der gesprochenen Sprachen ebenso viele unterschiedliche Weltsichten verborgen sind. Sehr treffend zitiert sie den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."

Jedes Kapitel  schließt mit einer kurzen Übersicht über die dort beschriebene Sprache. Hier erfährt man u. a., welche Sprachen sich um ihr Aussterben keine Sorgen machen müssen (z. B. Arabisch, Chinesisch, Mongolisch)  und welche nicht mehr oder kaum noch gesprochen werden (z. B. Arabana, Yámana, Navajo).

Rita Mielke schreibt auch über Themen, die das Buch weiter inhaltlich aufwerten. Was als das älteste Gewerbe der  Welt gilt, dürfte jeder wissen. Aber welches ist das zweitälteste? Auskunft gibt ein Relief, das im Grab des Pharaos Haremhab gefunden wurde, das aus dem Jahr 1330 v. Chr. stammt und einen Dolmetscher zeigt. Mielke beschreibt die Aufgaben und Anforderungen der Dragoman, die sich deutlich von denen der heutigen Dolmetscher unterschieden.

Lesen?

Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen ist ein Buch, in dem Rita Mielke Sprach-Geschichte(n) sehr spannend erzählt. Wer sich für Sprachen interessiert, dem wird dieses Buch sicher gefallen. Die sehr schönen Illustrationen von Hanna Zeckau runden den Titel ab.

Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen ist 2021 im Duden Verlag erschienen und kostet 28 Euro.

Freitag, 3. Dezember 2021

# 318 - Ein Buch für diesen einen Tag

Wusstet ihr, dass heute der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist? Seitdem die Vereinten Nationen diesen Tag 1992 ausgerufen haben, findet er jedes Jahr am 3. Dezember statt. Damit soll auf der ganzen Welt das Bewusstsein für die Belange von behinderten Menschen gebildet und gefördert werden.

Ursprünglich hatte ich vor, darüber etwas auf meinem anderen Blog zu schreiben. Es gäbe eine Menge zu diesem Thema zu sagen. Aber dann stieß ich zufällig auf dieses Buch: Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden von John M. Hull. Hull war Professor für Religionspädagogik an der University of Birmingham und ist Anfang der 1980-er Jahre vollständig erblindet. Damals war er Mitte 40, zum zweiten Mal verheiratet und seine Frau mit dem ersten gemeinsamen Kind schwanger.

Durch Hulls Buch ist sehr deutlich nachvollziehbar, wie er an seine neue Lebenssituation heranging. Zweieinhalb Jahre nach seiner Erblindung begann er, das, was er täglich erlebte, auf Kassetten aufzuzeichnen. Er sprach zunächst täglich, später nur noch in mehrwöchigen Abständen über das, was ihn bewegte. Seine Aufzeichnungen erstrecken sich über einen Zeitraum von drei Jahren und sind die Grundlage für dieses Buch. 

Sehr sachlich schildert Hull, wie sich seine Wahrnehmung auf die Ebene des Hörens verschob. Die Erinnerungen an die Gesichter seiner Frau und seiner Kinder verblassten nach und nach und ließen sich am besten hervorholen, indem sich Hull diese so ins Gedächtnis rief, wie er sie auf Fotos gesehen hatte. Ihm wurde bewusst, dass er nicht sehend erleben würde, wie die Menschen um ihn herum alterten. Seine später geborenen Kinder würde er nur an deren Stimmen erkennen.

Der starke Fokus auf Geräusche ließ Hull die Welt in dieser Hinsicht viel differenzierter wahrnehmen, als er das vor seiner Erblindung für möglich gehalten hätte. Er hörte nicht nur die verschiedenen Arten des Regens, sondern auch, worauf die Tropfen aufschlugen und welches Bild das vor seinem geistigen Auge auslöste: "Regen hat die Eigenart, die Umrisse aller Dinge hervorzuheben; er wirft eine farbige Decke über Dinge, die vorher unsichtbar waren; wo vorher eine unterbrochene und damit zersplitterte Welt war, schafft der gleichmäßig fallende Regen eine Kontinuität akustischer Wahrnehmung."
Seine Erkenntnis: Wer die Augen schließt weiß, dass die Dinge um ihn herum noch da sind. Wer als blinder Mensch keine Geräusche hört, muss schlussfolgern, dass da auch nichts Hörbares ist.

Hull entwickelte nach einigen Jahren eine weitere Fähigkeit: Er war in der Lage, sich auch von größeren Gebäuden eine mentale Karte zu erstellen, sofern er die Gelegenheit hatte, sie in Ruhe und allein zu erkunden.

John Hull berichtet auch von seinen buchstäblich schwärzesten Stunden. Er schreibt von seiner Verzweiflung und dem Gefühl, in einer Art Kohlebergwerk zu versinken. Man erfährt, was ihm half, aus diesem seelischen Tief herauszukommen und nicht zu verzweifeln.

Lesen?

Ja! Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden bietet einen sehr differenzierten Einblick in das (Seelen-)Leben eines Menschen, der einen großen Teil seines Lebens sehen konnte und für den sich die Welt erst spät in Dunkelheit hüllte. Hull erhebt nicht den Anspruch, für alle blinden Menschen zu sprechen, sondern beschränkt sich auf seine eigene Sichtweise. Gerade sein unprätentiöser und schnörkelloser Schreibstil machen dieses Buch zu etwas Besonderem.

Der bekannte britische Neurologe Oliver Sacks hat das Vorwort für diesen ungewöhnlichen Titel geschrieben und das Buch als Meisterwerk bezeichnet.
2016 wurde Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden verfilmt - ein Jahr nach John Hulls Tod. Notes on Blindness wurde mit Hulls mündlichen Aufzeichnungen unterlegt und erhielt zahlreiche Preise. 

Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden erschien erstmals 1992 als deutsche Ausgabe beim Verlag C. H. Beck. Das Buch wurde mehrfach neu aufgelegt und ist im selben Verlag zuletzt 2018 als Taschenbuch für 16,95 Euro sowie als E-Book für 12,99 Euro herausgegeben worden.


Freitag, 26. November 2021

# 317 - Der Aufstand der katholischen Frauen

Lisa Kötter ist eine der Gründerinnen der katholischen Reformbewegung Maria 2.0. Sie und einige andere Frauen trafen sich jeden Monat in Münster, als Kötter der Runde im Januar 2019 von einer Reportage erzählte, die vom ZDF gezeigt worden war: Das Schweigen der Hirten. Dort geht es um das systematische Vertuschen von Kindesmissbrauch, begangen von Priestern. Die katholische Kirche hat nicht etwa die Opfer beschützt, sondern die Täter: Sie wurden, sobald Missbrauchsfälle offenkundig wurden, weltweit auf andere Gemeinden verteilt. Dass hohe Kleriker von dieser Praxis nichts mitbekommen haben könnten, ist ausgeschlossen.

Das, was über Jahrzehnte nur geraunt und gemunkelt wurde, wurde durch die Reportage greifbar und war bewiesen worden. Jeder einzelnen Frau in diesem Kreis war klar, dass weiteres Schweigen dazu führen würde, das bestehende System zu erhalten. Die katholische Kirche schützte nicht die Menschen, sondern nur sich selbst. Sie hatte Erbarmen mit den Tätern aus ihren Reihen, aber keines mit den Opfern. Es handelte sich um einen einzigen großen Männerbund mit überkommenen Vorstellungen.

Von da an gab es die Initiative Maria 2.0., von der Kötter in ihrem Buch Schweigen war gestern erzählt. Die Frauen, die sich ihr anschlossen, zeigten symbolisch, dass ihre Kirche sie ausgeschlossen hatte, indem sie ihre Gottesdienste vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Münster abhielten. Dazu waren kein Altar und kein Pfarrer nötig, in der Gemeinschaft der Getauften haben sich die Frauen gegenseitig gesegnet. Die Gemeinschaft wuchs, auch Männer kamen dazu.

Kötter beschreibt, wie aufgewühlt vor allem ältere Frauen waren. Sie hatten sich häufig über Jahrzehnte ehrenamtlich für die Kirche eingesetzt und dabei nicht wahrgenommen, dass sie und ihre Arbeit von dieser nicht wertgeschätzt wurden. Und oft nicht nur das: Durch die von der Kirche auferlegten Moralvorstellungen sind  zahlreiche Frauen sog. "Muss-Ehen" eingegangen, unehelich geborene Kinder galten als unrein und wurden nicht getauft. Die Kirche hatte alles Weibliche als minderwertig eingestuft.

Die Bewegung Maria 2.0 formulierte 2019 einen offenen Brief an Papst Franziskus, der von mehr als 42.000 Menschen unterzeichnet, aber bis heute nicht beantwortet wurde. Darin prangerte sie die Vergehen und Versäumnisse der katholischen Kirche im  Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen durch Kleriker an und stellte einen Katalog von Forderungen auf. Im Zentrum: Die Kirche muss sich endlich an Jesus ausrichten. Er kam aus einfachen Verhältnissen und arbeitete als Handwerker, bevor er sich von Johannes taufen ließ. Er war nur zwei bis drei Jahre in der Öffentlichkeit aktiv, aber hat in dieser kurzen Zeit bewirkt, dass eine neue Zeit anbrach. 

Jesus vermittelte den Menschen, von Gott geliebt und nicht kontrolliert und bedroht zu werden. Er wandte sich gerade denen zu, die am Rand der Gesellschaft standen und von ihr gemieden wurden. Und er sprach in der Öffentlichkeit mit Frauen, was in seiner Zeit sehr ungewöhnlich war. Frauen wurden nur als Hausfrauen und Mütter wahrgenommen, Entscheidungen durften sie nicht treffen. Doch Jesus gab ihnen eine Stimme und agierte mit ihnen auf Augenhöhe. Durch sein Verhalten, was sich so deutlich von dem, was als normal angesehen wurde, unterschied, stellte er die damaligen auf Angst aufgebauten Machtstrukturen infrage.

Lisa Kötters Buch ist nicht nur eine Anklage in Richtung der katholischen Kirche, sondern auch ein Appell, sich zu öffnen. Sie wünscht sich, dass auch außerhalb der gewohnten Umgebungen und Strukturen Menschen zusammenkommen, um Gottesdienste zu feiern, an denen auch diejenigen teilnehmen können, die der Kirche bisher nicht nahestanden. Von der Autorin stammen auch die Frauenporträts auf dem Cover, deren verklebte Münder das erzwungene Schweigen symbolisieren.

Lesen?

Ja, denn Lisa Kötter beschreibt das Tun und die Haltung der katholischen Kleriker aus weiblicher Sicht. Dieses Buch richtet sich nicht nur an Menschen, die dem christlichen Glauben nahestehen, sondern an alle, die an einer gesellschaftlichen Veränderung teilhaben wollen: dem Überwinden von männlichen Machtstrukturen, die es nicht nur in der katholischen Kirche gibt.

Schweigen war gestern ist 2021 im bene! Verlag erschienen und kostet 14 Euro.


Freitag, 19. November 2021

# 316 - Einmal quer durch die Welt des Wissens

Dieses Buch basiert auf einer ziemlich abgefahrenen
Idee: Der Journalist Peter Grünlich hatte sich vorgenommen, alle deutschsprachigen Wikipedia-Einträge zu lesen. Er hatte sich dafür ein Jahr Zeit genommen und täglich einige Stunden in der Online-Enzyklopädie gelesen. Seine Erfahrungen mit Wikipedia und das, was er dort gelernt hat, hat er in seinem Buch Der Alleswisser zusammengetragen.

Aber geht das überhaupt? Kann man zumindest alle deutschen Wikipedia-Seiten durchlesen? Ja, wenn man bereit ist, dafür elf Jahre seines Lebens zu investieren und während dieser Zeit auf Schlaf zu verzichten. Das würde aber nur dann klappen, wenn ab sofort keine weiteren Artikel hinzukämen. Aber so ist es nicht: Jeden Tag wächst die Zahl der deutschen Artikel um mehrere Hundert.

Da bleibt nur eins: Man muss dieses Projekt mit einem System angehen. Grünlich versucht es mit dem Lesen in alphabetischer Reihenfolge, doch schnell wird klar: Es gibt kaum etwas Ermüdenderes, als sich auf Gedeih und Verderb todlangweilige Texte anzutun, nur um das selbstgewählte Prinzip einzuhalten. Der Autor versucht es deshalb mit dem zufallsgesteuerten Durchklicken und stößt dabei auf  Inhalte, die ihn überrascht, abgestoßen oder fasziniert haben und alle eines gemeinsam hatten: Sie waren interessant, aber kaum bekannt.

Das, was Grünlich in seinem Buch zusammengetragen hat, ist jedoch weit entfernt davon, Bestandteil eines Bildungskanons zu werden. Er pflügt im Zickzack-Kurs durch die Themen und stößt dabei auf Erklärungen zu Redewendungen oder Begriffen wie beispielsweise "Scheißtag", die wir häufig benutzen, aber deren Herkunft wir meistens nicht kennen. 

Weiter geht es mit Skandalen (z. B. der sog. Perdicaris-Zwischenfall von 1904, der sich erst Jahrzehnte später als ein Versagen von US-Präsident Roosevelt herausstellte), ungewöhnlichen Todesarten (darunter der Grund für die kürzeste Amtszeit eines US-Präsidenten oder die Todesart des griechischen Dichters Aischylos 456 v. Chr.) sowie unglaublichen Artikeln über Tiere (ganz vorn dabei: 'Mike the Headless Chicken', der anderthalb Jahre mit einem fast ganz abgetrennten Hals weiterlebte, und ein Bärenpavian, der 1890 in Südafrika die Prüfung zum Schrankenwärter ablegte).

Auch die blutigste Kneipenschlägerei der Geschichte ist eine Erwähnung wert. Sie ereignete sich 1355 in Oxford, zog sich mehrere Tage hin und kostete über 90 Menschen das Leben.

Lustiger ist da schon die Geschichte des französischen Pups-Künstlers Joseph Pujol, der ab 1892 dem staunenden Publikum zeigte, welche Töne er seinem Darmausgang entlocken konnte. Das Auspusten von Kerzen mithilfe der Blähungen war da noch die leichteste Übung. Diese Biographie ist eine von mehr als 763.000 (Stand Mai 2020) der deutschsprachigen Wikipedia. Darunter befindet sich auch die des Franzosen Michel Lotito, der im Laufe seines Lebens 18 Fahrräder, 15 Einkaufswagen, sieben Fernseher, sechs Kronleuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, einen Sarg und eine Cessna verspeiste. Nichts davon hat ihm geschadet. Das sehr skurrile Verhalten geht auf eine Essstörung mit dem Namen Pica-Syndrom zurück.

Auch die Geschäftsidee der Britin Elizabeth Ruth Belville ist eine Erwähnung wert. Belville lebte von 1854 bis 1843 und machte ihr Geld 40 Jahre lang damit, die amtliche Zeit (Greenwich Mean Time) mit einer eigenen Uhr abzugleichen und die abgelesene Uhrzeit Abonnenten wie beispielsweise Uhrmachern mitzuteilen. Sie ist als 'Greenwich Time Lady' ein Teil der Londoner Stadtgeschichte.

Lesen?

Es würde hier zu weit führen, weitere Beispiele für spannende Artikel aufzuführen. Der Untertitel, den Grünlich seinem Buch gegeben hat, weist bereits in die richtige Richtung: Wie ich versucht habe, Wikipedia durchzulesen, und was ich dabei gelernt habe. Man lernt beim Lesen der Wikipedia-Artikel eine ganze Menge, und irgendetwas nimmt man immer für sich mit. Die Internet-Enzyklopädie hat einen unfassbaren Umfang angenommen, sodass man zu fast allen Themen Inhalte findet. Die von Grünlich verwendete Methode ist allerdings gewöhnungsbedürftig, denn sie verführt dazu, sich im Dickicht der Informationen zu verlieren. Dass das Grünlich passiert ist, ist dem Buch an einigen Stellen anzumerken. Er kommt oft vom Hölzchen aufs Stöckchen, manche Themen werden hingegen in ein oder zwei Sätzen nur angerissen. Das schnelle Springen von einem Thema zum anderen macht das Buch zwar sehr interessant, das Lesen aber etwas anstrengend. 

Der Alleswisser ist 2020 im Yes Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 14,99 Euro sowie als E-Book 11,99 Euro.


Freitag, 5. November 2021

# 315 - All you need is love

Dieses Buch ist als Irrläufer zu mir gekommen. Normalerweise hätte mich schon das Cover von Das kunterbunte Liebesbuch abgeschreckt, es zur Hand zu nehmen: eindeutig zu viel Pink. Aber der Untertitel ist ein deutlicher Hinweis, dass man es nicht mit einem vor Herzschmerz überquellenden Titel zu tun hat, in dem es ständig um geflügelte Insekten geht, die sich im Verdauungstrakt der Menschen herumtreiben: Seltsame und kuriose Fakten rund um klopfende Herzen und Schmetterlinge im Bauch.

Harald Havas hat sich dem Thema 'Liebe' von etlichen Seiten genähert: Da geht es zum Beispiel um Koseworte, wie sie nicht nur unter Liebespaaren üblich sind, und deren Systematik. Er schreibt da eher unromantisch über Fakten als weiche Knie.

Natürlich dürfen auch "die drei magischen Worte" nicht fehlen. Aber sind es auch in anderen Sprachen ebenso viele Worte, um seiner oder seinem Angebeteten seine Liebe zu gestehen? Havas liefert die Übersetzung in zahlreiche Sprachen von A wie Afrikaans bis Z wie Zulu. Und wer sich lieber auf Elbisch, Dothrakisch, Klingonisch oder Esperanto erklären möchte, wird ebenfalls fündig. Spoiler: In manchen Sprachen reicht ein einziges Wort für eine Liebeserklärung.

In weiteren Kapiteln widmet sich Havas verschiedenen Fragen rund um die Liebe: Wann und wo waren oder sind Eheschließungen unter Verwandten üblich und gewollt? Wo und warum gibt es Polygamie? In welchen Ländern und aus welchen Gründen nimmt die Sologamie (Selbstheirat) zu? Welche Arten von Liebe gibt es? Welche sündhaft teuren Liebesgeschenke sind bekannt? Welche berühmten Liebespaare gab es? Wie unterscheiden sich Hochzeitsbräuche? Und natürlich darf auch ein Kapitel mit der Überschrift "Liebe geht durch den Magen" nicht fehlen, das sich mit Lebensmitteln beschäftigt, die in irgendeiner Weise mit der Liebe in Verbindung gebracht werden - vom Aphrodisiakum bis zur Hochzeitstorte.

Lesen?

Das kunterbunte Liebesbuch ist ein flott lesbares Buch, das viel Interessantes und Unterhaltsames über die Liebe bietet. Es hält Stoff für einige schöne Lesestunden bereit.

Das kunterbunte Liebesbuch ist 2021 im Goldegg Verlag erschienen und kostet 15 Euro.

Samstag, 30. Oktober 2021

# 314 - Alle drei Tage

Um dieses Buch habe ich mich etwas herumgedrückt,
weil ich mir nicht sicher war, ob ich das, was darin steht, aushalten würde. Aber dann hat das Interesse am Thema überwogen. Einem Thema, das in anderen Ländern längst in der Öffentlichkeit angekommen ist, nur nicht in Deutschland.

Worum geht's? Laura Backes und Margherita Bettoni sehen sich an, was da Alle drei Tage passiert: In diesem statistischen Abstand wurde 2019 in Deutschland eine Frau von ihrem ehemaligen oder aktuellen Partner getötet. Zu diesen Verbrechen kommen die Tötungen von Frauen durch Männer hinzu, die ihnen unbekannt waren. Etwa täglich versucht ein Mann, seine jetzige oder ehemalige Partnerin zu töten. Die Zahlen beruhen auf der jährlichen Statistik "Partnerschaftsgewalt" des Bundeskriminalamtes. Müsste das nicht einen gesellschaftlichen Aufschrei auslösen? Nicht nur von den Frauen, sondern auch den Männern, denen die Frauen in ihrem Umfeld wichtig sind? Immerhin waren diese Frauen auch Töchter, Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen...

In den Medien ist dieses Thema praktisch nicht präsent. Warum interessiert sich fast niemand dafür? Backes und Bettoni kritisieren, dass solche Taten begrifflich mit Worten wie "Beziehungstat" oder "Familientragödie" verbrämt werden, als habe es sich um Schicksalsschläge gehandelt und nicht um das, was sie letztendlich sind: Taten, mit denen der Täter seine Macht demonstrieren oder wiederherstellen will. Die Frau wird hier als etwas gesehen, das man besitzen kann. Wendet sie sich ab, wird mit dem oft tödlichen Angriff "sichergestellt", dass sie keinem anderen Mann als dem Täter gehören soll. Dahinter steckt ein zutiefst patriarchalisches Rollenbild.

Die Autorinnen sprechen in ihrem Buch von Femiziden. Einerseits, weil dieser Begriff mittlerweile in zahlreichen Ländern verwendet wird; andererseits wollen sie deutlich machen, dass Frauen wegen ihres Geschlechts oder fester Vorstellungen, was Weiblichkeit ausmacht, getötet werden.

Jeder versuchte oder vollendete Femizid ist für sich genommen zwar ein Einzelfall, aber dass diese Fälle einem bestimmten Muster folgen, ist nicht zu übersehen. Der Ablauf erfolgt stufenförmig, wobei jede Stufe einen kurzen Moment oder auch Jahre dauern kann. Mit diesem Wissen könnte man meinen, dass es bereits ein Mindestmaß an staatlicher Prävention geben müsste. Das ist jedoch nicht so: Weder in der Politik noch in Behörden ist das Interesse an der Situation, in der sich Frauen befinden, besonders ausgeprägt. 

Backes und Bettoni haben sich mit Opfern unterhalten oder Gerichtsprozessen beigewohnt. Sie wollten außerdem wissen, ob es einen bestimmten Tätertyp gibt, der mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Femizid begehen könnte. Die Autorinnen wollten auch herausfinden, wie es den überlebenden Opfern geht und inwieweit sie in ein normales Leben zurückgefunden haben. Auch die Angehörigen von getöteten Frauen kommen zu Wort. Und es wird mit einem Vorurteil aufgeräumt, das sich hartnäckig hält: Es lässt sich empirisch nachweisen, dass nicht vor allem Frauen nichtdeutscher Herkunft häusliche Gewalt erleben. Vielmehr haben Frauen in bestimmten Lebenssituationen (z. B. Obdachlosigkeit oder mit einer Behinderung) ein erhöhtes Risiko, von einem gewalttätigen Partner angegriffen zu werden.

Alle drei Tage behandelt auch die Frage, wie die Rechtsprechung mit Femizid-Opfern und -Tätern umgeht. Gibt es da eine etwa einheitliche Beurteilung oder werden bestimmte Fälle von den Gerichten in einem anderen Licht gesehen? Hier spielen Urteile des Bundesgerichtshofs eine große Rolle. In einigen anderen Ländern ist man hier zwar schon weiter, allerdings macht eine ignorante Umsetzung der bestehenden Gesetze die Situation nicht besser.

Lesen?

Alle drei Tage zeigt überdeutlich, wie nötig es ist, dieses Thema in die Gesellschaft hineinzutragen. Dazu müssen nicht nur die Medien, sondern auch Politik und Rechtsprechung an einem Strang ziehen. Dieses Buch berührt und macht wütend - eben weil in unserem Land so wenig passiert, um (versuchten) Femiziden entgegenzutreten. Es fehlt nicht nur an Plätzen in Frauenhäusern, sondern auch an Angeboten für ein Anti-Gewalt-Training sowie einer klareren Gesetzgebung und Rechtsprechung. 

Es ist gut, dass sich der Titel auf der Longlist des NDR Sachbuchpreises befindet und so mehr Aufmerksamkeit bekommt.

Alle drei Tage ist 2021 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen und kostet 20 Euro.

Freitag, 22. Oktober 2021

# 313 - Wer ermordet irische Landfahrer? Ein chaotischer Ex-Polizist ermittelt

 Jack Taylor liegt falsch ist 2010 in der deutschsprachigen Ausgabe erschienen und der zweite Teil der Jack Taylor-Reihe des irischen Krimi-Autors Ken Bruen. Bruen ist in der Bücherkiste kein Unbekannter: Vor vier Jahren habe ich hier über sein Buch Brant geschrieben, in dessen Mittelpunkt ebenfalls ein ziemlich gewöhnungsbedürftiger Polizist steht.

Jack Taylor ist eine gescheiterte Persönlichkeit: Nachdem er als Polizist geschasst wurde, hat er sein Glück als Privatermittler versucht. Aber auch hier hat er den Karren mit Schwung in den Dreck gefahren. Danach hat Jack versucht, in London Fuß zu fassen, aber alkoholkranke Chaoten haben es in praktisch jedem Job schwer.

Nun ist Jack wieder in seiner irischen Heimatstadt Galway. Zum Alkohol hat sich jetzt auch noch Kokain gesellt, er ist ganz unten angekommen. Trotzdem gibt es noch Leute, die ihn für einen guten Ermittler halten. Durch eine Empfehlung wird Sweeper auf Jack aufmerksam und bittet ihn um Hilfe: In den letzten sechs Monaten sind vier Landfahrer ermordet worden. Doch die Polizei lehnt ab, zu ermitteln: Sie ist der Meinung, dass sich die "Landstreicher" gegenseitig umbringen. Der befreundete Ex-Polizist Brendan Flood gibt Jack einen Tipp: Alle getöteten Männer waren Ende zwanzig und wurden nackt und verstümmelt gefunden. Der Mörder scheint systematisch vorzugehen.

Flood hat einen weiteren Hinweis: Er rät Jack, mit dem englischen Sozialarbeiter Ronald Bryson zu sprechen. Der arbeitet in der Simonsgemeinde, die eine Unterkunft für Obdachlose unterhält. Alle Opfer wurden in der unmittelbaren Umgebung gefunden. Führt der Tipp Jack auf die richtige Spur?

Lesen?

Jack Taylor liegt falsch wird das einzige Buch sein, das ich aus dieser Reihe lesen werde. Nach etwa der Hälfte habe ich abgebrochen. Für meinen Geschmack ist Jacks Kaputtheit so ausufernd beschrieben worden, dass sie den eigentlichen Fall überlagert. Das Genre Crime Noir ist spannend, aber wenn ich Persönlichkeitsstudien lesen will, greife ich zu anderen Titeln.

Jack Taylor liegt falsch ist in der mir vorliegenden Ausgabe im Atrium Verlag erschienen. Zwei Jahre später wurde der Titel als Taschenbuch bei dtv herausgebracht und kostet nun 11,90 Euro. 

Sonntag, 17. Oktober 2021

# 312 - Ein Roadtrip mit der Mutter durch die Familiengeschichte

1995 gelang Christian Kracht mit seinem Debütroman Faserland ein großer Erfolg: Ein junger Mann in seinen Zwanzigern, aufgewachsen in einer reichen Familie, reist von Sylt in mehreren Etappen Richtung Süden, erlebt teils verstörende Situationen und fühlt sich erst in Zürich, dem Endpunkt seiner Reise, wohl. 

Mit seinem neuesten Buch Eurotrash setzt Kracht die Reise des damals namenlosen Ich-Erzählers fort. Doch diesmal wird klar: Im aktuellen Roman geht es um ihn selbst - aber nicht nur. 

Christian Kracht wird von seiner Mutter angerufen, die ihn bittet, möglichst bald zu ihr nach Zürich zu kommen. Die über 80-jährige demente Mutter wird als gescheiterte Person geschildert: eine alkohol- und tablettenabhängige Frau, die Zeiten in der geschlossenen Psychiatrie hinter sich hat und in den letzten Jahren, in denen sie zu Hause lebte, von ihrer Haushälterin massiv bestohlen wurde, ohne es zu merken. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit mäkelt sie an ihrem Sohn herum. Der Reichtum, in dem sie ihr Leben verbracht hat, hat sie nicht glücklich gemacht. Die Sammlung an Schuhen und Zobelmänteln hat sie nicht aus ihrem psychischen Leid herausgeführt (wie auch?). Die Scheidung von ihrem Mann hat sie offenbar einsam und zynisch gemacht.

Kracht kommt bei seiner Mutter an und es dauert nicht lange, bis der erste Streit zwischen ihnen losbricht. Er erkennt, dass sich ihr Gespräch nach einem seit Jahrzehnten wiederholenden Muster entwickelt hat und beschließt spontan, dieses Muster an Ort und Stelle zu durchbrechen. Den ersten Gedanken, der Kracht in den Sinn kommt, spricht er sofort aus: Er schlägt seiner Mutter vor, gemeinsam zu verreisen. Sofort. Ein paar Sachen sind schnell gepackt, leider realisiert Kracht erst jetzt, das seine Mutter ein Stoma trägt und nun er derjenige sein wird, der es regelmäßig wechseln muss.

Mit 600.000 Franken in der Plastiktüte machen sie sich im Taxi auf den Weg. Mutters Wunsch: endlich die Elefanten in Afrika sehen. Was daraus wird: eine Fahrt durch die Schweiz, in deren Verlauf Mutter und Sohn an Orten Halt machen, die ihre Leben geprägt haben. Die Demenz der Mutter ist so weit fortgeschritten, dass sie sich nicht nur an Ereignisse aus der Vergangenheit kaum erinnern kann, sondern auch nicht erkennt, dass sie von ihrem Sohn permanent belogen wird: Sie glaubt ihm, dass es sich bei einer Herberge einer alternativen Kommune um ein gutes Hotel handelt und auch, dass er tatsächlich vor hat, mit ihr nach Afrika zu fliegen. Der Taxifahrer hat am Ende der Fahrt keine finanziellen Sorgen mehr.

Lesen?

Eurotrash ist mehr als nur die Erzählung eines seltsamen Roadtrips. Kracht schildert, wie sehr seine Familie mit dem Nationalsozialismus verwoben war, wie sein Vater zu seinem großen Vermögen gekommen ist und wie er selbst dessen Zurschaustellung seines Reichtums verachtet. Er beschreibt den Vater, der ebenfalls Christian Kracht hieß, als einen Menschen, der immer nach Anerkennung gierte und sich mit den Symbolen eines reichen Menschen umgab, ohne das entsprechende Auftreten zu haben. 

Wie nebenbei fallen zahlreiche Namen bekannter Personen, mit denen die Familie wie selbstverständlich Umgang hatte: Ein Haus wurde von Margie Jürgens, der Witwe des Schauspielers Curd Jürgens, zum Kauf angeboten; Kracht sen. war die rechte Hand des Verlegers Axel Springer, was ihn zu einem reichen Mann machte; der britische Erfolgsautor William Somerset Maugham war der Nachbar der Familie Kracht; ein anderer Nachbar war Mohamed Al-Fayed, der Freund der britischen Prinzessin Diana, der mit ihr bei einem Autounfall in Paris 1997 ums Leben kam; der Vater hatte in der gepanzerten Villa des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß mit dem Hausherrn Fisch gegessen, während seine Frau draußen im Auto wartete. 

Die Schilderung der Fahrt wird immer wieder durch Betrachtungen der Leben von Eltern und Großeltern unterbrochen.
Der Großvater mütterlicherseits war Untersturmführer der SS. In einem verriegelten Schrank fand man nach seinem Tod sadomasochistische Sex-Utensilien.
Krachts Mutter war als Elfjährige mehrmals von einem Fahrradhändler vergewaltigt worden, der einer Strafe dadurch entging, dass er mit dem damaligen örtlichen NSDAP-Bürgermeister verwandt war. Diese Erfahrung teilt sie mit ihrem Sohn, der im ähnlichen Alter im Internat von einem Geistlichen missbraucht wurde.
Der 1921 geborene Vater wollte verhindern, als Soldat an die Ostfront geschickt zu werden. Ein befreundeter Stabsarzt setzte ihn daraufhin in die eiskalte Elbe und injizierte ihm sicherheitshalber Typhuserreger, damit Kracht sen. nicht als Kanonenfutter dienen musste.

Kracht spricht die lückenhafte Entnazifizierung in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, den Erfolg von rassistischen Kinderbüchern in den 1950-er und 1960-er Jahren und das Doppelleben seines häufig fremdgehenden Vaters an.

Aber: Das Buch hat nur etwas mehr als 200 Seiten. Auf diesen Seiten drängen sich Fakten und Erzählungen, denen jedoch jeweils nicht viel Raum gegeben wird, um sich wirklich zu entfalten. Unklar bleibt, ob es diese spontane Kurzreise mit der Mutter wirklich gegeben hat und Kracht sie so wiedergibt, wie sie sich abgespielt hat. In diesem Fall wäre die Themenvielfalt nachvollziehbar. Sollte die Figur des Christian Kracht im Roman nicht mit der Person des Autors übereinstimmen, wäre sie es nicht.

Eurotrash ist 2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 22 Euro. 
Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert worden.

Freitag, 8. Oktober 2021

# 311 - Liebe, Tod und Bücher - eine Familiengeschichte

Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer veröffentlicht ihre Werke bereits seit Ende der 1970-er Jahre, einem breiten Publikum wurde sie allerdings erst 2020 mit dem Erscheinen ihres Buches Die Bagage bekannt, in dem sie über ihre Großeltern, deren Kinder und die allgegenwärtige Armut schreibt, in der die Familie in einem Bergdorf lebte.

Nur ein Jahr später ist nun Vati erschienen. Monika Helfer fand, dass ihr Vater in ihrer Familiengeschichte bislang zu kurz gekommen war und widmet ihm nun ein eigenes Buch. Der Vater war Kriegsinvalide und leitete ab 1955 ein Kriegsversehrten-Erholungsheim auf dem Hochplateau Tschengla im Brandnertal (Vorarlberg). Das Leben dort war für Helfer und ihre Geschwister frei und glücklich. Das Glück fand ein Ende, als die Mutter an Krebs erkrankte und verstarb. Der Tod seiner Frau warf den Vater derart aus der Bahn, dass er plötzlich verschwand, ohne sich von seinen Kindern zu verabschieden. Diese wurden unter den Schwestern der verstorbenen Mutter aufgeteilt - die drei Mädchen kamen zu der einen, der kleine Bruder, der noch ein Baby war, zu einer anderen Schwester.

Das Leben insbesondere der drei Schwestern bei ihrer Tante und deren Familie war von Armut, Sprachlosigkeit und Verhaltensweisen der Erwachsenen geprägt, mit denen die Mädchen zunächst nicht umgehen konnten. Ihr Vater blieb für sie verschwunden, und niemand sprach über ihn. Doch eines Tages erfuhren sie, wo er sich seit der Beerdigung der Mutter aufgehalten hatte. Als sie ihn nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersahen, war er ihnen fremd geworden.

Monika Helfer versucht, aus Teilen der eigenen Erinnerung und der ihrer Schwestern sowie der Stiefmutter ein Bild ihres Vaters zusammenzusetzen, aber das gelingt nur unvollständig. Dessen ungewöhnliche Art, Bücher zu lieben, wirkt irritierend: Es ging ihm nicht nur darum, sie zu lesen, sondern auch zu besitzen und immer wieder zu berühren. Die Art und Weise, wie ein Mensch ein Buch aus dem Regal nimmt, war für den Vater entscheidend: War sie falsch, hatte es dieser Mensch bei ihm schwer. 
Als er versuchte, die gespendeten Bücher des Erholungsheims zu retten, weil die Einrichtung umgewandelt und darum die dortige Bibliothek aufgelöst werden sollte, machte er sich strafbar. Die Erkenntnis, dass man ihm bei einer Inventur auf die Schliche kommen und bestrafen würde - was seine Familie in den sozialen Abgrund gestoßen hätte - brachte ihn zu einem Selbstmordversuch. Er hatte Glück und wurde rechtzeitig gefunden, aber die Tat und der anschließende lange Krankenhausaufenthalt entfremdete ihn vor allem von seinen Kindern.

Helfers einfache und direkte Art zu schreiben erzeugt eine unmittelbare Nähe zur Handlung. Es tut förmlich weh zu lesen, wie wenig auf die Bedürfnisse der Kinder, die ihre Mutter verloren hatten, Rücksicht genommen wurde. Der Vater ergab sich seinem eigenen Schmerz und hatte seine Kinder darüber völlig vergessen. Die Tanten taten das, was sie für das Beste hielten; emotionale Zuwendung kam darin nicht vor.

Das Augenmerk der Familie lag nach einiger Zeit vor allem darauf, dass der Vater nicht noch weiter verkommen sollte. Das hieß: Er musste wieder heiraten. Das war für einen Einbeinigen mit vier Kindern nicht so einfach, aber einer von Monika Helfers Onkeln hat die Sache in die Hand genommen und eine geeignete Kandidatin gefunden, die für die Hochzeit alle eigenen Pläne über Bord geworfen hat. Warum sie das tat, blieb unerklärt.

Lesen?

Monika Helfer hat mit Vati keine Abrechnung mit ihrem Vater vorgelegt. Sie macht ihm an keiner Stelle einen Vorwurf für sein oft rätselhaftes Verhalten. Das Buch ist eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und der Geschichte ihrer Familie. Man spürt den Wunsch der Autorin, für Dinge, die sie als Kind nicht verstanden hat, als Erwachsene eine Erklärung zu finden.

Vor einiger Zeit habe ich Die Bagage gelesen. Es ist keine Voraussetzung, das Buch kennen zu müssen, um Vati zu verstehen, es macht das Verständnis jedoch einfacher. Allerdings hatte ich bei etlichen Abschnitten in Vati den Eindruck, sie schon zu kennen. Beide Bücher sind inhaltlich so dicht beieinander wie zwei verschränkte Hände.

Vati ist für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert.
Das Buch ist 2021 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.


Freitag, 1. Oktober 2021

# 310 - Vision eines Rechtsrutsches in Österreich

Beim Lesen des Blogtext-Titels könnte man natürlich
einwenden: Ist Österreich nicht ohnehin schon ganz schön weit rechts? Ja schon, aber wenn man den Krimi Rechtswalzer des österreichischen Schriftstellers Franzobel liest, dann merkt man: Da geht noch eine ganze Menge.

Freitag, der 6. Dezember 2024 ist für den Wiener Malte Dinger ein rabenschwarzer Tag. Der bislang erfolgsverwöhnte Gastronom lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in gutsituierten Verhältnissen, achtet beim Einkaufen auf die Herkunft der Produkte, trennt seinen Müll und tritt für benachteiligte Menschen ein. Er gibt sich Mühe, ein guter Ehemann und Vater zu sein und blickt zufrieden auf sein Leben. Doch dann wendet sich das Blatt abrupt: Auf dem Weg zur U-Bahn findet Malte ein Smartphone. Bevor er sich entscheiden kann, was er damit als nächstes tun wird, empfängt das Gerät einen Anruf. Eine Stimme bezeichnet ihn als Arschloch und sagt voraus, dass es mit Maltes Glück nun vorbei ist. "Du bist raus, kapiert? Raus. Du hast ausgeschissen in der Welt!"

Und so ist es. Den Auftakt der unvergleichlichen Pechsträhne erlebt Malte in der U-Bahn: Zwei Kontrolleure fordern ihn auf, seinen Fahrschein vorzuzeigen. Doch an der Stelle in seiner Brieftasche, an der sich normalerweise die Monatskarte befindet, ist nichts. Maltes Frau, die die Karte am Tag zuvor benutzt hatte, hatte sie ihm nicht zurückgegeben. Ab diesem Moment beginnt sich für den bislang unbescholtenen Bürger Malte Dinger eine beispiellose Abwärtsspirale zu drehen, die ihn nicht nur ins Gefängnis bringt, sondern sogar zu einer Mordanklage gegen ihn führt - obwohl er unschuldig ist wie ein neugeborenes Kind.

Seine Probleme verschärfen sich, weil Österreich seit einiger Zeit von der Partei LIMES regiert wird, an deren Spitze der "Meister" steht. Die Redewendung "rechts von ihnen ist die Wand" trifft hier nicht zu: LIMES hat die rechte Wand bereits durchbrochen, aber die Bürger und Bürgerinnen Österreichs sind mit der Verhaftung von anders Denkenden und anders Aussehenden entweder einverstanden oder es ist ihnen schlicht gleichgültig, da es sie nicht persönlich betrifft. Diejenigen, die bei dem Fortschreiten der Repressalien gegen alle (vermeintlich) nicht angepassten Menschen ein flaues Gefühl im Magen haben, halten lieber den Mund oder verschließen die Augen vor dem Offensichtlichen.

Parallel zum offenbar unabwendbaren Schicksal von Malte Dinger geschehen noch  andere Vorkommnisse: In der Wiener Strozzigasse wird in einer Wohnung ein ermordeter Mann gefunden, der auf grausame Weise getötet wurde. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Mord und dem plötzlichen Verschwinden des Gemeindesekretärs von Untergrutzenbach? Kommissar Groschen nimmt sich des Falls an und ermittelt in dem Dorf, das von der vermögenden Familie Hauenstein, die mit ihrem Bauunternehmen reich geworden ist, dominiert wird. Alle Hauensteins, so unterschiedlich sie auch sind, haben das Credo "Geld regiert die Welt" verinnerlicht und verzetteln sich in Kleinkriegen untereinander, die von Neid und Missgunst geprägt sind. Inwieweit sind sie in den Mord in der Strozzigasse verwickelt? Und welchen ominösen Deal, der strikt geheim gehalten worden ist, hat der LIMES mit einer ausländischen Regierung abgeschlossen? Franzobel hat in seinem Buch eine Entwicklung vorweggenommen, die sich später zu einem handfesten Skandal entwickelt hat: Die Gedankenspiele des damaligen Vize-Kanzlers Strache, die alle Welt in dem bekannten "Ibiza-Video" nachvollziehen konnte, finden sich bereits in Rechtswalzer.

Die zunächst unabhängig voneinander verlaufenden Handlungsstränge treffen zum Schluss beim Wiener Opernball aufeinander. Verschiedene Personen versuchen aus unterschiedlichen Motiven dort einen Anschlag zu verüben. Es kommt zu einem Chaos. 

Lesen?

Franzobel gelingt es, mit leichter Hand nachzuzeichnen, wie sich schleichend ein totalitärer Staat entwickelt, der den Menschen zunächst vorgaukelt, es nur gut mit ihnen zu meinen, indem er alles, was diesen Staat in seiner "positiven" Entwicklung stört, aus dem Verkehr zieht. Die Handlung ist an etlichen Stellen überzeichnet - so viel Pech, wie Malte Dinger hat, ist kaum vorstellbar -, doch der lange Arm der Partei, die gleichbedeutend mit der Regierung ist, erreicht auch die, die sich bislang für rechtschaffen gehalten haben. Am Ende führt LIMES sogar eine neue Zeitrechnung und ein Glaubensbekenntnis ein! 

Trotz aller Dramatik sorgt Franzobel immer wieder für eine Prise Humor. In seiner Danksagung widmet er sein Buch allen Kindern und insbesondere seinen beiden Söhnen, "auf dass sie allen gesellschaftlichen Entwicklungen, die in Richtung Totalitarismus gehen, mutig trotzen." Leseempfehlung!


Rechtswalzer ist 2019 im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 19 Euro sowie als E-Book 11,99 Euro.

Donnerstag, 23. September 2021

# 309 - Lodert in dieser Ehe noch eine Flamme oder ist es nur noch ein letztes Glimmen?

In ihrem neuen Roman Der Brand steht ein seit fast dreißig Jahren verheiratetes Paar im Mittelpunkt: Peter ist ein 55-jähriger Germanistik-Professor, Rahel eine 49-jährige Psychotherapeutin. Sie leben in Dresden, aber während der drei Wochen, um die es hier geht, ist Dresden weit weg. Was nicht weit weg ist, ist "das Virus": Die Handlung spielt mitten in der Covid 19-Pandemie, wird aber nicht von ihr dominiert.

Peter und Rahel hatten eigentlich geplant, in die bayerischen Alpen zu fahren. Ein Wanderurlaub sollte es werden. Doch die einsam gelegene Ferienhütte brennt kurz vor ihrer Abreise ab. Just in diesem Moment meldet sich Ruth, eine alte Freundin, und bittet um ihre Hilfe: Ihr Mann Viktor hat einen Schlaganfall erlitten und muss für die nächsten drei Wochen in eine Rehaklinik. Sie, Ruth, wird ihn begleiten. Ob Peter und Rahel sich währenddessen wohl um das Haus in Dorotheenfelde kümmern können?

Das Paar kann den Freunden diese Bitte nicht abschlagen und fährt in die Uckermark, um sich um das etwas marode Haus, den Garten und die Tiere - vom flügellahmen Storch bis zur einohrigen Katze - zu kümmern. Es ist das Kontrastprogramm zu dem, was sie ursprünglich vor hatten: keine Wanderferien mit einem hohen Ablenkungspotenzial, sondern ein Aufenthalt in einem Haus in Alleinlage ohne Ablenkung. 

Die Situation bringt Rahel und Peter dazu, sich mit sich selbst und ihrer Partnerschaft zu beschäftigen. Die Leidenschaft zwischen ihnen ist längst erloschen, sie leben schon seit einer Weile wie Bruder und Schwester miteinander. Aber Rahel will sich nicht damit abfinden: Sie hat Angst davor, nicht mehr begehrt und mit der Zeit nur noch als ältliche Oma wahrgenommen zu werden - als ein Mensch, der niemandem mehr auffällt.

Doch Peter verübelt seiner Frau, nicht zu ihm gehalten zu haben, als er ihren Rückhalt gebraucht hätte: Er hatte in einer Vorlesung Olivia P., die als nicht-binär angesehen werden wollte, immer wieder als Frau bezeichnet, woraufhin diese einen Shitstorm gegen ihren Professor initiierte. Peter war die Situation unverständlich geblieben, die Reaktion seiner Frau empfand er als Verrat. "Nenn sie doch einfach, wie sie will!", hatte Rahel gesagt.

Daniela Krien unterteilt ihren Roman in die einzelnen Tage der drei Wochen in Dorotheenfelde. Man erfährt, dass die immer sehr korrekte Ruth mit Rahels bereits verstorbener Mutter Edith befreundet war, Ediths Mutterqualitäten jedoch sehr zu wünschen übrig ließen. Das Wissen, wer Rahels Vater ist, hat Edith mit ins Grab genommen. Aber nun, während Peter und Rahel zum ersten Mal allein in Ruths und Viktors Haus sind, kommen alte Erinnerungen an die Oberfläche. Und eine von ihnen verfestigt sich zu einer Ahnung, wer Rahels Vater sein könnte. Als Rahel sich in Viktors Atelier umsieht und einige Kunstwerke findet, sieht sie ihre Vermutung bestätigt.

Die Ruhe wird jäh von der Ankunft der Tochter Selma und deren beiden kleinen Söhnen unterbrochen. Rahel fühlt sich Selma gegenüber schuldig, weil sie und Peter das Kind schon als Säugling lange bei der Großmutter untergebracht und es nur selten besucht hatten, weil sie selbst in Ruhe studieren wollten. Das egozentrische und sprunghafte Verhalten der erwachsenen Selma ordnet Rahel als frühkindliche Bindungsstörung ein. Das ändert nichts daran, dass Rahel ihre Tochter als anstrengend empfindet - was zu den nächsten Schuldgefühlen ihr gegenüber fühlt.

Der Sohn Simon lebt ein Leben, das seine Eltern nicht nachvollziehen können, das sie aber schweren Herzens akzeptiert haben: Er ist Offiziersanwärter an der Bundeswehruni und will sich zum Heeresbergführer ausbilden lassen. Die Entscheidung für diesen Berufsweg ist für seine Eltern kaum nachvollziehbar.

Lesen?

Der Brand beleuchtet, was sich in vielen Partnerschaften abspielt, wenn die Kinder erwachsen und "aus dem Haus" sind. Das Kümmern um den Nachwuchs fällt weg, an seine Stelle tritt häufig eine sprachlose Leere, die die Bruchstellen einer Beziehung offenlegt. So ist es auch bei Rahel und Peter. Doch in ihrer Geschichte geht es nicht nur um die gemeinsame Vergangenheit, sondern um Beständigkeit, die sich hier nicht nur im positiven Sinne zeigt, sondern auch als rückwärtsgewandtes Verhalten und dem Festhalten am Vergangenen: Manches, was heute als modern gilt, erschließt sich ihnen nicht und bleibt ihnen fremd.

Daniela Kriens klare und strukturierte Sprache verleiht dem Roman eine eigentümliche Atmosphäre, die zwischen Verzweiflung, Trauer und Ratlosigkeit einerseits sowie Zuversicht, Hoffnung und Liebe andererseits pendelt. Leseempfehlung!

Der Brand ist 2021 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

Sonntag, 19. September 2021

# 308 - Mutti war's nicht

Das "weiß" doch praktisch jeder: Angela Merkel hat 2015 für die Flüchtlinge die Grenzen geöffnet, mit dem bekannten Ausspruch "Wir schaffen das!" tausende von Flüchtlingen motiviert, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen und ist letztlich für stetig steigende Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren verantwortlich. Obendrein hat sich dadurch auch das Problem der Kriminalität verschärft.

Das und noch viel mehr zum Thema "Die Kanzlerin und ihre Flüchtlingsfreundlichkeit" hat man aus zahllosen Richtungen, in Nachrichtenmagazinen ebenso wie in Talk-Shows, gehört und gelesen. Der Haken daran: Es handelt sich um Zuschreibungen, die sich leicht durch schnöde Statistiken widerlegen ließen - wenn man sich nur die Mühe machen würde.

Der Autor Gerd Hachmöller hat mit seinem Buch Mutti war's nicht genau das getan: Er ist einer Vielzahl von vermeintlich gesicherten Erkenntnissen, die die Kanzlerin als diejenige, die die Zuwanderung von Flüchtlingen  angekurbelt hat, benennen, nachgegangen. Spoiler: Die vier oben beispielhaft genannten Zuschreibungen sind alle falsch. Hachmöller erklärt darüber hinaus, wie es zu den Bildern und Schlagzeilen kam, die diesen Eindruck weiter unterfüttert und nicht zuletzt auch Politikern und Bürgern am rechten Rand Munition für ihre Angriffe gegen Merkel gegeben haben. 

Auch mit der Behauptung, Deutschland habe von den Regelungen des Dublin-Abkommens profitiert, räumt Hachmöller auf. Er erklärt außerdem, warum entgegen der oft geäußerten Ansicht, Deutschland müsse sich mit Italien und Griechenland solidarischer zeigen, die Faktenlage belegt, dass im Gegenteil von diesen beiden Ländern hinsichtlich der Flüchtlingsthematik mehr Solidarität nötig wäre. Ähnlich sieht es mit der Türkei als Aufnahmeland aus: Hachmöller erläutert, dass sich der türkische Staat so gut wie nicht um die Flüchtlinge gekümmert hat und ihnen grundlegende soziale Leistungen wie z. B. den Zugang zum Gesundheitssystem oder zu schulischer Bildung verwehrt hat.

Warum sind so viele dieser Mythen derart beständig in Umlauf und werden gebetsmühlenartig wiederholt? Hier kann auch Hachmöller nur Mutmaßungen anstellen, aber darum geht es in seinem Buch auch nur am Rande.

Mutti war's nicht steht auf der Longlist für den Jugendsachbuchpreis 2021, richtet sich aber an alle politisch Interessierten.

Lesen?

Mit seinem Buch widerlegt Gerd Hachmöller zahlreiche immer wieder geäußerte Legenden, die sich um die Kanzlerin und die Flüchtlinge ranken. Wem daran liegt, sich ein realistisches Bild über diese Thematik zu machen, sollte Mutti war's nicht lesen.

Mutti war's nicht ist im Goldegg Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

Freitag, 10. September 2021

# 307 - Lust auf Skurriles aus der Tierwelt?

Der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke ist vielen durch seine Fernsehauftritte (z. B. 'TV total', 'Inas Nacht'), seinen YouTube-Kanal und seine Bücher bekannt. Einer seiner Spitznamen ist "Herr der Fliegen", denn sein Geschäft ist der Tod - oder besser das, was mit einem Menschen nach seinem letzten Atemzug passiert.

Sein neuestes Buch hat er 2020 gemeinsam mit der Illustratorin Kat Menschik herausgebracht. Es trägt den knappen und einprägsamen Titel Kat Menschiks & des Diplombiologen Doctor Rerum Medicinalium Mark Beneckes illustrirtes Thierleben

Wer sich bei diesem Titel an 'Brehms Tierleben' erinnert fühlt, liegt gar nicht so falsch: Der Verfasser dieses Werks wird genauso zitiert wie andere Wissenschaftler, die sich in den letzten paar Jahrhunderten mit Tieren beschäftigt haben. 

Doch was ist dieses Buch nun? Benecke hat nicht den Anspruch, eine Art Übersicht über die Tierwelt zu geben. Kat Menschiks & des Diplombiologen Doctor Rerum Medicinalium Mark Beneckes illustrirtes Thierleben ist eher ein Leseband, in dem auf jeder Seite die Liebe des Biologen und der Illustratorin zu den Tieren deutlich wird. Benecke erzählt in siebzehn Kapiteln Erstaunliches, Skurriles und Interessantes aus dem Tierreich - dem real existierenden und dem aus dem Reich der Phantasie. Letzterem widmet Benecke das erste Kapitel Barks' Tierleben, das sich mit den Tieren aus dem Comicuniversum des bekannten Autors und Cartoonisten beschäftigt. Er würdigt nicht nur dessen Kreativität, sondern auch seine Genauigkeit, wenn es um die Einsortierung der Bewohner in und um Entenhausen geht: Wie es sich wissenschaftlich gehört wurden sie korrekt in Über- und Untergruppen klassifiziert. Beneckes Favorit ist übrigens der Indische Plaudervogel, der Menschen und Tiere manipuliert, um an sein Lieblingsfutter Dörrpflaumen zu kommen.

Beneckes Reise durch die Welt der Tiere führt anschließend (fast) nur zu tatsächlich lebenden Tieren wie Hunden, Vögeln, Kopffüßlern, betrunkenen Elchen, dem Rotbeinigen Schinkenkäfer, nekrophilen Enten, Pfeilstörchen, Menschen fressenden Haustieren (leider ja!), Glühwürmern, Silberfischchen sowie Staren. Und der Meerjungfrau, obwohl es sein kann, dass da die Phantasie früherer Naturbeobachter...  Immer wieder wird versucht, eine Parallele zum menschlichen Verhalten zu ziehen, was tatsächlich oft genug gelingt. Fazit: Mensch und Tier sind sich in vielem sehr ähnlich.

Lesen?

Kat Menschiks & des Diplombiologen Doctor Rerum Medicinalium Mark Beneckes illustrirtes Thierleben hat mich sehr gut unterhalten und ich habe obendrein eine Menge gelernt. Was will man mehr? Die Illustrationen von Kat Menschik werten das Buch auf. Leseempfehlung!

Kat Menschiks & des Diplombiologen Doctor Rerum Medicinalium Mark Beneckes illustrirtes Thierleben ist 2020 im Galiani Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Nachtrag: Das Video zum Buch gibt es hier.

Sonntag, 5. September 2021

# 306 - Der Freund auf vier Pfoten

2020 ist dieses Buch auf Deutsch erschienen, nachdem die Autorin Sigrid Nunez 2018 für Der Freund mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde.

Ausgangspunkt ist der Tod des besten Freundes der Ich-Erzählerin. Er war vor Jahrzehnten an der Hochschule ihr Lehrer, und abgesehen von einem winzigen Anflug von Begehren vor langer Zeit war ihre Freundschaft platonisch. Dieser Freund hat sich kürzlich umgebracht. Warum, wird nicht näher erläutert. Die erzählende Freundin fühlt sich zurückgelassen und empfindet einen tiefen Schmerz über diesen Verlust. Doch dann erfährt sie von der dritten Frau ihres Freundes, dass dieser ihr seinen Hund vermacht hat.

Apollo heißt das Tier, und es handelt sich um eine nicht mehr ganz junge Harlekindogge. In der kleinen New Yorker Wohnung der Erzählerin sind Hunde verboten, doch eine Dogge mit einem Stockmaß von 85 cm und einem Gewicht von 80 kg kann man nicht einfach unter das Sofa schieben, wenn mal der Hausmeister vorbeischaut. Aber dann, entgegen aller Vernunft und obwohl ihr Katzen viel lieber sind, folgt sie dem Wunsch ihres Freundes und nimmt Apollo bei sich auf.

Was nun folgt ist die Geschichte einer Annäherung zwischen der trauernden Frau und dem ebenfalls um sein Herrchen trauernden Hund. Beide lernen sich immer besser kennen und die Frau findet nach und nach immer mehr Gefallen an Apollo, der immer in sich ruht, aber außerhalb der Wohnung alle Blicke auf sich zieht.

Aber es geht nicht nur um diesen Prozess der gegenseitigen Gewöhnung, aus der dann doch noch eine Freundschaft wird. Die Trauernde erinnert sich an den Freund als einen Mann, der, obwohl er verheiratet war, ständig Liebschaften mit Studentinnen einging und sich in der jüngsten Vergangenheit darüber wunderte, dass das, was doch sein ganzes Berufsleben lang so gut funktioniert hatte, plötzlich am Protest der Studentinnen scheiterte. #MeToo lässt grüßen.

Die Erzählerin ist ebenso wie der Verstorbene Schriftstellerin und Literaturdozentin und denkt über die Veränderungen nach, die sich im Laufe der vergangenen Jahre in dieser Szene entwickelt haben: Im Zusammenhang mit der Nennung einiger Schriftsteller wie z. B. Rainer Maria Rilke beschäftigt sie sich mit der Frage, welche Literatur heute noch geschrieben werden kann. Doch es geht in ihren Überlegungen auch darum, dass sich Schriftsteller gegenseitig nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen oder die Hoffnung von Nachwuchsautoren, mit dem Schreiben von Büchern zu Ruhm zu kommen.

Im elften und vorletzten Teil des Romans stellt sich Nunez vor, wie die Geschichte enden könnte. Da ist der Freund noch am Leben, aber schwer von seinem Suizidversuch gezeichnet. Die Erzählerin hat sich während seines Aufenthalts in einer psychotherapeutischen Klinik um dessen Dackel Jip gekümmert. Sie erzählt ihrem Freund von ihren Recherchen, die sie über Gewalt gegen Frauen angestellt hat und ihre Unfähigkeit, darüber zu schreiben. Ihr steht die Person des Autors zu sehr im Vordergrund, was sie als problematisch empfindet.

Lesen?

Der Freund wurde in den Feuilletons der Print- und Online-Medien rauf und runter gefeiert. Ich habe mich allerdings mühsam durch das Buch gearbeitet, weil mir das, was bezahlte Literaturkritiker als "zwei Erzählstränge" bezeichnet haben, schlicht zu weitschweifig war. Nunez Roman mäandert hin und her zwischen dem Hund, dem Leben des toten Freundes und Überlegungen, die irgendwie mit der Literatur und dem Literaturbetrieb zu tun haben. Der ausschweifende Exkurs darüber, wie es sein könnte, wenn der Freund überlebt hätte, hat mich schließlich so irritiert, dass ich das Buch fast an dieser Stelle abgebrochen hätte: Warum ist da plötzlich anstelle der riesigen Dogge Apollo der als 'winzig' beschriebene Dackel Jip? Und ist es nicht ziemlich unglaubwürdig, dass man sich mit seinem besten Freund, der knapp dem Tod von der Schippe gesprungen ist, beim ersten Besuch sachlich und gemessen über die Rolle des Autors unterhält und es dabei unter anderem um "die Agenda des weißen imperialistischen Patriarchats" geht? Meine Begeisterung für das Buch hat sich leider in Grenzen gehalten.

Der Freund ist 2020 beim Aufbau Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 12 Euro, als E-Book 8,99 Euro sowie als Hörbuch 14,99 Euro.


Sonntag, 29. August 2021

# 305 - Sein durch Sprache?

2020 erschien Kübra Gümüşays erstes Buch Sprache und Sein, das für etliche Diskussionen sorgte. Wer ein Essay über Sprache erwartet, wird jedoch zumindest teilweise enttäuscht.

Gümüşay beginnt ihr Buch mit einer Szene, die sich vor etlichen Jahren zwischen ihr und ihrer Tante abgespielt hat. Es drehte sich um ein türkisches Wort ("yakamoz"), das für die Reflexion des Mondlichts auf dem Wasser steht. Erst seitdem sie diesen Begriff kennengelernt hat, erkennt Gümüşay dieses Phänomen: Die Wahrnehmung wird durch die Sprache beeinflusst. Das belegt sie anhand weiterer Wörter aus anderen Sprachen. 

Diese Erkenntnis ist keine Überraschung: Wer ein Buch von einer Sprache in eine andere übersetzt, kommt ohne kulturelle Kenntnisse und Hintergründe beider Sprachen nicht aus, wenn die Botschaft des Textes im Sinne des Autors in der Zielsprache ankommen soll. Und so folgert auch Gümüşay: "So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein - im gleichen Moment." Wer sich in mehreren Sprachen ausdrücken kann, wird wahrscheinlich feststellen, sich in jeder als eine etwas andere Person zu fühlen.
In diesem Zusammenhang führt 
Gümüşay das viel diskutierte generische Maskulinum an: Während Befürworter sagen, dass trotz der männlichen Form (die Lehrer, die Autofahrer, alle Studenten etc.) doch automatisch auch die Frauen mitgemeint seien, weisen immer mehr der "Mitgemeinten" das zurück - und Studien geben ihnen in ihrer Befürchtung recht, dass sie tatsächlich weniger mitgedacht werden.

Gümüşay unterscheidet zwischen den Benannten und den Unbenannten. Die Benannten sind diejenigen, die als von der Norm abweichend empfunden werden, weil sie ein Merkmal haben, das sie als "anders" ausweist: die Kopftuchträgerin, die Muslimin, der schwarze Mann oder die Frau mit Behinderung. Sie werden von den Unbenannten, die die allgemein akzeptierte Norm erfüllen, kategorisiert und auf die eine - aus deren Sicht wesentliche - Eigenschaft reduziert, beurteilt und mit allen anderen, die über dasselbe Merkmal verfügen, in einen Topf geworfen.

Im Kern geht es Gümüşay darum herauszufinden, wie wir miteinander empathisch und vorurteilsfrei kommunizieren können. Aus eigener Anschauung weiß sie, wo das nicht zu gehen scheint: In Talkshows - mit ihr oder ohne sie - wurden eher auf krawallige Art neue Gräben ausgehoben, als dass versucht worden wäre, sich über das Gemeinsame und Verbindende sowie das Zusammenleben Gedanken zu machen.

Gümüşay hat mit ihrer Kritik am hiesigen Umgang mit den sog. Benannten recht. Sie räumt ein, dass es in der menschlichen Natur liegt, sein Gegenüber in die eine oder andere Schublade einzusortieren. Dieses archaische Verhalten hat auch in unserer modernen Welt nicht nur Nachteile: Es schützt uns davor, unter Reizüberflutung zu leiden und hilft uns, durch das Erkennen von Mustern in gefährlichen Situationen angemessen zu reagieren. Das kann jedoch kein Grund sein, dieses Verhalten unreflektiert gegenüber seinen Mitmenschen anzuwenden.

Die Autorin wirft auch einen Blick auf die Einflüsse, die die strukturelle Ausgrenzung weiter befördern: Da sind nicht nur die oben erwähnten Talkshows, sondern auch die schwerpunktmäßige Themenauswahl in politischen Fernsehsendungen, der Einfluss der Social-Media-Plattformen oder die Aktivitäten rechter Spin-Doctors, die ein verzerrtes Bild von der Realität zeichnen.

So emotional diese existierenden (sprachlichen) Missstände von Kübra Gümüşay geschildert werden, so wenig gewährt sie Einblick in ihre eigenen religiösen An- und Einsichten. Als Leser erfährt man kaum, was den Menschen Kübra Gümüşay ausmacht - wäre das nicht nötig, um ein Zeichen gegen die ständigen Kategorisierungen zu setzen? Auch der kritische Blick auf ihre eigene Religion und ihre weltlichen Vertreter fällt sehr knapp aus.

Lesen?

Sprache und Sein ist grundsätzlich ein lesenswertes Buch. Wenn Gümüşay schreibt: "Jedes Wort hat Wirkung. Menschen verändern sich durch die Worte, mit denen wir sie beschreiben. Sie werden zu dem, was ihnen zugeschrieben wird", kann man ihr nur zustimmen. Wie sich so eine selbsterfüllende Prophezeiung im Alltag auswirkt, lässt sich z. B. in dem 1983 erschienenen Buch Anleitung zum Unglücklichsein des österreichischen Psychologen Paul Watzlawick sehr anschaulich nachvollziehen. Das Phänomen und dass darüber geschrieben wird ist also keineswegs neu, es ist aber gut, dass es wieder mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt wird.

Irritierend wirkt teilweise allerdings die Auswahl der Zitate, die das Buch durchziehen. Warum eine Feministin wie Gümüşay z. B. ausgerechnet auf ein Zitat von Friedrich Nietzsche zurückgreift, der mit zahlreichen frauenfeindlichen Äußerungen "geglänzt" hat, erschließt sich mir nicht. 

Was mich aber deutlich mehr gestört hat, ist die Festlegung auf die gesprochene und geschriebene Sprache. Sprache ist schließlich nicht nur verbal, sondern besteht auch aus einem breiten nonverbalen Spektrum von Symbolen bis zur Gestik und Mimik. Ausgrenzung kann auch durch einen verächtlichen Blick oder eine Beschilderung erzeugt werden.

Und was letztlich auch nicht durchdacht ist, ist die Einteilung der Menschen in die Benannten und Unbenannten. Nicht nur, dass es sich dabei um sehr große Schubladen handelt, gegen die Gümüşay doch eigentlich anschreibt; diese Art der Kategorisierung verkennt, dass mit den Frauen eine Hälfte der Bevölkerung immer wieder mit Misogynie und damit Ausgrenzung konfrontiert wird und das, obwohl es sich bei ihnen nicht um eine andersartige Randgruppe handelt. Doch nach Gümüşays Definition gehören sie zu den Unbenannten, die über Privilegien verfügen.

Durchaus mit gemischten Gefühlen kann man auch eine Szene betrachten, über die Gümüşay schreibt: Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wird sie als 13-Jährige in der U-Bahn von einer Frau auf ihr Kopftuch angesprochen und gefragt, ob sie es freiwillig trage - trotz der politischen Situationen in Saudi-Arabien, im Iran und Irak. Damals antwortete sie: "Damit habe ich nichts zu tun. Das ist nicht mein Islam." Fünfzehn Jahre später hielt sie allerdings im vom Hamburger Verfassungsschutz beobachteten Islamischen Zentrum Hamburg (IZH) einen Vortrag. Das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz bewertete das IZH schon 2004 als verlängerten Arm der Teheraner Revolutionsführung mit dem Ziel, "islamistisches Gedankengut nach heimatlichem Vorbild in Deutschland zu verbreiten". Wie schlecht es um die Gleichberechtigung der Frauen im Iran bestellt ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben.
 
Auch Gümüşays Nähe zur islamischen Bewegung 
Millî Görüş mit ihrem Antisemitismus und ihrer Integrationsfeindlichkeit sowie einer Ideologie, die durch Minderheiten- und Frauenfeindlichkeit sowie Homophobie geprägt ist, ist irritierend und mit der Kübra Gümüşay, wie sie sich selbst ihrem Buch beschreibt, nur schwer in Einklang zu bringen.

Sprache und Sein ist 2020 im Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 18 Euro.